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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Das altdeutsche geistliche Schauspiel

ist die Entfaltung theologischer Gelehrsamkeit in Disputationen aller Art.
Gott unterredet sich einmal mit den Engelchören über das liosruw, arvitrium.
Das ritterliche Minnelied wird ergötzlich parodirt. In einem Erlauer Oster¬
spiel heißt es am Schlüsse der Beschreibung einer häßlichen Magd, die Rüben
gegraben hat: "Der froß sie siben, die süß und die vit rain."

Auch die Sprache ist undramatisch, soweit sie nicht den Dialog der Evan¬
gelien wiedergiebt oder sich in der Sphäre des niedern Volkes hält. Schon
der Gebrauch des Lateinischen mußte hier hemmend wirken. Diese Sprache ist
entweder allein durchgeführt oder mit Deutsch gemischt, mit der Zeit nehmen
die ganz deutschen Stücke zu. Vereinzelt sind hebräische, gewöhnlich entstellte
Brocken wie kams, ni.bg.cztlig.ni. Einfacher liturgieartiger Gesang ist häusiger
als gesprochne Rede; oft wird erst der lateinische Text von mehreren gesungen,
dann der entsprechende deutsche von einer Person gesprochen, offenbar mit
Rücksicht auf den nicht Latein verstehenden Teil des Publikums. Der Durch¬
schnittston der Sprache ist trocken, ja hölzern, von Vers- und Reimzwang
beeinflußt, tief unter der weltlichen Kunst der Zeit; Abweichungen von diesem
Charakter führen entweder zu lyrischer Geschraubtheit oder zu niedriger Natur¬
wahrheit. Auf diesem zweiten Seitenwege blüht der Witz, oft derb. Joseph
sagt einmal von seinen Hosen, sie seien "bei den lucheren ganz." In einem
Erlauer Osterspiel rühmt sich der Arzt, im ganzen Lande gäbe es keinen
wie ihn:

Wir wollen an der Hand von einer andern Reihe von Beispielen ver¬
suchen, das historische Gepräge des altdeutschen christlichen Spieles noch posi¬
tiver zu fassen. wobei man sich freilich immer gegenwärtig halten muß, daß
innerhalb der Spiele selbst wieder ein Unterschied besteht zwischen solchen von
höchster Naivität und andern mit einer schon leidlich entwickelten Reflexion.
Ein allgemein giltiges Zeugnis für die Schlichtheit der Gedankenwelt, in der
die Stücke befangen sind, ist, daß die Worte des Pilatus Huiü sse voi-nah?
und Huocl sorixsi, svrixsi entweder weggelassen oder mißverstanden sind. In
einer für uns rührend naiven Weise äußert sich die Gewohnheit, eine Person
als unveränderlichen Gesamttypus aufzufassen -- ähnlich wie es unser altes
Volksepos thut, Giselher heißt trotz der Jahrzehnte, die über der Handlung
des Nibelungenlieds vergehen, am Ende wie am Anfang das Kind*^) --, und
der sich daraus ergebende Widerspruch mit der Handlung in folgendem Ge¬
spräch aus einem Kasseler Weihnachtsspiel:


Christkind:

Ena, eua, Maria liebe mulier mun:
Sal ich von den Joder litem große pin?


Maria:

Swige, liebes kindelin Jesu Christ,
Beweun diner marteul"^) nicht zu disszer frist.





*) Heinzel bemerkt dazu, der Redende dürfe anscheinend darauf rechnen, daß sein szenisches
Publikum "über dem Wortschwall und dem Metrum den Sinn überhöre.
^"'°
) Rafael giebt Johannes dem Täufer ein härenes Gewand auch da, wo er ihn als
kleinen Gespielen des Jesusknaben darstellt.
Martell für Martel ist falsche Analogie zu Urteil und Urtel, Martel lautgesetzlich aus
Marter wie Turtel(taube) aus turtur, MarmeWein) uns Marmor.
Das altdeutsche geistliche Schauspiel

ist die Entfaltung theologischer Gelehrsamkeit in Disputationen aller Art.
Gott unterredet sich einmal mit den Engelchören über das liosruw, arvitrium.
Das ritterliche Minnelied wird ergötzlich parodirt. In einem Erlauer Oster¬
spiel heißt es am Schlüsse der Beschreibung einer häßlichen Magd, die Rüben
gegraben hat: „Der froß sie siben, die süß und die vit rain."

