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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Aus unsrer "Ostmark

liebe Gegensätze auszugleichen, zur rechten Zeit ein Ziel gesetzt? Weil wir
Deutschen dazu neigen, andern Völkern das Maß unsrer Ehrlichkeit und Ge¬
rechtigkeitsliebe zuzutrauen, ist es für uns doppelt gut und notwenig, daß uns
recht oft das ungeschminkte Charakterbild des Volkes vor die Augen gestellt
wird, mit dem uns der Entwicklungsgang der Geschichte in einem Staate
zusammenzuleben und zusammenzukämpfen zwingt. Diese Gabe der Charakter¬
zeichnung ist aber Herrn von Juncker in hervorragendem Maße eigen, wo es
ein ganzes Volk oder wo es einzelne Persönlichkeiten mit wenigen markanten
Strichen zu zeichnen gilt. Indem er uns die Vergangenheit, die Polengefahr
vor fünfzig Jahren, im Spiegel seiner Darstellung schauen läßt, macht er uns
die Gegenwart erst so recht verständlich; wir erkennen, daß die Kräfte, die
damals gefährdend und zerstörend thätig waren, auch heute noch am Werke
sind, daß es auch heute wieder heißt, wach sein, auf daß wir den Anfechtungen
unsrer gebornen Gegner nicht zum Opfer fallen.

Besonders zweierlei läßt sich aus dem Buche lernen, um derentwillen
es gelesen und an dieser Stelle besprochen zu werden verdient.

Ein Deutscher, der das Jahr 1848, auf deutscher Seite mitthütig, in
der Stadt Posen verlebt hat, saßte, als er die Summe seiner Beobachtung
des polnischen Nationalcharakters zog, sein Urteil in die Worte zusammen:
"Jeder, der in der Provinz Posen eine längere Zeit gelebt und mit den Polen
nähere Berührung gehabt hat, weiß, daß der polnische Nationalfehler die Lüge
ist; sie lügen alle, vom schlichten Tagelöhner bis zum höchstgestellten Manne;
oft ohne jeden ersichtlichen Grund, wieviel mehr, wenn es sich um Erringung
politischer Ziele handelt." Als diese Worte vor einigen Jahren in einer
deutschen Zeitung wiedergegeben wurden, ging ein Schrei der Entrüstung durch
die polnischen Blätter; sie wollten, was Dr. Hepke*) gesagt hatte, nicht wahr
haben. Und doch wird, wer die Polen kennt, sich ihm, was das Verhältnis
der Polen zu den Mächten und den Völkern anbetrifft, unter deren Herrschaft
sie stehen, nur anschließen können. Die Unwahrhaftigkeit, die freilich zu allen
Zeiten und bei allen Völkern die Waffe der Schwachen gewesen ist, hat sich
in den Polnischen Nationalcharakter seit hundert Jahren so tief eingefressen,
daß sie sich dem schärfer blickenden Fremden auf Schritt und Tritt wahrnehmbar
macht; nur zu leicht kann er, dadurch abgestoßen, auf den Gedanken kommen, sie
sei die ausnahmslose Regel. Abseits von der großen Heerstraße der verbitternden
und den Charakter verderbenden nationalen Kämpfe giebt es indes auch heute
noch breite Schichten im polnischen Volke, die im Privatverkehr, nicht bloß unter¬
einander, sondern auch mit Fremden, frei von Lug und Trug sind. Der biedere,
einfache, fromme Pan Stcirzhcki in Korzcniowskis "Unsre Schlacht"," der von
Gottes Wegen keinen Finger breit abweicht, und aus dessen Munde kein un¬
wahres Wort kommt, ist kein, etwa aus fremder Litteratur, der englischen



Hepke, Die polnische Erhebung und die deutsche Gegenbewegung im Frühjahr 1848.
Aus unsrer «Ostmark

liebe Gegensätze auszugleichen, zur rechten Zeit ein Ziel gesetzt? Weil wir
Deutschen dazu neigen, andern Völkern das Maß unsrer Ehrlichkeit und Ge¬
rechtigkeitsliebe zuzutrauen, ist es für uns doppelt gut und notwenig, daß uns
recht oft das ungeschminkte Charakterbild des Volkes vor die Augen gestellt
wird, mit dem uns der Entwicklungsgang der Geschichte in einem Staate
zusammenzuleben und zusammenzukämpfen zwingt. Diese Gabe der Charakter¬
zeichnung ist aber Herrn von Juncker in hervorragendem Maße eigen, wo es
ein ganzes Volk oder wo es einzelne Persönlichkeiten mit wenigen markanten
Strichen zu zeichnen gilt. Indem er uns die Vergangenheit, die Polengefahr
vor fünfzig Jahren, im Spiegel seiner Darstellung schauen läßt, macht er uns
die Gegenwart erst so recht verständlich; wir erkennen, daß die Kräfte, die
damals gefährdend und zerstörend thätig waren, auch heute noch am Werke
sind, daß es auch heute wieder heißt, wach sein, auf daß wir den Anfechtungen
unsrer gebornen Gegner nicht zum Opfer fallen.

Besonders zweierlei läßt sich aus dem Buche lernen, um derentwillen
es gelesen und an dieser Stelle besprochen zu werden verdient.

