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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Das deutsche Lied seit dem Tode Richard Wagners

bestimmte Lied ins große Konzert eingeführt hat, beginnt sich zu rächen. Es
giebt noch Institute, die es für stillos halten, wenn nach einer Veethovenschen
Sinfonie die erregte, erweiterte Seele des fähigen Hörers in die idyllische
Nußschale eines Liedchens eingezwängt werden soll, aber sie kommen immer
mehr in die Minorität.

Zweitens aber steht dieses Abdrängen vom Lied in unverkennbarem
Zusammenhang mit der dämonischen Bewegung nach oben, die den größern
Teil der heutigen Menschheit erfaßt hat. Die, die nach alter Art sagen
dürfen: "Ich genüge mir in meinem Stande," geraten allmählich in die Rolle
des Sonderlings. Von allen Enden rufts nach Verbesserung oder Umsturz.
Hier Erhöhung von Lohn, wirtschaftlicher Lage, gesellschaftlicher Stellung,
dort das Ringen um höhere Kulturwertung der geistigen und künstlerischen
Arbeit. Wem Verse gelingen, der will nicht Dichter bleiben, sondern Religions-
stifter sein, den ausgezeichneten Radirer gelüstcts nach dein Ruhm eines neuen
Michelangelo, der Gänsemaler hält seine Bilder in Wand- und Mauerformat --
auch der Liederkomponist läßt merken, daß er zu höherm geboren ist. In
uicht bloß die Komponisten fühlen sich zum Teil über das Lied erhaben, auch
das Publikum gefällt sich in einer Geringschätzung wenigstens seiner ein¬
fachern und einfachsten Spielarten. Als vor kurzer Zeit der Schwede Scho-
lander mit seiner Laute durch Deutschland zog, alte naive aber volle Kunst
wieder belebend, da hat ihn die Aristokratie der Abonnementskonzerte ignorirt
und die hohe Kritik meistens unglimpflich behandelt. Man schwärmt wohl
von Rhapsoden, aber wenn sie leibhaftig wieder in die Gegenwart herein¬
treten, erkennt sie niemand. Diese Vornehmthuerei, dieser musikalische Carl
verschuldet es, daß die Musik des Volks, sich selbst überlassen, tief auf Ab¬
wege gerät, und daß die gesunden Keime, die in der Kunst unsrer Couplet¬
sänger und LlÄtvs vlumtimts zahlreich vorhanden sind, verderben. Die Wässer
werden sich wieder verlaufen; nach dieser Übergangsperiode werden sich unsre
Musiker wieder wohl fühlen im Liede. Es ist für sie eine unvergleichlich
gute Schule der Erfindung. Es zwingt sie zusammenzudrängen, zu dichten,
originell zu werden. Niemand hat diesen erzieherischen Segen der Lied¬
komposition besser erkannt als Beethoven, und gerade die knappste und ein¬
fachste Art des Liedes, das Lied der Berliner Schule, war es, dem er sich
ganz vorwiegend zuwandte. So lange aber die Liederflucht in den Kreisen
der Komponisten noch anhält, so lange durchkompvnirt, mit Recitativ und
Kantatenmaterial bei Gedichten gearbeitet wird, die das nach Bau und Inhalt
nicht erlauben, so lange wird auch der Abfall von Lied und Musik in den
Kreisen der hohen Bildung und in den Schichten des einfachen Volks weiter
gehen.

Noch in einem dritten Punkte zeigt sich das neueste Lied von Wagner
wesentlich beeinflußt. Das ist der innere Stil, insbesondre das Verhältnis


Das deutsche Lied seit dem Tode Richard Wagners

bestimmte Lied ins große Konzert eingeführt hat, beginnt sich zu rächen. Es
giebt noch Institute, die es für stillos halten, wenn nach einer Veethovenschen
Sinfonie die erregte, erweiterte Seele des fähigen Hörers in die idyllische
Nußschale eines Liedchens eingezwängt werden soll, aber sie kommen immer
mehr in die Minorität.

