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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Karl Lrnst von Baer und der Darwinismus

Darwins artbildend wirken, so müßten im Weltmeere nur wenige Arten von
Fischen vorhanden sein. Denn die Nahrung für viele Arten sei dieselbe; es
müßte also von jeder Gruppe von Konkurrenten nur die siegreiche Art übrig
geblieben sein; es finden sich aber Tausende von Fischarten.

Das von Häckel und Fritz Müller formulirte biogenetische Grundgesetz
hat Baer schon in seiner Entwicklungsgeschichte der Tiere (1828 bis 1837)
widerlegt, als Häckel noch in den Windeln lag. Es war nämlich damals
schon von I. F. Meckel und Oken aufgestellt, wenn auch noch nicht mit dem
heutigen schönen Namen verziert worden. Einige Sachkenntnis in embryo¬
logischen Fragen wird man Vaer, der das Säugetierei entdeckt hat und den
Waldeyer den Vater der wissenschaftlichen Embryologie nennt, nicht absprechen
wollen. Baer behauptet nun auf Grund seiner Beobachtungen, es sei einfach
nicht wahr, daß der menschliche Embryo nach einander die Formen der Em¬
bryonen seiner angeblichen tierischen Ahnen annehme, oder daß überhaupt der
Embryo irgend eines Tieres die Entwicklungsstufen der Embryonen niederer
Tierklasfen durchmache. Freilich seien im allerfrühesten Stadium alle Em¬
bryonen einander sehr ähnlich, auf einem spätern Stadium z. B. die Embryonen
aller Wirbeltiere kaum von einander zu unterscheiden, indem sie alle nur den
allgemeinen Charakter der Klasse trügen, zu der sie gehören, aber sobald ein
Klassencharakter oder ein Artcharakter hervortrete, sehe man auch sofort, zu welcher
Klasse oder zu welcher Art das Wesen gehöre. Kein höherer Typus, sagt er, kann
einen niedern durchlaufen; Wirbeltiere durchlaufen nicht zuerst den der Gliedertiere
und Mollusken, Gliedertiere nicht den der Mollusken; nicht eine Tierreihe durch¬
läuft die Entwicklung des Individuums, sondern sie geht von den allgemeinen
Charakteren ihrer Gruppe zu den speziellern und allerspezielisten Charakteren
über. Im Wirbeltierkeime entsteht aus einer Verdickung in der Mitte zuerst
der Stamm der künftigen Wirbelsäule. Es bilden sich zwei Leisten, die mit
einander verwachsen, und aus deren innern Wänden allmählich das Rücken¬
mark entwickelt wird. Ehe die beiden Leisten verwachsen, sind auch schon
hinter einander liegende Verdickungen, die künftigen Wirbel, sichtbar geworden.
Auf dieser Stufe hat der Embryo nur den allgemeinen Charakter des Wirbel¬
tieres; sobald er einen besondern Charakter, z. B. den der Fische zeigt, kann
er ans diesem nicht mehr heraus. Aus einem als Gliedertier angelegten
Wesen kann schon darum kein Wirbeltier werden, weil das Gliedertier die
Nervenzentren an der Bauchseite, das Wirbeltier sie an der Rückenseite hat.
Demgemäß sei auch die Lagerung aller andern Organe verschieden. Man dürfe
nicht sagen, der Rücken könne ja zum Bauche werden oder umgekehrt, denn
dagegen stritten die Extremitäten- Diese seien so gebaut, daß die Bauchseite
dem Boden zugekehrt sei oder dem festen Körper, auf dem es sich bewege, selbst
wenn es umgekehrt an der Decke krieche. So sei es dann weiter mit den
Embryonen der verschiednen Arten einer Klasse. Aus einem fischartiger


Karl Lrnst von Baer und der Darwinismus

Darwins artbildend wirken, so müßten im Weltmeere nur wenige Arten von
Fischen vorhanden sein. Denn die Nahrung für viele Arten sei dieselbe; es
müßte also von jeder Gruppe von Konkurrenten nur die siegreiche Art übrig
geblieben sein; es finden sich aber Tausende von Fischarten.