Ein Deutscher, der das Jahr 1848, auf deutscher Seite mitthütig, in
der Stadt Posen verlebt hat, saßte, als er die Summe seiner Beobachtung
des polnischen Nationalcharakters zog, sein Urteil in die Worte zusammen:
„Jeder, der in der Provinz Posen eine längere Zeit gelebt und mit den Polen
nähere Berührung gehabt hat, weiß, daß der polnische Nationalfehler die Lüge
ist; sie lügen alle, vom schlichten Tagelöhner bis zum höchstgestellten Manne;
oft ohne jeden ersichtlichen Grund, wieviel mehr, wenn es sich um Erringung
politischer Ziele handelt." Als diese Worte vor einigen Jahren in einer
deutschen Zeitung wiedergegeben wurden, ging ein Schrei der Entrüstung durch
die polnischen Blätter; sie wollten, was Dr. Hepke*) gesagt hatte, nicht wahr
haben. Und doch wird, wer die Polen kennt, sich ihm, was das Verhältnis
der Polen zu den Mächten und den Völkern anbetrifft, unter deren Herrschaft
sie stehen, nur anschließen können. Die Unwahrhaftigkeit, die freilich zu allen
Zeiten und bei allen Völkern die Waffe der Schwachen gewesen ist, hat sich
in den Polnischen Nationalcharakter seit hundert Jahren so tief eingefressen,
daß sie sich dem schärfer blickenden Fremden auf Schritt und Tritt wahrnehmbar
macht; nur zu leicht kann er, dadurch abgestoßen, auf den Gedanken kommen, sie
sei die ausnahmslose Regel. Abseits von der großen Heerstraße der verbitternden
und den Charakter verderbenden nationalen Kämpfe giebt es indes auch heute
noch breite Schichten im polnischen Volke, die im Privatverkehr, nicht bloß unter¬
einander, sondern auch mit Fremden, frei von Lug und Trug sind. Der biedere,
einfache, fromme Pan Stcirzhcki in Korzcniowskis „Unsre Schlacht«," der von
Gottes Wegen keinen Finger breit abweicht, und aus dessen Munde kein un¬
wahres Wort kommt, ist kein, etwa aus fremder Litteratur, der englischen



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[0108] Aus unsrer «Ostmark liebe Gegensätze auszugleichen, zur rechten Zeit ein Ziel gesetzt? Weil wir Deutschen dazu neigen, andern Völkern das Maß unsrer Ehrlichkeit und Ge¬ rechtigkeitsliebe zuzutrauen, ist es für uns doppelt gut und notwenig, daß uns recht oft das ungeschminkte Charakterbild des Volkes vor die Augen gestellt wird, mit dem uns der Entwicklungsgang der Geschichte in einem Staate zusammenzuleben und zusammenzukämpfen zwingt. Diese Gabe der Charakter¬ zeichnung ist aber Herrn von Juncker in hervorragendem Maße eigen, wo es ein ganzes Volk oder wo es einzelne Persönlichkeiten mit wenigen markanten Strichen zu zeichnen gilt. Indem er uns die Vergangenheit, die Polengefahr vor fünfzig Jahren, im Spiegel seiner Darstellung schauen läßt, macht er uns die Gegenwart erst so recht verständlich; wir erkennen, daß die Kräfte, die damals gefährdend und zerstörend thätig waren, auch heute noch am Werke sind, daß es auch heute wieder heißt, wach sein, auf daß wir den Anfechtungen unsrer gebornen Gegner nicht zum Opfer fallen. Besonders zweierlei läßt sich aus dem Buche lernen, um derentwillen es gelesen und an dieser Stelle besprochen zu werden verdient. Ein Deutscher, der das Jahr 1848, auf deutscher Seite mitthütig, in der Stadt Posen verlebt hat, saßte, als er die Summe seiner Beobachtung des polnischen Nationalcharakters zog, sein Urteil in die Worte zusammen: „Jeder, der in der Provinz Posen eine längere Zeit gelebt und mit den Polen nähere Berührung gehabt hat, weiß, daß der polnische Nationalfehler die Lüge ist; sie lügen alle, vom schlichten Tagelöhner bis zum höchstgestellten Manne; oft ohne jeden ersichtlichen Grund, wieviel mehr, wenn es sich um Erringung politischer Ziele handelt." Als diese Worte vor einigen Jahren in einer deutschen Zeitung wiedergegeben wurden, ging ein Schrei der Entrüstung durch die polnischen Blätter; sie wollten, was Dr. Hepke*) gesagt hatte, nicht wahr haben. Und doch wird, wer die Polen kennt, sich ihm, was das Verhältnis der Polen zu den Mächten und den Völkern anbetrifft, unter deren Herrschaft sie stehen, nur anschließen können. Die Unwahrhaftigkeit, die freilich zu allen Zeiten und bei allen Völkern die Waffe der Schwachen gewesen ist, hat sich in den Polnischen Nationalcharakter seit hundert Jahren so tief eingefressen, daß sie sich dem schärfer blickenden Fremden auf Schritt und Tritt wahrnehmbar macht; nur zu leicht kann er, dadurch abgestoßen, auf den Gedanken kommen, sie sei die ausnahmslose Regel. Abseits von der großen Heerstraße der verbitternden und den Charakter verderbenden nationalen Kämpfe giebt es indes auch heute noch breite Schichten im polnischen Volke, die im Privatverkehr, nicht bloß unter¬ einander, sondern auch mit Fremden, frei von Lug und Trug sind. Der biedere, einfache, fromme Pan Stcirzhcki in Korzcniowskis „Unsre Schlacht«," der von Gottes Wegen keinen Finger breit abweicht, und aus dessen Munde kein un¬ wahres Wort kommt, ist kein, etwa aus fremder Litteratur, der englischen Hepke, Die polnische Erhebung und die deutsche Gegenbewegung im Frühjahr 1848.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/108>, abgerufen am 28.07.2024.