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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Das deutsche Lied seit dem Tode Richard Wagners

Sorgfalt über unserm Lied zu wachen, auf die es durch seine Vergangenheit
Anspruch hat.

Keineswegs ist den andern Völkern Lied und Liedgesang fremd: der
Italiener hat seine Liebeslieder und Kanzonen, der Franzose Trinklieder und
Couplets, der Engländer seine Balladen, Skandinavier und Slawen sind reich
an Tanzliedern von mannigfaltiger und eigentümlicher Schönheit. Aber eine
gleiche Bedeutung wie in Deutschland hat das Lied in keinem zweiten Lande
gehabt, nirgends hat es so vollständig die Herzensgeschichte des Volkes er¬
zählt. Das Höchste und Teuerste, was der Deutsche seit Jahrhunderten ge¬
fühlt und gedacht hat: Religion, Vaterland, Heimat, Elternhaus, Freund¬
schaft -- das lebt in seinem Liede so gut wie die kleinen Sorgen und Freuden
des Tagewerks, wie die Heimlichkeiten des Familienlebens, wie die Träume
und Gestalten seiner Phantasie. Sage und Wirklichkeit, Himmel, Erde und
Hölle -- alles zieht der Deutsche in den Bereich seines Liedes; es ist er¬
haben, ernst, aber ebensogut auch lustig und ausgelassen, frei von jeder Ein¬
seitigkeit, wenn auch die Gemütssaite besonders vorklingt. Das Lied ist
jahrhundertelang eine starke Stütze unsrer politischen und unsrer geistigen
Einheit gewesen. Es fesselt die höhere, aber lockt und hebt auch zugleich die
bescheidnere Bildung; es ist als Vildungsmittel und Kulturbcmd kaum zu
ersetzen.

In dieser Bedeutung hat namentlich das achtzehnte Jahrhundert das
deutsche Lied aufgefaßt. Alle Richtungen in Dichtung und Komposition gingen
damals immer wieder darauf hinaus, das Lied so volkstümlich als möglich zu
gestalten, und die sogenannte Berliner Schule hat, durch I. A. Hillers Ein¬
greifen auf festen Boden gestellt, dieses Ziel in glänzender Weise, mit einer
Nachhaltigkeit erreicht, die bis nahe an die Gegenwart heran zu spüren war.
Die Lust am Lied wuchs fast bis zur Ausartung: es war die Zeit, wo
schließlich jeder Stand für sich seine eignen Lieder haben wollte. Längst ist
diese Hochflut wieder in die natürlichen Dämme zurückgekehrt; schon hat eine
Periode der Trockenheit eingesetzt. Das Lied nimmt heute in dem geistigen
Haushalt des Volkes nicht die gebührende Stellung ein: es wird von oben
und von unten vernachlässigt.

Unser deutsches Lied ist eigentlich ein Studentenkind! Heinrich Albert,
mit dem die Geschichte des neuern deutschen Liedes beginnt, hatte die Leipziger
Pandektensäle noch nicht so lange hinter sich, als er in Königsberg unter die


Musikbibliothek Peters" ab. Er wird unsern Lesern sehr willkommen sein, da er sich um frühere
Aufsätze Kretzschmars, die in den Grenzboten erschienen sind, anschließt und sie ergänzt. Wir
weisen dabei unsre Leser auf das Jahrbuch hin, das von Hermann Vogel redigirt wird und
wertvolle Beiträge über musikalische Dinge bringt. Unter unteren enthält der jetzt erschienene
vierte Jahrgang auch einen weitern Aufsatz von Kretzschmnr über die musikalischen Bücher des
Jahres >8!>7.
Das deutsche Lied seit dem Tode Richard Wagners

Sorgfalt über unserm Lied zu wachen, auf die es durch seine Vergangenheit
Anspruch hat.

Keineswegs ist den andern Völkern Lied und Liedgesang fremd: der
Italiener hat seine Liebeslieder und Kanzonen, der Franzose Trinklieder und
Couplets, der Engländer seine Balladen, Skandinavier und Slawen sind reich
an Tanzliedern von mannigfaltiger und eigentümlicher Schönheit. Aber eine
gleiche Bedeutung wie in Deutschland hat das Lied in keinem zweiten Lande
gehabt, nirgends hat es so vollständig die Herzensgeschichte des Volkes er¬
zählt. Das Höchste und Teuerste, was der Deutsche seit Jahrhunderten ge¬
fühlt und gedacht hat: Religion, Vaterland, Heimat, Elternhaus, Freund¬
schaft — das lebt in seinem Liede so gut wie die kleinen Sorgen und Freuden
des Tagewerks, wie die Heimlichkeiten des Familienlebens, wie die Träume
und Gestalten seiner Phantasie. Sage und Wirklichkeit, Himmel, Erde und
Hölle — alles zieht der Deutsche in den Bereich seines Liedes; es ist er¬
haben, ernst, aber ebensogut auch lustig und ausgelassen, frei von jeder Ein¬
seitigkeit, wenn auch die Gemütssaite besonders vorklingt. Das Lied ist
jahrhundertelang eine starke Stütze unsrer politischen und unsrer geistigen
Einheit gewesen. Es fesselt die höhere, aber lockt und hebt auch zugleich die
bescheidnere Bildung; es ist als Vildungsmittel und Kulturbcmd kaum zu
ersetzen.

