Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

beste Parade ist der Hieb." Im Jahre 1870 waren die alten Scharten in
den südlichen Niederlanden nicht mehr auszuwetzen. Man mußte froh sein,
daß durch die deutschen Siege das französische Gebilde mit dem keltischen und
gänzlich ungeschichtlichen Namen "Belgien" vor der französischen Eroberung
bewahrt blieb.

Leider beharrte Deutschland auf dem national bedauerlichen Standpunkt
unbedingter Zurückhaltung gegenüber dem alten und urgermanischen Reichs¬
lande, wo französirte niederdeutsche als Wallonen eine französische Herrschaft
aufgerichtet hatten. Das uneigennützige französische Nachbarreich wühlte viel¬
leicht weniger offen, aber mit ungeschwächter Ausdauer munter in Belgien
weiter und betrachtete nicht mit Unrecht Brüssel als eine Vorstadt von Paris.
Die moralische Wirkung der Gründung des neuen Deutschen Reichs blieb jedoch
trotz dessen offizieller Gleichgiltigkeit für das vergewaltigte altdeutsche Land
nicht ohne nachhaltige Wirkung auf das Volksbewußtsein in Belgien. Der
Vlame erinnerte sich seiner niederdeutschen Abkunft und lockte wider den Stachel
der wallonischen Willkür, die, wie alles Renegatentum, um so rücksichtsloser
schaltete. Doch schrittweise siegte die vlämische Mehrheit, um nicht zu sagen,
die sich ihrer deutschen Abkunft bewußte ganze Bevölkerung Belgiens. Der
Widerstand der antinationalen, wallonischen Minderheit, die das Heft in der
Hand hielt, machte die vlämischen Vorstöße um so nachhaltiger und sicherte
ihnen deu Erfolg. Aber das Ergebnis ist doch nur bescheiden. Noch
nicht einmal die volle Gleichberechtigung des deutschen Volkstums mit den
deutschen Abtrünnigen, die sich in nationaler Selbstentwürdigung Wallonen,
d. h. Welsche, nennen, ist errungen worden. Frankreich unterstützt die Wallonen
ganz offen mit materiellen Mitteln, weil mit deren Niederlage die Hoffnung
auf die Einverleibung Belgiens natürlich schwinden müßte und die Anlehnung
an das deutsche Mutterland mit Sicherheit erfolgen würde. Die Franzosen
handeln also durchaus politisch, zumal da noch ein weiter Streifen nieder¬
ländischen Bodens unmittelbar zu Frankreich gehört und die niederdeutsche
Sprache in dem Küstenstrich um Dünkirchen, Iivt, vllo l^nel, trotz aller Fran-
zvsirungsversuche ans dem Boden der AiMcls nMcm selbst ertönt. Boulanger
ließ daher seine Wahlkundgebuugen im ganzen äöxs.re,on,fret co Uorc! zugleich
in vlümischer Sprache verbreiten, und bei Beratung des Kriegsbudgets in der
französischen Kammer begründete noch kürzlich ein Abgeordneter die Regie¬
rungsvorlage mit der freilich gerechtfertigten Befürchtung, daß im Kriegsfall
Deutschland diese niederländischen, bis in dieses Jahrhundert, und die übrigen
lothringischen, bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts deutsch gewesenen
Departements als Siegespreis zurückfordern würde. Die Franzosen glauben
daher nicht an die Selbstgenügsamkeit Deutschlands im Falle eines uns auf¬
gezwungnen Krieges, sodaß wohl auch Bismarcks Wort vom satten deutschen
Reiche nur dahin zu verstehen ist, daß wir nicht selbst um dieses nationalen


beste Parade ist der Hieb." Im Jahre 1870 waren die alten Scharten in
den südlichen Niederlanden nicht mehr auszuwetzen. Man mußte froh sein,
daß durch die deutschen Siege das französische Gebilde mit dem keltischen und
gänzlich ungeschichtlichen Namen „Belgien" vor der französischen Eroberung
bewahrt blieb.

Leider beharrte Deutschland auf dem national bedauerlichen Standpunkt
unbedingter Zurückhaltung gegenüber dem alten und urgermanischen Reichs¬
lande, wo französirte niederdeutsche als Wallonen eine französische Herrschaft
aufgerichtet hatten. Das uneigennützige französische Nachbarreich wühlte viel¬
leicht weniger offen, aber mit ungeschwächter Ausdauer munter in Belgien
weiter und betrachtete nicht mit Unrecht Brüssel als eine Vorstadt von Paris.
