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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Das altdeutsche geistliche Schauspiel

wenigstens in der ersten Zeit, wenn er auch später gelernt hat, Wassermelonen und
vielleicht auch Reis zu Pflanzen? Und warum bleibt er nicht auf den Bäumen,
da doch jede Tierart für die Erhaltung ihres Lebens sorgt? Müssen wir an¬
nehmen, daß alle Bäume plötzlich vernichtet wurden, oder brachte keiner von ihnen
mehr Früchte hervor? Aber dann mußten notwendig alle Affen zu Grunde gehen.
Oder muß man annehmen, daß die Affen im Laufe der Jahrtausende sich im
Gehen auf platter Ebene geübt und von der Erde Früchte genommen haben, nur
um sich von der fatalen Form der Füße zu befreien, und um diese nicht durch
Übung im Klettern zu konserviren? Aber dann würde nicht Kampf ums Dasein
stattfinden, sondern Kampf um die Zivilisation, der sie sich im Laufe der Jahr¬
hunderte ergeben müssen. ^Gemeine ist wohl: die sie zu erringen beabsichtigen.)
Aber wo finden wir beim Menschen, daß die Magenbedürfnisse den geistigen Be¬
dürfnissen geopfert werden? Diese Gorillas waren also früher viel erhabner als
jetzt, wo sie sich in Menschen umgewandelt haben. Die Menschen unsrer Zeit
müssen die sich ihnen zunächst darbietende Nahrung zu erlangen suchen, um ihren
Hunger zu stillen, jene Gorillas dagegen, die Bildung suchten, müssen so etwas
wie haarige Engel gewesen sein, die dem Hunger nicht unterworfen siud.

Baer sagt den Darwinianern geradezu, sie gingen nicht von der Beobach¬
tung aus, sondern von der Reflexion, an die Stelle der Beobachtung setzten
sie Poesie, Phantasie, Vermutungen, Annahmen, Behauptungen, logische Postu¬
late, und wer neben Häckels Schriften einiges von Baer gelesen hat, der kann
nicht darüber im Zweifel sein, auf welcher Seite die exakte Wissenschaft und
die gewissenhafte, nüchterne Forschung zu finden ist. Das deutsche Publikum
hat sich ein paar Jahrzehnte hindurch von den Popularisirern der Darwi¬
nischen Theorie blauen Dunst vormachen lassen; es ist Zeit, daß es sich an
die soliden Forscher wende, um von denen zu erfahren, wie weit unsre Natur¬
erkenntnis reicht.




Das altdeutsche geistliche Schauspiel

eit einer Reihe von Jahren sind bei Leopold Voß in Hamburg von
Theodor Lipps und Richard Maria Werner Beiträge zur Ästhetik
herausgegeben worden, die nach Inhalt und Form gleich aus¬
gezeichnet sind. Ihre Zahl ist klein gegenüber den Dutzenden,
die andre Sammelredakteure wie in einem Brutapparat reifen
lassen, aber jede Nummer war ein Treffer. Werners "Lyrik
und Lyriker" eröffneten die Reihe, darauf beleuchtete Lipps den "Streit über
die Tragödie," und einer unsrer begabtesten jüngern Architekten, Richard
Streiter, gab eine Kritik von "Karl Böttichers Tektonik der Hellenen." Dieses
Jahr ist die Sammlung wieder um zwei vorzügliche Arbeiten vermehrt worden.
In dem zuletzt erschienenen fünften Heft untersucht Paul Stern die Begriffe
"Einfühlung und Assoziativ!! in der neuern Ästhetik." Er kommt zu dem
Schlüsse, "Einfühlung," von Novalis geprägt und neuerdings wieder warm


Das altdeutsche geistliche Schauspiel

wenigstens in der ersten Zeit, wenn er auch später gelernt hat, Wassermelonen und
vielleicht auch Reis zu Pflanzen? Und warum bleibt er nicht auf den Bäumen,
da doch jede Tierart für die Erhaltung ihres Lebens sorgt? Müssen wir an¬
nehmen, daß alle Bäume plötzlich vernichtet wurden, oder brachte keiner von ihnen
mehr Früchte hervor? Aber dann mußten notwendig alle Affen zu Grunde gehen.
Oder muß man annehmen, daß die Affen im Laufe der Jahrtausende sich im
Gehen auf platter Ebene geübt und von der Erde Früchte genommen haben, nur
um sich von der fatalen Form der Füße zu befreien, und um diese nicht durch
Übung im Klettern zu konserviren? Aber dann würde nicht Kampf ums Dasein
stattfinden, sondern Kampf um die Zivilisation, der sie sich im Laufe der Jahr¬
hunderte ergeben müssen. ^Gemeine ist wohl: die sie zu erringen beabsichtigen.)
Aber wo finden wir beim Menschen, daß die Magenbedürfnisse den geistigen Be¬
dürfnissen geopfert werden? Diese Gorillas waren also früher viel erhabner als
jetzt, wo sie sich in Menschen umgewandelt haben. Die Menschen unsrer Zeit
müssen die sich ihnen zunächst darbietende Nahrung zu erlangen suchen, um ihren
Hunger zu stillen, jene Gorillas dagegen, die Bildung suchten, müssen so etwas
wie haarige Engel gewesen sein, die dem Hunger nicht unterworfen siud.