Auch die Sprache ist undramatisch, soweit sie nicht den Dialog der Evan¬
gelien wiedergiebt oder sich in der Sphäre des niedern Volkes hält. Schon
der Gebrauch des Lateinischen mußte hier hemmend wirken. Diese Sprache ist
entweder allein durchgeführt oder mit Deutsch gemischt, mit der Zeit nehmen
die ganz deutschen Stücke zu. Vereinzelt sind hebräische, gewöhnlich entstellte
Brocken wie kams, ni.bg.cztlig.ni. Einfacher liturgieartiger Gesang ist häusiger
als gesprochne Rede; oft wird erst der lateinische Text von mehreren gesungen,
dann der entsprechende deutsche von einer Person gesprochen, offenbar mit
Rücksicht auf den nicht Latein verstehenden Teil des Publikums. Der Durch¬
schnittston der Sprache ist trocken, ja hölzern, von Vers- und Reimzwang
beeinflußt, tief unter der weltlichen Kunst der Zeit; Abweichungen von diesem
Charakter führen entweder zu lyrischer Geschraubtheit oder zu niedriger Natur¬
wahrheit. Auf diesem zweiten Seitenwege blüht der Witz, oft derb. Joseph
sagt einmal von seinen Hosen, sie seien „bei den lucheren ganz." In einem
Erlauer Osterspiel rühmt sich der Arzt, im ganzen Lande gäbe es keinen
wie ihn:

Wir wollen an der Hand von einer andern Reihe von Beispielen ver¬
suchen, das historische Gepräge des altdeutschen christlichen Spieles noch posi¬
tiver zu fassen. wobei man sich freilich immer gegenwärtig halten muß, daß
innerhalb der Spiele selbst wieder ein Unterschied besteht zwischen solchen von
höchster Naivität und andern mit einer schon leidlich entwickelten Reflexion.
Ein allgemein giltiges Zeugnis für die Schlichtheit der Gedankenwelt, in der
die Stücke befangen sind, ist, daß die Worte des Pilatus Huiü sse voi-nah?
und Huocl sorixsi, svrixsi entweder weggelassen oder mißverstanden sind. In
einer für uns rührend naiven Weise äußert sich die Gewohnheit, eine Person
als unveränderlichen Gesamttypus aufzufassen — ähnlich wie es unser altes
Volksepos thut, Giselher heißt trotz der Jahrzehnte, die über der Handlung
des Nibelungenlieds vergehen, am Ende wie am Anfang das Kind*^) —, und
der sich daraus ergebende Widerspruch mit der Handlung in folgendem Ge¬
spräch aus einem Kasseler Weihnachtsspiel:


Christkind:

Ena, eua, Maria liebe mulier mun:
Sal ich von den Joder litem große pin?


Maria:

Swige, liebes kindelin Jesu Christ,
Beweun diner marteul"^) nicht zu disszer frist.