Zweitens aber steht dieses Abdrängen vom Lied in unverkennbarem
Zusammenhang mit der dämonischen Bewegung nach oben, die den größern
Teil der heutigen Menschheit erfaßt hat. Die, die nach alter Art sagen
dürfen: „Ich genüge mir in meinem Stande," geraten allmählich in die Rolle
des Sonderlings. Von allen Enden rufts nach Verbesserung oder Umsturz.
Hier Erhöhung von Lohn, wirtschaftlicher Lage, gesellschaftlicher Stellung,
dort das Ringen um höhere Kulturwertung der geistigen und künstlerischen
Arbeit. Wem Verse gelingen, der will nicht Dichter bleiben, sondern Religions-
stifter sein, den ausgezeichneten Radirer gelüstcts nach dein Ruhm eines neuen
Michelangelo, der Gänsemaler hält seine Bilder in Wand- und Mauerformat —
auch der Liederkomponist läßt merken, daß er zu höherm geboren ist. In
uicht bloß die Komponisten fühlen sich zum Teil über das Lied erhaben, auch
das Publikum gefällt sich in einer Geringschätzung wenigstens seiner ein¬
fachern und einfachsten Spielarten. Als vor kurzer Zeit der Schwede Scho-
lander mit seiner Laute durch Deutschland zog, alte naive aber volle Kunst
wieder belebend, da hat ihn die Aristokratie der Abonnementskonzerte ignorirt
und die hohe Kritik meistens unglimpflich behandelt. Man schwärmt wohl
von Rhapsoden, aber wenn sie leibhaftig wieder in die Gegenwart herein¬
treten, erkennt sie niemand. Diese Vornehmthuerei, dieser musikalische Carl
verschuldet es, daß die Musik des Volks, sich selbst überlassen, tief auf Ab¬
wege gerät, und daß die gesunden Keime, die in der Kunst unsrer Couplet¬
sänger und LlÄtvs vlumtimts zahlreich vorhanden sind, verderben. Die Wässer
werden sich wieder verlaufen; nach dieser Übergangsperiode werden sich unsre
Musiker wieder wohl fühlen im Liede. Es ist für sie eine unvergleichlich
gute Schule der Erfindung. Es zwingt sie zusammenzudrängen, zu dichten,
originell zu werden. Niemand hat diesen erzieherischen Segen der Lied¬
komposition besser erkannt als Beethoven, und gerade die knappste und ein¬
fachste Art des Liedes, das Lied der Berliner Schule, war es, dem er sich
ganz vorwiegend zuwandte. So lange aber die Liederflucht in den Kreisen
der Komponisten noch anhält, so lange durchkompvnirt, mit Recitativ und
Kantatenmaterial bei Gedichten gearbeitet wird, die das nach Bau und Inhalt
nicht erlauben, so lange wird auch der Abfall von Lied und Musik in den
Kreisen der hohen Bildung und in den Schichten des einfachen Volks weiter
gehen.

Noch in einem dritten Punkte zeigt sich das neueste Lied von Wagner
wesentlich beeinflußt. Das ist der innere Stil, insbesondre das Verhältnis


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[0542] Das deutsche Lied seit dem Tode Richard Wagners bestimmte Lied ins große Konzert eingeführt hat, beginnt sich zu rächen. Es giebt noch Institute, die es für stillos halten, wenn nach einer Veethovenschen Sinfonie die erregte, erweiterte Seele des fähigen Hörers in die idyllische Nußschale eines Liedchens eingezwängt werden soll, aber sie kommen immer mehr in die Minorität. Zweitens aber steht dieses Abdrängen vom Lied in unverkennbarem Zusammenhang mit der dämonischen Bewegung nach oben, die den größern Teil der heutigen Menschheit erfaßt hat. Die, die nach alter Art sagen dürfen: „Ich genüge mir in meinem Stande," geraten allmählich in die Rolle des Sonderlings. Von allen Enden rufts nach Verbesserung oder Umsturz. Hier Erhöhung von Lohn, wirtschaftlicher Lage, gesellschaftlicher Stellung, dort das Ringen um höhere Kulturwertung der geistigen und künstlerischen Arbeit. Wem Verse gelingen, der will nicht Dichter bleiben, sondern Religions- stifter sein, den ausgezeichneten Radirer gelüstcts nach dein Ruhm eines neuen Michelangelo, der Gänsemaler hält seine Bilder in Wand- und Mauerformat — auch der Liederkomponist läßt merken, daß er zu höherm geboren ist. In uicht bloß die Komponisten fühlen sich zum Teil über das Lied erhaben, auch das Publikum gefällt sich in einer Geringschätzung wenigstens seiner ein¬ fachern und einfachsten Spielarten. Als vor kurzer Zeit der Schwede Scho- lander mit seiner Laute durch Deutschland zog, alte naive aber volle Kunst wieder belebend, da hat ihn die Aristokratie der Abonnementskonzerte ignorirt und die hohe Kritik meistens unglimpflich behandelt. Man schwärmt wohl von Rhapsoden, aber wenn sie leibhaftig wieder in die Gegenwart herein¬ treten, erkennt sie niemand. Diese Vornehmthuerei, dieser musikalische Carl verschuldet es, daß die Musik des Volks, sich selbst überlassen, tief auf Ab¬ wege gerät, und daß die gesunden Keime, die in der Kunst unsrer Couplet¬ sänger und LlÄtvs vlumtimts zahlreich vorhanden sind, verderben. Die Wässer werden sich wieder verlaufen; nach dieser Übergangsperiode werden sich unsre Musiker wieder wohl fühlen im Liede. Es ist für sie eine unvergleichlich gute Schule der Erfindung. Es zwingt sie zusammenzudrängen, zu dichten, originell zu werden. Niemand hat diesen erzieherischen Segen der Lied¬ komposition besser erkannt als Beethoven, und gerade die knappste und ein¬ fachste Art des Liedes, das Lied der Berliner Schule, war es, dem er sich ganz vorwiegend zuwandte. So lange aber die Liederflucht in den Kreisen der Komponisten noch anhält, so lange durchkompvnirt, mit Recitativ und Kantatenmaterial bei Gedichten gearbeitet wird, die das nach Bau und Inhalt nicht erlauben, so lange wird auch der Abfall von Lied und Musik in den Kreisen der hohen Bildung und in den Schichten des einfachen Volks weiter gehen. Noch in einem dritten Punkte zeigt sich das neueste Lied von Wagner wesentlich beeinflußt. Das ist der innere Stil, insbesondre das Verhältnis

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/542>, abgerufen am 23.07.2024.