In dieser Bedeutung hat namentlich das achtzehnte Jahrhundert das
deutsche Lied aufgefaßt. Alle Richtungen in Dichtung und Komposition gingen
damals immer wieder darauf hinaus, das Lied so volkstümlich als möglich zu
gestalten, und die sogenannte Berliner Schule hat, durch I. A. Hillers Ein¬
greifen auf festen Boden gestellt, dieses Ziel in glänzender Weise, mit einer
Nachhaltigkeit erreicht, die bis nahe an die Gegenwart heran zu spüren war.
Die Lust am Lied wuchs fast bis zur Ausartung: es war die Zeit, wo
schließlich jeder Stand für sich seine eignen Lieder haben wollte. Längst ist
diese Hochflut wieder in die natürlichen Dämme zurückgekehrt; schon hat eine
Periode der Trockenheit eingesetzt. Das Lied nimmt heute in dem geistigen
Haushalt des Volkes nicht die gebührende Stellung ein: es wird von oben
und von unten vernachlässigt.

Unser deutsches Lied ist eigentlich ein Studentenkind! Heinrich Albert,
mit dem die Geschichte des neuern deutschen Liedes beginnt, hatte die Leipziger
Pandektensäle noch nicht so lange hinter sich, als er in Königsberg unter die


Musikbibliothek Peters" ab. Er wird unsern Lesern sehr willkommen sein, da er sich um frühere
Aufsätze Kretzschmars, die in den Grenzboten erschienen sind, anschließt und sie ergänzt. Wir
weisen dabei unsre Leser auf das Jahrbuch hin, das von Hermann Vogel redigirt wird und
wertvolle Beiträge über musikalische Dinge bringt. Unter unteren enthält der jetzt erschienene
vierte Jahrgang auch einen weitern Aufsatz von Kretzschmnr über die musikalischen Bücher des
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[0538] Das deutsche Lied seit dem Tode Richard Wagners Sorgfalt über unserm Lied zu wachen, auf die es durch seine Vergangenheit Anspruch hat. Keineswegs ist den andern Völkern Lied und Liedgesang fremd: der Italiener hat seine Liebeslieder und Kanzonen, der Franzose Trinklieder und Couplets, der Engländer seine Balladen, Skandinavier und Slawen sind reich an Tanzliedern von mannigfaltiger und eigentümlicher Schönheit. Aber eine gleiche Bedeutung wie in Deutschland hat das Lied in keinem zweiten Lande gehabt, nirgends hat es so vollständig die Herzensgeschichte des Volkes er¬ zählt. Das Höchste und Teuerste, was der Deutsche seit Jahrhunderten ge¬ fühlt und gedacht hat: Religion, Vaterland, Heimat, Elternhaus, Freund¬ schaft — das lebt in seinem Liede so gut wie die kleinen Sorgen und Freuden des Tagewerks, wie die Heimlichkeiten des Familienlebens, wie die Träume und Gestalten seiner Phantasie. Sage und Wirklichkeit, Himmel, Erde und Hölle — alles zieht der Deutsche in den Bereich seines Liedes; es ist er¬ haben, ernst, aber ebensogut auch lustig und ausgelassen, frei von jeder Ein¬ seitigkeit, wenn auch die Gemütssaite besonders vorklingt. Das Lied ist jahrhundertelang eine starke Stütze unsrer politischen und unsrer geistigen Einheit gewesen. Es fesselt die höhere, aber lockt und hebt auch zugleich die bescheidnere Bildung; es ist als Vildungsmittel und Kulturbcmd kaum zu ersetzen. In dieser Bedeutung hat namentlich das achtzehnte Jahrhundert das deutsche Lied aufgefaßt. Alle Richtungen in Dichtung und Komposition gingen damals immer wieder darauf hinaus, das Lied so volkstümlich als möglich zu gestalten, und die sogenannte Berliner Schule hat, durch I. A. Hillers Ein¬ greifen auf festen Boden gestellt, dieses Ziel in glänzender Weise, mit einer Nachhaltigkeit erreicht, die bis nahe an die Gegenwart heran zu spüren war. Die Lust am Lied wuchs fast bis zur Ausartung: es war die Zeit, wo schließlich jeder Stand für sich seine eignen Lieder haben wollte. Längst ist diese Hochflut wieder in die natürlichen Dämme zurückgekehrt; schon hat eine Periode der Trockenheit eingesetzt. Das Lied nimmt heute in dem geistigen Haushalt des Volkes nicht die gebührende Stellung ein: es wird von oben und von unten vernachlässigt. Unser deutsches Lied ist eigentlich ein Studentenkind! Heinrich Albert, mit dem die Geschichte des neuern deutschen Liedes beginnt, hatte die Leipziger Pandektensäle noch nicht so lange hinter sich, als er in Königsberg unter die Musikbibliothek Peters" ab. Er wird unsern Lesern sehr willkommen sein, da er sich um frühere Aufsätze Kretzschmars, die in den Grenzboten erschienen sind, anschließt und sie ergänzt. Wir weisen dabei unsre Leser auf das Jahrbuch hin, das von Hermann Vogel redigirt wird und wertvolle Beiträge über musikalische Dinge bringt. Unter unteren enthält der jetzt erschienene vierte Jahrgang auch einen weitern Aufsatz von Kretzschmnr über die musikalischen Bücher des Jahres >8!>7.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/538>, abgerufen am 23.07.2024.