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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Das deutsche Lied seit dem Tode Richard Wagners

selten der Dichtung hat Wagner in der jüngsten Periode weiter fördernd ein¬
gewirkt. Sein Hauptschüler ist hierin Alexander Ritter, ein großes, echtes,
aber von den Zeitgenossen nicht erkanntes Talent. Diese niedersehen Gesänge
sind Bausteine zu einer nuovs inusiono, zu einer zukünftigen Gesangsmnsik,
wie sie auf dem Gebiete des neusten Liedes gleich wertvoll und bedeutend
nur noch Franz Liszt vorgelegt hat. Es ist angreifende, zehrende, oft nervöse
und im Ringen nach Unmittelbarkeit des Ausdrucks überheizte, in der Gesamt¬
wirkung der einzelnen Nummern oft unbefriedigende Musik. Aber ebenso oft
ist sie der edelsten und schönsten Eingebungen voll; nie läßt sie leer, besteht
fast aus lauter Herzenstönen. Im ganzen: eine Kunst für den tägliche" Ge¬
brauch ungeeignet, in manchen Stücken verfehlt und nicht nach jedermanns
Geschmack -- aber für alle, die wahre, ursprüngliche musikalische Empfindung
zu schätzen wissen, ein Hochgenuß!

Albert Fuchs kann man als einen Schüler Ritters ansehen. Ein andrer
sehr wichtiger und verheißungsvoller Fortschritt in der neusten Entwicklung
des deutschen Liedes liegt darin, daß es zu dem Volkslied in innigere Be¬
ziehungen getreten ist. Das ist zunächst die Wirkung von Robert Franz. Karl
Löwe und andern Liedermeistern, die als die letzten Apostel der Berliner Schule
angesehen werden können. Es ist die Fernwirkung der Herder, Grimm, Hoff¬
mann von Fallersleben, Hildebrandt, denen wir im letzten Grunde ja auch die
Ausgaben alter Volksmelodien von Kretzschmer bis auf F. M. Böhme, der
die Aufgabe im großen ergriff, zu danken haben. Außerordentlich befruchtend
wird auf diese Bestrebungen von jetzt ab die von Brahms in seinen letzten
Jahren besorgte Ausgabe von neunundvierzig Volksliedern wirken. Sie war
als eine Kritik gemeint, wie Volkslieder aus den Quellen ausgewählt werden
sollten; sie ist aber mehr geworden: ein Muster, wie sie der moderne Musiker
lesen und behandeln soll. Da ist bei aller Freiheit in Harmonien und Rhythmen
der zugefügten Begleitung nichts, was dem Wesen dieser Lieder widerspricht,
aber Brahms hat eine große Kunst entfaltet, mit kleinsten und einfachsten
Mitteln die Wirkung des Gesangs zu heben. Die vorige Periode ist nicht
arm an "Liedern im Volkston," die alte Muster frei nachbilden. Manche
thun da etwas Parfüm dazu (H. Hoffmann, Moszkowski). Größer wird der
Nutzen sein, wenn der Geist des alten Volkslieds die Komponisten überall
begleitet und leitet. Ihm verdanken viele der schönsten Lieder von Brahms
ihre Einfachheit. In diesem Sinne erstreckt heute das alte Volkslied seine
Macht über einen immer größern Kreis. Aus ihm nennen wir als ein außer¬
ordentlich beachtenswertes neues Liedertalent Johannes Techritz, nach ihm
Müller-Reuter, Fr. Mayerhoffer.

Ob die Einflüsse, denen die Entwicklung eines Kunstzweiges ausgesetzt ist,
ihm zum Segen oder zum Schaden gereichen, hängt von den Grundsätzen ab,
die im Betrieb gelten. Unter den Grundsätzen aber, die für die Liedkomposttion


Das deutsche Lied seit dem Tode Richard Wagners

selten der Dichtung hat Wagner in der jüngsten Periode weiter fördernd ein¬
gewirkt. Sein Hauptschüler ist hierin Alexander Ritter, ein großes, echtes,
aber von den Zeitgenossen nicht erkanntes Talent. Diese niedersehen Gesänge
sind Bausteine zu einer nuovs inusiono, zu einer zukünftigen Gesangsmnsik,
wie sie auf dem Gebiete des neusten Liedes gleich wertvoll und bedeutend
nur noch Franz Liszt vorgelegt hat. Es ist angreifende, zehrende, oft nervöse
und im Ringen nach Unmittelbarkeit des Ausdrucks überheizte, in der Gesamt¬
wirkung der einzelnen Nummern oft unbefriedigende Musik. Aber ebenso oft
ist sie der edelsten und schönsten Eingebungen voll; nie läßt sie leer, besteht
fast aus lauter Herzenstönen. Im ganzen: eine Kunst für den tägliche» Ge¬
brauch ungeeignet, in manchen Stücken verfehlt und nicht nach jedermanns
Geschmack — aber für alle, die wahre, ursprüngliche musikalische Empfindung
zu schätzen wissen, ein Hochgenuß!