Die moralische Wirkung der Gründung des neuen Deutschen Reichs blieb jedoch
trotz dessen offizieller Gleichgiltigkeit für das vergewaltigte altdeutsche Land
nicht ohne nachhaltige Wirkung auf das Volksbewußtsein in Belgien. Der
Vlame erinnerte sich seiner niederdeutschen Abkunft und lockte wider den Stachel
der wallonischen Willkür, die, wie alles Renegatentum, um so rücksichtsloser
schaltete. Doch schrittweise siegte die vlämische Mehrheit, um nicht zu sagen,
die sich ihrer deutschen Abkunft bewußte ganze Bevölkerung Belgiens. Der
Widerstand der antinationalen, wallonischen Minderheit, die das Heft in der
Hand hielt, machte die vlämischen Vorstöße um so nachhaltiger und sicherte
ihnen deu Erfolg. Aber das Ergebnis ist doch nur bescheiden. Noch
nicht einmal die volle Gleichberechtigung des deutschen Volkstums mit den
deutschen Abtrünnigen, die sich in nationaler Selbstentwürdigung Wallonen,
d. h. Welsche, nennen, ist errungen worden. Frankreich unterstützt die Wallonen
ganz offen mit materiellen Mitteln, weil mit deren Niederlage die Hoffnung
auf die Einverleibung Belgiens natürlich schwinden müßte und die Anlehnung
an das deutsche Mutterland mit Sicherheit erfolgen würde. Die Franzosen
handeln also durchaus politisch, zumal da noch ein weiter Streifen nieder¬
ländischen Bodens unmittelbar zu Frankreich gehört und die niederdeutsche
Sprache in dem Küstenstrich um Dünkirchen, Iivt, vllo l^nel, trotz aller Fran-
zvsirungsversuche ans dem Boden der AiMcls nMcm selbst ertönt. Boulanger
ließ daher seine Wahlkundgebuugen im ganzen äöxs.re,on,fret co Uorc! zugleich
in vlümischer Sprache verbreiten, und bei Beratung des Kriegsbudgets in der
französischen Kammer begründete noch kürzlich ein Abgeordneter die Regie¬
rungsvorlage mit der freilich gerechtfertigten Befürchtung, daß im Kriegsfall
Deutschland diese niederländischen, bis in dieses Jahrhundert, und die übrigen
lothringischen, bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts deutsch gewesenen
Departements als Siegespreis zurückfordern würde. Die Franzosen glauben
daher nicht an die Selbstgenügsamkeit Deutschlands im Falle eines uns auf¬
gezwungnen Krieges, sodaß wohl auch Bismarcks Wort vom satten deutschen
Reiche nur dahin zu verstehen ist, daß wir nicht selbst um dieses nationalen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0074" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227710"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_184" prev="#ID_183"> beste Parade ist der Hieb." Im Jahre 1870 waren die alten Scharten in<lb/>
den südlichen Niederlanden nicht mehr auszuwetzen. Man mußte froh sein,<lb/>
daß durch die deutschen Siege das französische Gebilde mit dem keltischen und<lb/>
gänzlich ungeschichtlichen Namen &#x201E;Belgien" vor der französischen Eroberung<lb/>
bewahrt blieb.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_185" next="#ID_186"> Leider beharrte Deutschland auf dem national bedauerlichen Standpunkt<lb/>
unbedingter Zurückhaltung gegenüber dem alten und urgermanischen Reichs¬<lb/>
lande, wo französirte niederdeutsche als Wallonen eine französische Herrschaft<lb/>
aufgerichtet hatten. Das uneigennützige französische Nachbarreich wühlte viel¬<lb/>
leicht weniger offen, aber mit ungeschwächter Ausdauer munter in Belgien<lb/>
weiter und betrachtete nicht mit Unrecht Brüssel als eine Vorstadt von Paris.<lb/>
Die moralische Wirkung der Gründung des neuen Deutschen Reichs blieb jedoch<lb/>
trotz dessen offizieller Gleichgiltigkeit für das vergewaltigte altdeutsche Land<lb/>
nicht ohne nachhaltige Wirkung auf das Volksbewußtsein in Belgien. Der<lb/>
Vlame erinnerte sich seiner niederdeutschen Abkunft und lockte wider den Stachel<lb/>
der wallonischen Willkür, die, wie alles Renegatentum, um so rücksichtsloser<lb/>
schaltete. Doch schrittweise siegte die vlämische Mehrheit, um nicht zu sagen,<lb/>
die sich ihrer deutschen Abkunft bewußte ganze Bevölkerung Belgiens. Der<lb/>
Widerstand der antinationalen, wallonischen Minderheit, die das Heft in der<lb/>
Hand hielt, machte die vlämischen Vorstöße um so nachhaltiger und sicherte<lb/>
ihnen deu Erfolg. Aber das Ergebnis ist doch nur bescheiden. Noch<lb/>
nicht einmal die volle Gleichberechtigung des deutschen Volkstums mit den<lb/>
deutschen Abtrünnigen, die sich in nationaler Selbstentwürdigung Wallonen,<lb/>
d. h. Welsche, nennen, ist errungen worden. Frankreich unterstützt die Wallonen<lb/>
ganz offen mit materiellen Mitteln, weil mit deren Niederlage die Hoffnung<lb/>
