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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Das deutsche Lied seit dem Tode Richard Wagners

in die gegenwärtige Liedkomposition hineinragen, sind Adolf Imsen und
Johannes Brahms. Imsen, der 1879 starb, hat schon die Mitlebenden stärker
beeinflußt, als es dem Umfang und der Ausbildung seines Talents entsprach.
Wir werden aber seinen weichen Melodien und seinen pikant formelhaften
Harmonien noch lange begegnen. Denn es ruht Schönheit und Anmut darin;
damit und mit seiner halb unterdrückten Traurigkeit wirkt er auf die Jugend
ähnlich unwiderstehlich, wie Mendelssohn und Chopin gewirkt haben. Das
Herz und das Mitleid, das Geheimnis einer rätselhaften, nicht zu ihreni Recht
gekommnen Individualität, zieht immer wieder zu ihm hin, fast wie zu Goethes
"Mignon."

Auf ganz andern Ursachen ruht der Einfluß, den Vrahms auf die Lied¬
komposition unsrer Tage übt. Hat er ja auch bis vor kurzem noch zu uns
gehört, und gerade der Abend seines Lebens galt ganz vorwiegend dem Lied.
Imsen wird schwinden, Brahms aber wird, wenn mit irgend einem Teil
seiner Werke, so mit seinen Liedern bleiben. Denn sie gehören zur guten
Hälfte mit zum besten Ertrage, den deutsche Musik, deutsche Kunst überhaupt
im neunzehnten Jahrhundert geboten hat. Gesänge wie die "Maggellone-
romanzen" hat diese vorher nicht gehabt und wird sie nicht wieder bekommen.
Denn Brahms, so viele es jetzt auch auf allen Gebiete" versuchen, ist schwer
nachzumachen, und es ist kein Glück und kein Vorteil, wenn seinesgleichen zur
Regel wird. Im Lied ganz besonders ist der weitere Einfluß von Brahms
viel eher zu fürchten, als zu wünschen. Denn Brahms war wie alle die
großen Individualitäten unter den Licderkomponisten der letzten Generation
Romantiker, war ausgesprochen subjektiv. Wie bei Imsen die Empfindsamkeit,
bei Robert Franz der wuchtige Ernst allen Kompositionen den individuellen
Stempel aufdrückt, so kehrt Brahms in den meisten Liedern und Gesängen
den Tiefsinn hervor. Deshalb sind diese Männer, unbeschadet des Werth ihrer
Gesangskompositioncn, zu Mustern nicht geeignet. Am ehesten noch Robert
Franz, der aber die geringste Nachfolge gefunden hat; am wenigsten Johannes
Brahms.

Der subjektive Zug, die Neigung zum Pathos und zum Erhabnen macht
auch Richard Wagner zu einer Gefahr für die Liedkomposition. Außer einigen
Walkürenbässen, die bei Philipp Graf zu Eulenburg begegnen, beschränken
sich die direkten Spuren Wagners im neusten Lied auf Anklänge aus den
"Meistersingern" und aus "Triften," den beiden Werken, die sich schon in der
vorhergehenden Periode am meisten oder ausschließlich bemerklich machen.
Bleibt es beim Anlehnen an die "Meistersinger," so giebt das in den Liedern
häufig eine übertrieben geschäftige Begleitung, aber ebenso oft einen wohl¬
thuend muntern oder kräftigen Ton. Die Tristanmotive hingegen richten im
Liede bedenklicheres Unheil an. Sie und die breiten Brahmsschritte immer
wieder von Unbefugter nachgeahmt zu finden, wirkt beim Studium des neuen


Das deutsche Lied seit dem Tode Richard Wagners

in die gegenwärtige Liedkomposition hineinragen, sind Adolf Imsen und
Johannes Brahms. Imsen, der 1879 starb, hat schon die Mitlebenden stärker
beeinflußt, als es dem Umfang und der Ausbildung seines Talents entsprach.
Wir werden aber seinen weichen Melodien und seinen pikant formelhaften
Harmonien noch lange begegnen. Denn es ruht Schönheit und Anmut darin;
damit und mit seiner halb unterdrückten Traurigkeit wirkt er auf die Jugend
ähnlich unwiderstehlich, wie Mendelssohn und Chopin gewirkt haben. Das
Herz und das Mitleid, das Geheimnis einer rätselhaften, nicht zu ihreni Recht
gekommnen Individualität, zieht immer wieder zu ihm hin, fast wie zu Goethes
„Mignon."

Auf ganz andern Ursachen ruht der Einfluß, den Vrahms auf die Lied¬
komposition unsrer Tage übt. Hat er ja auch bis vor kurzem noch zu uns
gehört, und gerade der Abend seines Lebens galt ganz vorwiegend dem Lied.
Imsen wird schwinden, Brahms aber wird, wenn mit irgend einem Teil
seiner Werke, so mit seinen Liedern bleiben. Denn sie gehören zur guten
Hälfte mit zum besten Ertrage, den deutsche Musik, deutsche Kunst überhaupt
im neunzehnten Jahrhundert geboten hat. Gesänge wie die „Maggellone-
romanzen" hat diese vorher nicht gehabt und wird sie nicht wieder bekommen.
Denn Brahms, so viele es jetzt auch auf allen Gebiete» versuchen, ist schwer
nachzumachen, und es ist kein Glück und kein Vorteil, wenn seinesgleichen zur
Regel wird. Im Lied ganz besonders ist der weitere Einfluß von Brahms
viel eher zu fürchten, als zu wünschen. Denn Brahms war wie alle die
großen Individualitäten unter den Licderkomponisten der letzten Generation
Romantiker, war ausgesprochen subjektiv. Wie bei Imsen die Empfindsamkeit,
bei Robert Franz der wuchtige Ernst allen Kompositionen den individuellen
Stempel aufdrückt, so kehrt Brahms in den meisten Liedern und Gesängen
den Tiefsinn hervor. Deshalb sind diese Männer, unbeschadet des Werth ihrer
Gesangskompositioncn, zu Mustern nicht geeignet. Am ehesten noch Robert
Franz, der aber die geringste Nachfolge gefunden hat; am wenigsten Johannes
Brahms.