*) Heinzel bemerkt dazu, der Redende dürfe anscheinend darauf rechnen, daß sein szenisches
Publikum "über dem Wortschwall und dem Metrum den Sinn überhöre.
^"'°
) Rafael giebt Johannes dem Täufer ein härenes Gewand auch da, wo er ihn als
kleinen Gespielen des Jesusknaben darstellt.
Martell für Martel ist falsche Analogie zu Urteil und Urtel, Martel lautgesetzlich aus
Marter wie Turtel(taube) aus turtur, MarmeWein) uns Marmor.
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[0586] Das altdeutsche geistliche Schauspiel ist die Entfaltung theologischer Gelehrsamkeit in Disputationen aller Art. Gott unterredet sich einmal mit den Engelchören über das liosruw, arvitrium. Das ritterliche Minnelied wird ergötzlich parodirt. In einem Erlauer Oster¬ spiel heißt es am Schlüsse der Beschreibung einer häßlichen Magd, die Rüben gegraben hat: „Der froß sie siben, die süß und die vit rain." Auch die Sprache ist undramatisch, soweit sie nicht den Dialog der Evan¬ gelien wiedergiebt oder sich in der Sphäre des niedern Volkes hält. Schon der Gebrauch des Lateinischen mußte hier hemmend wirken. Diese Sprache ist entweder allein durchgeführt oder mit Deutsch gemischt, mit der Zeit nehmen die ganz deutschen Stücke zu. Vereinzelt sind hebräische, gewöhnlich entstellte Brocken wie kams, ni.bg.cztlig.ni. Einfacher liturgieartiger Gesang ist häusiger als gesprochne Rede; oft wird erst der lateinische Text von mehreren gesungen, dann der entsprechende deutsche von einer Person gesprochen, offenbar mit Rücksicht auf den nicht Latein verstehenden Teil des Publikums. Der Durch¬ schnittston der Sprache ist trocken, ja hölzern, von Vers- und Reimzwang beeinflußt, tief unter der weltlichen Kunst der Zeit; Abweichungen von diesem Charakter führen entweder zu lyrischer Geschraubtheit oder zu niedriger Natur¬ wahrheit. Auf diesem zweiten Seitenwege blüht der Witz, oft derb. Joseph sagt einmal von seinen Hosen, sie seien „bei den lucheren ganz." In einem Erlauer Osterspiel rühmt sich der Arzt, im ganzen Lande gäbe es keinen wie ihn: Wir wollen an der Hand von einer andern Reihe von Beispielen ver¬ suchen, das historische Gepräge des altdeutschen christlichen Spieles noch posi¬ tiver zu fassen. wobei man sich freilich immer gegenwärtig halten muß, daß innerhalb der Spiele selbst wieder ein Unterschied besteht zwischen solchen von höchster Naivität und andern mit einer schon leidlich entwickelten Reflexion. Ein allgemein giltiges Zeugnis für die Schlichtheit der Gedankenwelt, in der die Stücke befangen sind, ist, daß die Worte des Pilatus Huiü sse voi-nah? und Huocl sorixsi, svrixsi entweder weggelassen oder mißverstanden sind. In einer für uns rührend naiven Weise äußert sich die Gewohnheit, eine Person als unveränderlichen Gesamttypus aufzufassen — ähnlich wie es unser altes Volksepos thut, Giselher heißt trotz der Jahrzehnte, die über der Handlung des Nibelungenlieds vergehen, am Ende wie am Anfang das Kind*^) —, und der sich daraus ergebende Widerspruch mit der Handlung in folgendem Ge¬ spräch aus einem Kasseler Weihnachtsspiel: Christkind: Ena, eua, Maria liebe mulier mun: Sal ich von den Joder litem große pin? Maria: Swige, liebes kindelin Jesu Christ, Beweun diner marteul"^) nicht zu disszer frist. *) Heinzel bemerkt dazu, der Redende dürfe anscheinend darauf rechnen, daß sein szenisches Publikum "über dem Wortschwall und dem Metrum den Sinn überhöre. ^"'° ) Rafael giebt Johannes dem Täufer ein härenes Gewand auch da, wo er ihn als kleinen Gespielen des Jesusknaben darstellt. Martell für Martel ist falsche Analogie zu Urteil und Urtel, Martel lautgesetzlich aus Marter wie Turtel(taube) aus turtur, MarmeWein) uns Marmor.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/586>, abgerufen am 30.12.2024.