Baer sagt den Darwinianern geradezu, sie gingen nicht von der Beobach¬
tung aus, sondern von der Reflexion, an die Stelle der Beobachtung setzten
sie Poesie, Phantasie, Vermutungen, Annahmen, Behauptungen, logische Postu¬
late, und wer neben Häckels Schriften einiges von Baer gelesen hat, der kann
nicht darüber im Zweifel sein, auf welcher Seite die exakte Wissenschaft und
die gewissenhafte, nüchterne Forschung zu finden ist. Das deutsche Publikum
hat sich ein paar Jahrzehnte hindurch von den Popularisirern der Darwi¬
nischen Theorie blauen Dunst vormachen lassen; es ist Zeit, daß es sich an
die soliden Forscher wende, um von denen zu erfahren, wie weit unsre Natur¬
erkenntnis reicht.




Das altdeutsche geistliche Schauspiel

eit einer Reihe von Jahren sind bei Leopold Voß in Hamburg von
Theodor Lipps und Richard Maria Werner Beiträge zur Ästhetik
herausgegeben worden, die nach Inhalt und Form gleich aus¬
gezeichnet sind. Ihre Zahl ist klein gegenüber den Dutzenden,
die andre Sammelredakteure wie in einem Brutapparat reifen
lassen, aber jede Nummer war ein Treffer. Werners „Lyrik
und Lyriker" eröffneten die Reihe, darauf beleuchtete Lipps den „Streit über
die Tragödie," und einer unsrer begabtesten jüngern Architekten, Richard
Streiter, gab eine Kritik von „Karl Böttichers Tektonik der Hellenen." Dieses
Jahr ist die Sammlung wieder um zwei vorzügliche Arbeiten vermehrt worden.
In dem zuletzt erschienenen fünften Heft untersucht Paul Stern die Begriffe
»Einfühlung und Assoziativ!! in der neuern Ästhetik." Er kommt zu dem
Schlüsse, „Einfühlung," von Novalis geprägt und neuerdings wieder warm


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[0582] Das altdeutsche geistliche Schauspiel wenigstens in der ersten Zeit, wenn er auch später gelernt hat, Wassermelonen und vielleicht auch Reis zu Pflanzen? Und warum bleibt er nicht auf den Bäumen, da doch jede Tierart für die Erhaltung ihres Lebens sorgt? Müssen wir an¬ nehmen, daß alle Bäume plötzlich vernichtet wurden, oder brachte keiner von ihnen mehr Früchte hervor? Aber dann mußten notwendig alle Affen zu Grunde gehen. Oder muß man annehmen, daß die Affen im Laufe der Jahrtausende sich im Gehen auf platter Ebene geübt und von der Erde Früchte genommen haben, nur um sich von der fatalen Form der Füße zu befreien, und um diese nicht durch Übung im Klettern zu konserviren? Aber dann würde nicht Kampf ums Dasein stattfinden, sondern Kampf um die Zivilisation, der sie sich im Laufe der Jahr¬ hunderte ergeben müssen. ^Gemeine ist wohl: die sie zu erringen beabsichtigen.) Aber wo finden wir beim Menschen, daß die Magenbedürfnisse den geistigen Be¬ dürfnissen geopfert werden? Diese Gorillas waren also früher viel erhabner als jetzt, wo sie sich in Menschen umgewandelt haben. Die Menschen unsrer Zeit müssen die sich ihnen zunächst darbietende Nahrung zu erlangen suchen, um ihren Hunger zu stillen, jene Gorillas dagegen, die Bildung suchten, müssen so etwas wie haarige Engel gewesen sein, die dem Hunger nicht unterworfen siud. Baer sagt den Darwinianern geradezu, sie gingen nicht von der Beobach¬ tung aus, sondern von der Reflexion, an die Stelle der Beobachtung setzten sie Poesie, Phantasie, Vermutungen, Annahmen, Behauptungen, logische Postu¬ late, und wer neben Häckels Schriften einiges von Baer gelesen hat, der kann nicht darüber im Zweifel sein, auf welcher Seite die exakte Wissenschaft und die gewissenhafte, nüchterne Forschung zu finden ist. Das deutsche Publikum hat sich ein paar Jahrzehnte hindurch von den Popularisirern der Darwi¬ nischen Theorie blauen Dunst vormachen lassen; es ist Zeit, daß es sich an die soliden Forscher wende, um von denen zu erfahren, wie weit unsre Natur¬ erkenntnis reicht. Das altdeutsche geistliche Schauspiel eit einer Reihe von Jahren sind bei Leopold Voß in Hamburg von Theodor Lipps und Richard Maria Werner Beiträge zur Ästhetik herausgegeben worden, die nach Inhalt und Form gleich aus¬ gezeichnet sind. Ihre Zahl ist klein gegenüber den Dutzenden, die andre Sammelredakteure wie in einem Brutapparat reifen lassen, aber jede Nummer war ein Treffer. Werners „Lyrik und Lyriker" eröffneten die Reihe, darauf beleuchtete Lipps den „Streit über die Tragödie," und einer unsrer begabtesten jüngern Architekten, Richard Streiter, gab eine Kritik von „Karl Böttichers Tektonik der Hellenen." Dieses Jahr ist die Sammlung wieder um zwei vorzügliche Arbeiten vermehrt worden. In dem zuletzt erschienenen fünften Heft untersucht Paul Stern die Begriffe »Einfühlung und Assoziativ!! in der neuern Ästhetik." Er kommt zu dem Schlüsse, „Einfühlung," von Novalis geprägt und neuerdings wieder warm

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/582>, abgerufen am 27.12.2024.