Der subjektive Zug, die Neigung zum Pathos und zum Erhabnen macht
auch Richard Wagner zu einer Gefahr für die Liedkomposition. Außer einigen
Walkürenbässen, die bei Philipp Graf zu Eulenburg begegnen, beschränken
sich die direkten Spuren Wagners im neusten Lied auf Anklänge aus den
„Meistersingern" und aus „Triften," den beiden Werken, die sich schon in der
vorhergehenden Periode am meisten oder ausschließlich bemerklich machen.
Bleibt es beim Anlehnen an die „Meistersinger," so giebt das in den Liedern
häufig eine übertrieben geschäftige Begleitung, aber ebenso oft einen wohl¬
thuend muntern oder kräftigen Ton. Die Tristanmotive hingegen richten im
Liede bedenklicheres Unheil an. Sie und die breiten Brahmsschritte immer
wieder von Unbefugter nachgeahmt zu finden, wirkt beim Studium des neuen


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[0540] Das deutsche Lied seit dem Tode Richard Wagners in die gegenwärtige Liedkomposition hineinragen, sind Adolf Imsen und Johannes Brahms. Imsen, der 1879 starb, hat schon die Mitlebenden stärker beeinflußt, als es dem Umfang und der Ausbildung seines Talents entsprach. Wir werden aber seinen weichen Melodien und seinen pikant formelhaften Harmonien noch lange begegnen. Denn es ruht Schönheit und Anmut darin; damit und mit seiner halb unterdrückten Traurigkeit wirkt er auf die Jugend ähnlich unwiderstehlich, wie Mendelssohn und Chopin gewirkt haben. Das Herz und das Mitleid, das Geheimnis einer rätselhaften, nicht zu ihreni Recht gekommnen Individualität, zieht immer wieder zu ihm hin, fast wie zu Goethes „Mignon." Auf ganz andern Ursachen ruht der Einfluß, den Vrahms auf die Lied¬ komposition unsrer Tage übt. Hat er ja auch bis vor kurzem noch zu uns gehört, und gerade der Abend seines Lebens galt ganz vorwiegend dem Lied. Imsen wird schwinden, Brahms aber wird, wenn mit irgend einem Teil seiner Werke, so mit seinen Liedern bleiben. Denn sie gehören zur guten Hälfte mit zum besten Ertrage, den deutsche Musik, deutsche Kunst überhaupt im neunzehnten Jahrhundert geboten hat. Gesänge wie die „Maggellone- romanzen" hat diese vorher nicht gehabt und wird sie nicht wieder bekommen. Denn Brahms, so viele es jetzt auch auf allen Gebiete» versuchen, ist schwer nachzumachen, und es ist kein Glück und kein Vorteil, wenn seinesgleichen zur Regel wird. Im Lied ganz besonders ist der weitere Einfluß von Brahms viel eher zu fürchten, als zu wünschen. Denn Brahms war wie alle die großen Individualitäten unter den Licderkomponisten der letzten Generation Romantiker, war ausgesprochen subjektiv. Wie bei Imsen die Empfindsamkeit, bei Robert Franz der wuchtige Ernst allen Kompositionen den individuellen Stempel aufdrückt, so kehrt Brahms in den meisten Liedern und Gesängen den Tiefsinn hervor. Deshalb sind diese Männer, unbeschadet des Werth ihrer Gesangskompositioncn, zu Mustern nicht geeignet. Am ehesten noch Robert Franz, der aber die geringste Nachfolge gefunden hat; am wenigsten Johannes Brahms. Der subjektive Zug, die Neigung zum Pathos und zum Erhabnen macht auch Richard Wagner zu einer Gefahr für die Liedkomposition. Außer einigen Walkürenbässen, die bei Philipp Graf zu Eulenburg begegnen, beschränken sich die direkten Spuren Wagners im neusten Lied auf Anklänge aus den „Meistersingern" und aus „Triften," den beiden Werken, die sich schon in der vorhergehenden Periode am meisten oder ausschließlich bemerklich machen. Bleibt es beim Anlehnen an die „Meistersinger," so giebt das in den Liedern häufig eine übertrieben geschäftige Begleitung, aber ebenso oft einen wohl¬ thuend muntern oder kräftigen Ton. Die Tristanmotive hingegen richten im Liede bedenklicheres Unheil an. Sie und die breiten Brahmsschritte immer wieder von Unbefugter nachgeahmt zu finden, wirkt beim Studium des neuen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/540>, abgerufen am 23.07.2024.