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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Neues zur Litteratur über Dante

Dantes äußern Lebensverhältnissen unverständlich gewesen wäre, eine neue
Lebensbeschreibung, mit Berücksichtigung des heutigen Standes der Forschung,
aber auch mit scharf eindringender, vor keinen Folgen zurückschreckender Kritik
zu liefern. Das erschien ihm auch nach dem vortrefflichen biographisch-histo¬
rischen Werke Wegeles und nach dem Dantehandbuch Scartazzinis als keine
überflüssige Arbeit, weil er sich bewußt war, nicht nur manches neue beibringen,
manche neue Ausblicke eröffnen zu können, sondern auch weil es die höchste
Zeit war, mit allen tief eingewurzelten Irrtümern und Fabeln aufzuräumen,
die allmählich die geschichtliche Persönlichkeit Dantes zu einer sagenhaften Er¬
scheinung gemacht hatten.

Bei dieser scharfen Sonderung zwischen beglaubigten und unbeglaubigten
Überlieferungen, bei dem Vergleich des urkundlichen Materials mit diesen Über¬
lieferungen und den Darstellungen der ältesten Biographen Dantes ist freilich
an rein lebensgeschichtlicher Nachrichten, die als zuverlässig befunden worden
sind, nicht viel übrig geblieben. Was das Gegenständliche in Dantes Leben
anbelangt, so hat Kraus mehr zerstört als aufgebaut. Aber er wollte ja die
Seelengeschichte Dantes möglichst unverfälscht durch spätere, fremdartige Zu¬
thaten erzählen, und dazu mußte er sich zuvor alles Ballastes entledigen, der
die ursprünglichen Züge entstellt hat. Da er gefunden hat, daß die geistige
Physiognomie des Dichters Züge enthält, die deutsche Einflüsse verraten, hat
er auch der Entdeckung Leos, daß Dantes Beinamen, der wohl ursprünglich
Aldigherius, d. h. Glanz des Zeitalters, gelautet hat, germanisch ist, ein be¬
sondres Gewicht beigelegt. In der That hat Dante als Politiker Ideale vor
Angen gehabt, die die Geschichte der spätern Jahrhunderte als spezifisch ger¬
manisch erwiesen hat. Selbst sein Gedanke einer Universalmonarchie und eines
ununterbrochnem Fortbestehens des römisch-germanischen Reichs hat noch bis in
die neueste Zeit am meisten in deutschen Köpfen herumgespukt, und ab und zu
taucht er noch heute in Flugschriften auf, mit denen phantastische Flachköpfe die
Welt zu beglücken vermeinen. Also schon hierin hat Kraus recht, wenn er sagt,
daß die Wirkung Dantes weit über seine Zeit hinaus bis in die Gegenwart und
in die Zukunft reicht, und daß mau ihn sogar den "kommenden Mann des
zwanzigsten Jahrhunderts" nennen kann. Darauf hätte Dante um freilich
keinen Anspruch, wenn er bloß Phantast, nicht auch Realpolitiker gewesen
wäre. Dies mit großem Scharfsinn erkannt und formulirt zu haben, ist
vielleicht das größte Verdienst, das sich Kraus in den Augen der Dantekenner
erworben haben mag. Er hat sicherlich nichts hineingedeutet, wenn er aus
den Werken Dantes die Überzeugung gewonnen hat, daß Dante zuerst die Be¬
deutung und den sittlichen Wert des modernen Kulturstaats, den Vorzug der
Monarchie vor allen andern Regierungsformen erkannt und -- was wohl das
Überraschendste ist -- für Italien "den nationalen Gedanken zuerst erfaßt
und damit der ganzen nationalen Entwicklung die Wege gezeigt" hat. Seine


Neues zur Litteratur über Dante

Dantes äußern Lebensverhältnissen unverständlich gewesen wäre, eine neue
Lebensbeschreibung, mit Berücksichtigung des heutigen Standes der Forschung,
aber auch mit scharf eindringender, vor keinen Folgen zurückschreckender Kritik
zu liefern. Das erschien ihm auch nach dem vortrefflichen biographisch-histo¬
rischen Werke Wegeles und nach dem Dantehandbuch Scartazzinis als keine
überflüssige Arbeit, weil er sich bewußt war, nicht nur manches neue beibringen,
manche neue Ausblicke eröffnen zu können, sondern auch weil es die höchste
Zeit war, mit allen tief eingewurzelten Irrtümern und Fabeln aufzuräumen,
die allmählich die geschichtliche Persönlichkeit Dantes zu einer sagenhaften Er¬
scheinung gemacht hatten.