Das von Häckel und Fritz Müller formulirte biogenetische Grundgesetz
hat Baer schon in seiner Entwicklungsgeschichte der Tiere (1828 bis 1837)
widerlegt, als Häckel noch in den Windeln lag. Es war nämlich damals
schon von I. F. Meckel und Oken aufgestellt, wenn auch noch nicht mit dem
heutigen schönen Namen verziert worden. Einige Sachkenntnis in embryo¬
logischen Fragen wird man Vaer, der das Säugetierei entdeckt hat und den
Waldeyer den Vater der wissenschaftlichen Embryologie nennt, nicht absprechen
wollen. Baer behauptet nun auf Grund seiner Beobachtungen, es sei einfach
nicht wahr, daß der menschliche Embryo nach einander die Formen der Em¬
bryonen seiner angeblichen tierischen Ahnen annehme, oder daß überhaupt der
Embryo irgend eines Tieres die Entwicklungsstufen der Embryonen niederer
Tierklasfen durchmache. Freilich seien im allerfrühesten Stadium alle Em¬
bryonen einander sehr ähnlich, auf einem spätern Stadium z. B. die Embryonen
aller Wirbeltiere kaum von einander zu unterscheiden, indem sie alle nur den
allgemeinen Charakter der Klasse trügen, zu der sie gehören, aber sobald ein
Klassencharakter oder ein Artcharakter hervortrete, sehe man auch sofort, zu welcher
Klasse oder zu welcher Art das Wesen gehöre. Kein höherer Typus, sagt er, kann
einen niedern durchlaufen; Wirbeltiere durchlaufen nicht zuerst den der Gliedertiere
und Mollusken, Gliedertiere nicht den der Mollusken; nicht eine Tierreihe durch¬
läuft die Entwicklung des Individuums, sondern sie geht von den allgemeinen
Charakteren ihrer Gruppe zu den speziellern und allerspezielisten Charakteren
über. Im Wirbeltierkeime entsteht aus einer Verdickung in der Mitte zuerst
der Stamm der künftigen Wirbelsäule. Es bilden sich zwei Leisten, die mit
einander verwachsen, und aus deren innern Wänden allmählich das Rücken¬
mark entwickelt wird. Ehe die beiden Leisten verwachsen, sind auch schon
hinter einander liegende Verdickungen, die künftigen Wirbel, sichtbar geworden.
Auf dieser Stufe hat der Embryo nur den allgemeinen Charakter des Wirbel¬
tieres; sobald er einen besondern Charakter, z. B. den der Fische zeigt, kann
er ans diesem nicht mehr heraus. Aus einem als Gliedertier angelegten
Wesen kann schon darum kein Wirbeltier werden, weil das Gliedertier die
Nervenzentren an der Bauchseite, das Wirbeltier sie an der Rückenseite hat.
Demgemäß sei auch die Lagerung aller andern Organe verschieden. Man dürfe
nicht sagen, der Rücken könne ja zum Bauche werden oder umgekehrt, denn
dagegen stritten die Extremitäten- Diese seien so gebaut, daß die Bauchseite
dem Boden zugekehrt sei oder dem festen Körper, auf dem es sich bewege, selbst
wenn es umgekehrt an der Decke krieche. So sei es dann weiter mit den
Embryonen der verschiednen Arten einer Klasse. Aus einem fischartiger


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[0580] Karl Lrnst von Baer und der Darwinismus Darwins artbildend wirken, so müßten im Weltmeere nur wenige Arten von Fischen vorhanden sein. Denn die Nahrung für viele Arten sei dieselbe; es müßte also von jeder Gruppe von Konkurrenten nur die siegreiche Art übrig geblieben sein; es finden sich aber Tausende von Fischarten. Das von Häckel und Fritz Müller formulirte biogenetische Grundgesetz hat Baer schon in seiner Entwicklungsgeschichte der Tiere (1828 bis 1837) widerlegt, als Häckel noch in den Windeln lag. Es war nämlich damals schon von I. F. Meckel und Oken aufgestellt, wenn auch noch nicht mit dem heutigen schönen Namen verziert worden. Einige Sachkenntnis in embryo¬ logischen Fragen wird man Vaer, der das Säugetierei entdeckt hat und den Waldeyer den Vater der wissenschaftlichen Embryologie nennt, nicht absprechen wollen. Baer behauptet nun auf Grund seiner Beobachtungen, es sei einfach nicht wahr, daß der menschliche Embryo nach einander die Formen der Em¬ bryonen seiner angeblichen tierischen Ahnen annehme, oder daß überhaupt der Embryo irgend eines Tieres die Entwicklungsstufen der Embryonen niederer Tierklasfen durchmache. Freilich seien im allerfrühesten Stadium alle Em¬ bryonen einander sehr ähnlich, auf einem spätern Stadium z. B. die Embryonen aller Wirbeltiere kaum von einander zu unterscheiden, indem sie alle nur den allgemeinen Charakter der Klasse trügen, zu der sie gehören, aber sobald ein Klassencharakter oder ein Artcharakter hervortrete, sehe man auch sofort, zu welcher Klasse oder zu welcher Art das Wesen gehöre. Kein höherer Typus, sagt er, kann einen niedern durchlaufen; Wirbeltiere durchlaufen nicht zuerst den der Gliedertiere und Mollusken, Gliedertiere nicht den der Mollusken; nicht eine Tierreihe durch¬ läuft die Entwicklung des Individuums, sondern sie geht von den allgemeinen Charakteren ihrer Gruppe zu den speziellern und allerspezielisten Charakteren über. Im Wirbeltierkeime entsteht aus einer Verdickung in der Mitte zuerst der Stamm der künftigen Wirbelsäule. Es bilden sich zwei Leisten, die mit einander verwachsen, und aus deren innern Wänden allmählich das Rücken¬ mark entwickelt wird. Ehe die beiden Leisten verwachsen, sind auch schon hinter einander liegende Verdickungen, die künftigen Wirbel, sichtbar geworden. Auf dieser Stufe hat der Embryo nur den allgemeinen Charakter des Wirbel¬ tieres; sobald er einen besondern Charakter, z. B. den der Fische zeigt, kann er ans diesem nicht mehr heraus. Aus einem als Gliedertier angelegten Wesen kann schon darum kein Wirbeltier werden, weil das Gliedertier die Nervenzentren an der Bauchseite, das Wirbeltier sie an der Rückenseite hat. Demgemäß sei auch die Lagerung aller andern Organe verschieden. Man dürfe nicht sagen, der Rücken könne ja zum Bauche werden oder umgekehrt, denn dagegen stritten die Extremitäten- Diese seien so gebaut, daß die Bauchseite dem Boden zugekehrt sei oder dem festen Körper, auf dem es sich bewege, selbst wenn es umgekehrt an der Decke krieche. So sei es dann weiter mit den Embryonen der verschiednen Arten einer Klasse. Aus einem fischartiger

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/580>, abgerufen am 23.07.2024.