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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Der Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland

reichische Taktik blieb hinter der Zeit zurück. Nach 1805 ging das Dienst¬
reglement des Erzherzogs Karl von der überwundnen Lineartaktik zur fran¬
zösischen Schwarmtaktik über, doch so, daß sich nur etwa der vierte Teil der
Truppe in Schützenlinien auflöste, die Hauptmasse in dreigliedriger Linien¬
aufstellung folgte. Diese Taktik erlag 1859, obwohl beide Heere Vorderlader
und die Österreicher sogar das bessere Gewehr führten, den Franzosen, die in
dichten Schützenschwärmen mit nachfolgenden tiefen Kolonnen anrückten und
nach einem überwältigenden Plänklerfeuer zum Bajonnettaugriff übergingen.
Seitdem bildeten die Österreicher diese siegreiche "Stoßtaktik" eifrig nach.
Hinter einer dünnen Schützenlinie ging das Bataillon in drei eng aneinander-
geschlossenen "Divisionen" (zu zwei Kompagnien, deren damals das Bataillon
sechs zählte) möglichst bald, auch aus gedeckten Stellungen, mit der blanken
Waffe vor.

Dagegen legte man in Preußen nach den Vorschriften von 1861 das Haupt¬
gewicht auf das Feuergefecht mit dem überlegnen Hinterlader, dem Zündnadel¬
gewehr, das dreimal schneller feuerte als jeder Vorderlader, bevorzugte die ge¬
deckte Stellung und übte die Offiziere, auch schon mit der Kompagnie, der eigent¬
lichen Gefechtseinheit, möglichst selbständig vorzugehen, namentlich den Gegner
in seiner starren, unbehilflichen Formation auch in den Flanken zu fassen und
zum Schluß in überwältigenden, allseitigem Ansturm den schon erschütterten
Feind über den Haufen zu werfen. Daher wurden auch die Hauptleute, was
Friedjung nicht erwähnt, beritten gemacht, schon um das zerstreute Gefecht
besser übersehen zu können, während sie bei den Österreichern noch zu Fuß
fochten und kaum eine andre Aufgabe hatten, als mit gezognen Säbel ihren
Leuten voranzustürmen. Da indes diese neue preußische Taktik 1864 ihre
Vorzüge uoch wenig entfaltet hatte, fo blickte mau in Österreich geringschätzig
auf sie und auf das Zündnadelgewehr herab und behielt die Stoßtaktik bei;
erst kurz vor dem Kriege von 1866 erhoben sich einzelne besorgte Stimmen.
Nur die österreichische Artillerie war in Material und Vorgehen der preußischen
wirklich überlegen, aber sie wurde von der Heeresleitung selten zweckentsprechend
verwandt; die Reiterei aber leistete 1866 auf beiden Seiten nicht das Erwartete,
die preußische besonders deshalb nicht, weil sie auf dem Marsch und im Kampfe
hinter der Infanterie zurückgehalten wurde, nicht, wie 1870, den Marschkolonnen
aufklärend voranging.

Mit einem Rückblick auf die Zeit seit 1849 und einer übersichtlichen Dar¬
stellung des Krieges von 1859 beginnt Fricdjung seine Darstellung. Seit
dieser Niederlage begannen die Versuche, im Innern den Kaiserstaat durch
parlamentarische Formen zu verjüngen, nach außen das Verhältnis zu Deutsch¬
land im Sinne einer großdeutschen Politik stärker zu betonen. Beide Rich¬
tungen schienen in enger Verbindung mit einander zu stehen, weil Österreich
dabei auf die deutschen Liberalen rechnen mußte; thatsächlich widersprachen sie
einander, denn der Parlamentarismus mußte in Österreich sofort das Selbst-


Der Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland

reichische Taktik blieb hinter der Zeit zurück. Nach 1805 ging das Dienst¬
reglement des Erzherzogs Karl von der überwundnen Lineartaktik zur fran¬
zösischen Schwarmtaktik über, doch so, daß sich nur etwa der vierte Teil der
Truppe in Schützenlinien auflöste, die Hauptmasse in dreigliedriger Linien¬
aufstellung folgte. Diese Taktik erlag 1859, obwohl beide Heere Vorderlader
und die Österreicher sogar das bessere Gewehr führten, den Franzosen, die in
dichten Schützenschwärmen mit nachfolgenden tiefen Kolonnen anrückten und
nach einem überwältigenden Plänklerfeuer zum Bajonnettaugriff übergingen.
Seitdem bildeten die Österreicher diese siegreiche „Stoßtaktik" eifrig nach.
Hinter einer dünnen Schützenlinie ging das Bataillon in drei eng aneinander-
geschlossenen „Divisionen" (zu zwei Kompagnien, deren damals das Bataillon
sechs zählte) möglichst bald, auch aus gedeckten Stellungen, mit der blanken
Waffe vor.

Dagegen legte man in Preußen nach den Vorschriften von 1861 das Haupt¬
gewicht auf das Feuergefecht mit dem überlegnen Hinterlader, dem Zündnadel¬
gewehr, das dreimal schneller feuerte als jeder Vorderlader, bevorzugte die ge¬
deckte Stellung und übte die Offiziere, auch schon mit der Kompagnie, der eigent¬
lichen Gefechtseinheit, möglichst selbständig vorzugehen, namentlich den Gegner
in seiner starren, unbehilflichen Formation auch in den Flanken zu fassen und
zum Schluß in überwältigenden, allseitigem Ansturm den schon erschütterten
Feind über den Haufen zu werfen. Daher wurden auch die Hauptleute, was
Friedjung nicht erwähnt, beritten gemacht, schon um das zerstreute Gefecht
besser übersehen zu können, während sie bei den Österreichern noch zu Fuß
fochten und kaum eine andre Aufgabe hatten, als mit gezognen Säbel ihren
Leuten voranzustürmen. Da indes diese neue preußische Taktik 1864 ihre
Vorzüge uoch wenig entfaltet hatte, fo blickte mau in Österreich geringschätzig
auf sie und auf das Zündnadelgewehr herab und behielt die Stoßtaktik bei;
erst kurz vor dem Kriege von 1866 erhoben sich einzelne besorgte Stimmen.
Nur die österreichische Artillerie war in Material und Vorgehen der preußischen
wirklich überlegen, aber sie wurde von der Heeresleitung selten zweckentsprechend
verwandt; die Reiterei aber leistete 1866 auf beiden Seiten nicht das Erwartete,
die preußische besonders deshalb nicht, weil sie auf dem Marsch und im Kampfe
hinter der Infanterie zurückgehalten wurde, nicht, wie 1870, den Marschkolonnen
aufklärend voranging.

Mit einem Rückblick auf die Zeit seit 1849 und einer übersichtlichen Dar¬
stellung des Krieges von 1859 beginnt Fricdjung seine Darstellung. Seit
dieser Niederlage begannen die Versuche, im Innern den Kaiserstaat durch
parlamentarische Formen zu verjüngen, nach außen das Verhältnis zu Deutsch¬
land im Sinne einer großdeutschen Politik stärker zu betonen. Beide Rich¬
tungen schienen in enger Verbindung mit einander zu stehen, weil Österreich
dabei auf die deutschen Liberalen rechnen mußte; thatsächlich widersprachen sie
einander, denn der Parlamentarismus mußte in Österreich sofort das Selbst-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/566>, abgerufen am 23.07.2024.