Bei dieser scharfen Sonderung zwischen beglaubigten und unbeglaubigten
Überlieferungen, bei dem Vergleich des urkundlichen Materials mit diesen Über¬
lieferungen und den Darstellungen der ältesten Biographen Dantes ist freilich
an rein lebensgeschichtlicher Nachrichten, die als zuverlässig befunden worden
sind, nicht viel übrig geblieben. Was das Gegenständliche in Dantes Leben
anbelangt, so hat Kraus mehr zerstört als aufgebaut. Aber er wollte ja die
Seelengeschichte Dantes möglichst unverfälscht durch spätere, fremdartige Zu¬
thaten erzählen, und dazu mußte er sich zuvor alles Ballastes entledigen, der
die ursprünglichen Züge entstellt hat. Da er gefunden hat, daß die geistige
Physiognomie des Dichters Züge enthält, die deutsche Einflüsse verraten, hat
er auch der Entdeckung Leos, daß Dantes Beinamen, der wohl ursprünglich
Aldigherius, d. h. Glanz des Zeitalters, gelautet hat, germanisch ist, ein be¬
sondres Gewicht beigelegt. In der That hat Dante als Politiker Ideale vor
Angen gehabt, die die Geschichte der spätern Jahrhunderte als spezifisch ger¬
manisch erwiesen hat. Selbst sein Gedanke einer Universalmonarchie und eines
ununterbrochnem Fortbestehens des römisch-germanischen Reichs hat noch bis in
die neueste Zeit am meisten in deutschen Köpfen herumgespukt, und ab und zu
taucht er noch heute in Flugschriften auf, mit denen phantastische Flachköpfe die
Welt zu beglücken vermeinen. Also schon hierin hat Kraus recht, wenn er sagt,
daß die Wirkung Dantes weit über seine Zeit hinaus bis in die Gegenwart und
in die Zukunft reicht, und daß mau ihn sogar den „kommenden Mann des
zwanzigsten Jahrhunderts" nennen kann. Darauf hätte Dante um freilich
keinen Anspruch, wenn er bloß Phantast, nicht auch Realpolitiker gewesen
wäre. Dies mit großem Scharfsinn erkannt und formulirt zu haben, ist
vielleicht das größte Verdienst, das sich Kraus in den Augen der Dantekenner
erworben haben mag. Er hat sicherlich nichts hineingedeutet, wenn er aus
den Werken Dantes die Überzeugung gewonnen hat, daß Dante zuerst die Be¬
deutung und den sittlichen Wert des modernen Kulturstaats, den Vorzug der
Monarchie vor allen andern Regierungsformen erkannt und — was wohl das
Überraschendste ist — für Italien „den nationalen Gedanken zuerst erfaßt
und damit der ganzen nationalen Entwicklung die Wege gezeigt" hat. Seine


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[0500] Neues zur Litteratur über Dante Dantes äußern Lebensverhältnissen unverständlich gewesen wäre, eine neue Lebensbeschreibung, mit Berücksichtigung des heutigen Standes der Forschung, aber auch mit scharf eindringender, vor keinen Folgen zurückschreckender Kritik zu liefern. Das erschien ihm auch nach dem vortrefflichen biographisch-histo¬ rischen Werke Wegeles und nach dem Dantehandbuch Scartazzinis als keine überflüssige Arbeit, weil er sich bewußt war, nicht nur manches neue beibringen, manche neue Ausblicke eröffnen zu können, sondern auch weil es die höchste Zeit war, mit allen tief eingewurzelten Irrtümern und Fabeln aufzuräumen, die allmählich die geschichtliche Persönlichkeit Dantes zu einer sagenhaften Er¬ scheinung gemacht hatten. Bei dieser scharfen Sonderung zwischen beglaubigten und unbeglaubigten Überlieferungen, bei dem Vergleich des urkundlichen Materials mit diesen Über¬ lieferungen und den Darstellungen der ältesten Biographen Dantes ist freilich an rein lebensgeschichtlicher Nachrichten, die als zuverlässig befunden worden sind, nicht viel übrig geblieben. Was das Gegenständliche in Dantes Leben anbelangt, so hat Kraus mehr zerstört als aufgebaut. Aber er wollte ja die Seelengeschichte Dantes möglichst unverfälscht durch spätere, fremdartige Zu¬ thaten erzählen, und dazu mußte er sich zuvor alles Ballastes entledigen, der die ursprünglichen Züge entstellt hat. Da er gefunden hat, daß die geistige Physiognomie des Dichters Züge enthält, die deutsche Einflüsse verraten, hat er auch der Entdeckung Leos, daß Dantes Beinamen, der wohl ursprünglich Aldigherius, d. h. Glanz des Zeitalters, gelautet hat, germanisch ist, ein be¬ sondres Gewicht beigelegt. In der That hat Dante als Politiker Ideale vor Angen gehabt, die die Geschichte der spätern Jahrhunderte als spezifisch ger¬ manisch erwiesen hat. Selbst sein Gedanke einer Universalmonarchie und eines ununterbrochnem Fortbestehens des römisch-germanischen Reichs hat noch bis in die neueste Zeit am meisten in deutschen Köpfen herumgespukt, und ab und zu taucht er noch heute in Flugschriften auf, mit denen phantastische Flachköpfe die Welt zu beglücken vermeinen. Also schon hierin hat Kraus recht, wenn er sagt, daß die Wirkung Dantes weit über seine Zeit hinaus bis in die Gegenwart und in die Zukunft reicht, und daß mau ihn sogar den „kommenden Mann des zwanzigsten Jahrhunderts" nennen kann. Darauf hätte Dante um freilich keinen Anspruch, wenn er bloß Phantast, nicht auch Realpolitiker gewesen wäre. Dies mit großem Scharfsinn erkannt und formulirt zu haben, ist vielleicht das größte Verdienst, das sich Kraus in den Augen der Dantekenner erworben haben mag. Er hat sicherlich nichts hineingedeutet, wenn er aus den Werken Dantes die Überzeugung gewonnen hat, daß Dante zuerst die Be¬ deutung und den sittlichen Wert des modernen Kulturstaats, den Vorzug der Monarchie vor allen andern Regierungsformen erkannt und — was wohl das Überraschendste ist — für Italien „den nationalen Gedanken zuerst erfaßt und damit der ganzen nationalen Entwicklung die Wege gezeigt" hat. Seine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/500>, abgerufen am 23.07.2024.