Albert Fuchs kann man als einen Schüler Ritters ansehen. Ein andrer
sehr wichtiger und verheißungsvoller Fortschritt in der neusten Entwicklung
des deutschen Liedes liegt darin, daß es zu dem Volkslied in innigere Be¬
ziehungen getreten ist. Das ist zunächst die Wirkung von Robert Franz. Karl
Löwe und andern Liedermeistern, die als die letzten Apostel der Berliner Schule
angesehen werden können. Es ist die Fernwirkung der Herder, Grimm, Hoff¬
mann von Fallersleben, Hildebrandt, denen wir im letzten Grunde ja auch die
Ausgaben alter Volksmelodien von Kretzschmer bis auf F. M. Böhme, der
die Aufgabe im großen ergriff, zu danken haben. Außerordentlich befruchtend
wird auf diese Bestrebungen von jetzt ab die von Brahms in seinen letzten
Jahren besorgte Ausgabe von neunundvierzig Volksliedern wirken. Sie war
als eine Kritik gemeint, wie Volkslieder aus den Quellen ausgewählt werden
sollten; sie ist aber mehr geworden: ein Muster, wie sie der moderne Musiker
lesen und behandeln soll. Da ist bei aller Freiheit in Harmonien und Rhythmen
der zugefügten Begleitung nichts, was dem Wesen dieser Lieder widerspricht,
aber Brahms hat eine große Kunst entfaltet, mit kleinsten und einfachsten
Mitteln die Wirkung des Gesangs zu heben. Die vorige Periode ist nicht
arm an „Liedern im Volkston," die alte Muster frei nachbilden. Manche
thun da etwas Parfüm dazu (H. Hoffmann, Moszkowski). Größer wird der
Nutzen sein, wenn der Geist des alten Volkslieds die Komponisten überall
begleitet und leitet. Ihm verdanken viele der schönsten Lieder von Brahms
ihre Einfachheit. In diesem Sinne erstreckt heute das alte Volkslied seine
Macht über einen immer größern Kreis. Aus ihm nennen wir als ein außer¬
ordentlich beachtenswertes neues Liedertalent Johannes Techritz, nach ihm
Müller-Reuter, Fr. Mayerhoffer.

Ob die Einflüsse, denen die Entwicklung eines Kunstzweiges ausgesetzt ist,
ihm zum Segen oder zum Schaden gereichen, hängt von den Grundsätzen ab,
die im Betrieb gelten. Unter den Grundsätzen aber, die für die Liedkomposttion


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[0544] Das deutsche Lied seit dem Tode Richard Wagners selten der Dichtung hat Wagner in der jüngsten Periode weiter fördernd ein¬ gewirkt. Sein Hauptschüler ist hierin Alexander Ritter, ein großes, echtes, aber von den Zeitgenossen nicht erkanntes Talent. Diese niedersehen Gesänge sind Bausteine zu einer nuovs inusiono, zu einer zukünftigen Gesangsmnsik, wie sie auf dem Gebiete des neusten Liedes gleich wertvoll und bedeutend nur noch Franz Liszt vorgelegt hat. Es ist angreifende, zehrende, oft nervöse und im Ringen nach Unmittelbarkeit des Ausdrucks überheizte, in der Gesamt¬ wirkung der einzelnen Nummern oft unbefriedigende Musik. Aber ebenso oft ist sie der edelsten und schönsten Eingebungen voll; nie läßt sie leer, besteht fast aus lauter Herzenstönen. Im ganzen: eine Kunst für den tägliche» Ge¬ brauch ungeeignet, in manchen Stücken verfehlt und nicht nach jedermanns Geschmack — aber für alle, die wahre, ursprüngliche musikalische Empfindung zu schätzen wissen, ein Hochgenuß! Albert Fuchs kann man als einen Schüler Ritters ansehen. Ein andrer sehr wichtiger und verheißungsvoller Fortschritt in der neusten Entwicklung des deutschen Liedes liegt darin, daß es zu dem Volkslied in innigere Be¬ ziehungen getreten ist. Das ist zunächst die Wirkung von Robert Franz. Karl Löwe und andern Liedermeistern, die als die letzten Apostel der Berliner Schule angesehen werden können. Es ist die Fernwirkung der Herder, Grimm, Hoff¬ mann von Fallersleben, Hildebrandt, denen wir im letzten Grunde ja auch die Ausgaben alter Volksmelodien von Kretzschmer bis auf F. M. Böhme, der die Aufgabe im großen ergriff, zu danken haben. Außerordentlich befruchtend wird auf diese Bestrebungen von jetzt ab die von Brahms in seinen letzten Jahren besorgte Ausgabe von neunundvierzig Volksliedern wirken. Sie war als eine Kritik gemeint, wie Volkslieder aus den Quellen ausgewählt werden sollten; sie ist aber mehr geworden: ein Muster, wie sie der moderne Musiker lesen und behandeln soll. Da ist bei aller Freiheit in Harmonien und Rhythmen der zugefügten Begleitung nichts, was dem Wesen dieser Lieder widerspricht, aber Brahms hat eine große Kunst entfaltet, mit kleinsten und einfachsten Mitteln die Wirkung des Gesangs zu heben. Die vorige Periode ist nicht arm an „Liedern im Volkston," die alte Muster frei nachbilden. Manche thun da etwas Parfüm dazu (H. Hoffmann, Moszkowski). Größer wird der Nutzen sein, wenn der Geist des alten Volkslieds die Komponisten überall begleitet und leitet. Ihm verdanken viele der schönsten Lieder von Brahms ihre Einfachheit. In diesem Sinne erstreckt heute das alte Volkslied seine Macht über einen immer größern Kreis. Aus ihm nennen wir als ein außer¬ ordentlich beachtenswertes neues Liedertalent Johannes Techritz, nach ihm Müller-Reuter, Fr. Mayerhoffer. Ob die Einflüsse, denen die Entwicklung eines Kunstzweiges ausgesetzt ist, ihm zum Segen oder zum Schaden gereichen, hängt von den Grundsätzen ab, die im Betrieb gelten. Unter den Grundsätzen aber, die für die Liedkomposttion

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Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/544>, abgerufen am 23.07.2024.