auf die Einverleibung Belgiens natürlich schwinden müßte und die Anlehnung<lb/>
an das deutsche Mutterland mit Sicherheit erfolgen würde. Die Franzosen<lb/>
handeln also durchaus politisch, zumal da noch ein weiter Streifen nieder¬<lb/>
ländischen Bodens unmittelbar zu Frankreich gehört und die niederdeutsche<lb/>
Sprache in dem Küstenstrich um Dünkirchen, Iivt, vllo l^nel, trotz aller Fran-<lb/>
zvsirungsversuche ans dem Boden der AiMcls nMcm selbst ertönt. Boulanger<lb/>
ließ daher seine Wahlkundgebuugen im ganzen äöxs.re,on,fret co Uorc! zugleich<lb/>
in vlümischer Sprache verbreiten, und bei Beratung des Kriegsbudgets in der<lb/>
französischen Kammer begründete noch kürzlich ein Abgeordneter die Regie¬<lb/>
rungsvorlage mit der freilich gerechtfertigten Befürchtung, daß im Kriegsfall<lb/>
Deutschland diese niederländischen, bis in dieses Jahrhundert, und die übrigen<lb/>
lothringischen, bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts deutsch gewesenen<lb/>
Departements als Siegespreis zurückfordern würde. Die Franzosen glauben<lb/>
daher nicht an die Selbstgenügsamkeit Deutschlands im Falle eines uns auf¬<lb/>
gezwungnen Krieges, sodaß wohl auch Bismarcks Wort vom satten deutschen<lb/>
Reiche nur dahin zu verstehen ist, daß wir nicht selbst um dieses nationalen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0074] beste Parade ist der Hieb." Im Jahre 1870 waren die alten Scharten in den südlichen Niederlanden nicht mehr auszuwetzen. Man mußte froh sein, daß durch die deutschen Siege das französische Gebilde mit dem keltischen und gänzlich ungeschichtlichen Namen „Belgien" vor der französischen Eroberung bewahrt blieb. Leider beharrte Deutschland auf dem national bedauerlichen Standpunkt unbedingter Zurückhaltung gegenüber dem alten und urgermanischen Reichs¬ lande, wo französirte niederdeutsche als Wallonen eine französische Herrschaft aufgerichtet hatten. Das uneigennützige französische Nachbarreich wühlte viel¬ leicht weniger offen, aber mit ungeschwächter Ausdauer munter in Belgien weiter und betrachtete nicht mit Unrecht Brüssel als eine Vorstadt von Paris. Die moralische Wirkung der Gründung des neuen Deutschen Reichs blieb jedoch trotz dessen offizieller Gleichgiltigkeit für das vergewaltigte altdeutsche Land nicht ohne nachhaltige Wirkung auf das Volksbewußtsein in Belgien. Der Vlame erinnerte sich seiner niederdeutschen Abkunft und lockte wider den Stachel der wallonischen Willkür, die, wie alles Renegatentum, um so rücksichtsloser schaltete. Doch schrittweise siegte die vlämische Mehrheit, um nicht zu sagen, die sich ihrer deutschen Abkunft bewußte ganze Bevölkerung Belgiens. Der Widerstand der antinationalen, wallonischen Minderheit, die das Heft in der Hand hielt, machte die vlämischen Vorstöße um so nachhaltiger und sicherte ihnen deu Erfolg. Aber das Ergebnis ist doch nur bescheiden. Noch nicht einmal die volle Gleichberechtigung des deutschen Volkstums mit den deutschen Abtrünnigen, die sich in nationaler Selbstentwürdigung Wallonen, d. h. Welsche, nennen, ist errungen worden. Frankreich unterstützt die Wallonen ganz offen mit materiellen Mitteln, weil mit deren Niederlage die Hoffnung auf die Einverleibung Belgiens natürlich schwinden müßte und die Anlehnung an das deutsche Mutterland mit Sicherheit erfolgen würde. Die Franzosen handeln also durchaus politisch, zumal da noch ein weiter Streifen nieder¬ ländischen Bodens unmittelbar zu Frankreich gehört und die niederdeutsche Sprache in dem Küstenstrich um Dünkirchen, Iivt, vllo l^nel, trotz aller Fran- zvsirungsversuche ans dem Boden der AiMcls nMcm selbst ertönt. Boulanger ließ daher seine Wahlkundgebuugen im ganzen äöxs.re,on,fret co Uorc! zugleich in vlümischer Sprache verbreiten, und bei Beratung des Kriegsbudgets in der französischen Kammer begründete noch kürzlich ein Abgeordneter die Regie¬ rungsvorlage mit der freilich gerechtfertigten Befürchtung, daß im Kriegsfall Deutschland diese niederländischen, bis in dieses Jahrhundert, und die übrigen lothringischen, bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts deutsch gewesenen Departements als Siegespreis zurückfordern würde. Die Franzosen glauben daher nicht an die Selbstgenügsamkeit Deutschlands im Falle eines uns auf¬ gezwungnen Krieges, sodaß wohl auch Bismarcks Wort vom satten deutschen Reiche nur dahin zu verstehen ist, daß wir nicht selbst um dieses nationalen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/74
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/74>, abgerufen am 23.07.2024.