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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Neues zur Litteratur über Dante

wohl erhaltnen Schloß und Städtchen von Verruechio und an den Trümmern
andrer Burgen der Malatesta. Schon hier charakterisirt sich die Gegend durch
die auffallend scharfen Bergkuppen, die den Feudalherren willkommne Platze für
ihre Kastelle boten. . . . Nach fünf Stunden bei Pietra Cruda, dem "rauhen
Stein," wie es treffend heißt, biegt unsre Straße links südlich ab in das Thal
des Nebenflüßchens Masoco und steigt dann am breiten Westhang dieses Thals
in langen Schleifen hinauf. Wenn wir die Höhe erreicht haben, steht bei der
letzten scharfen Biegung nach rechts plötzlich der Fels von San Leo uns
gegenüber. Ein überraschendes Bild. Wir sind im Bogen wieder in das
Marecchiathal gelangt. Gegen dieses vorgeschoben ragt der mächtige Block
scheinbar unersteiglich vor uns auf, und dieser Eindruck wird dadurch noch
verstärkt, daß man rechts und links an ihm vorbei fern in das Flußthal
hinabsieht. Auf der uns zugekehrten Ostseite fällt der Stein vollkommen senk¬
recht ab, hier ist der höchste Punkt, und dieser Teil trügt das gewaltige
Kastell. . . . Von diesem Eckpfeiler laufen die schroffen Wände nach Norden
und Westen, und nach seinem Fuß hinüber senkt sich von dem Punkt, wo wir
zuerst des Felsens ansichtig geworden, unsre Straße, um dann von der Süd¬
seite des Klotzes hin nach dem Städtchen hinauszuziehen, das, von der Höhe
des Klosters überragt, die nach Westen etwas geneigte und nach allen Seiten
steil abfallende Oberflüche des Felsens einnimmt. . . . Eine Ähnlichkeit, wie
sie größer kaum denkbar ist, besteht zwischen San Leo und dem andern von
Dante genannten Gipfel, der Pietra Bismantova. Sie ist etwa sieben Stunden
südlich von Reggio-Emilia dicht bei Castelnuovo ne' Monti an der großen
Heerstraße gelegen, die von der Via Emilia durch die Apenninen nach der
Lunigiana führt. Auch hier zeigt sich uns auf dem Hinweg schon, gleichsam
wie vorbereitend, ein Berg von verwandter Form, der berühmte Fels von
Canossa, der auf eine weite Strecke das ganze Landschaftsbild dominirt. Etwa
eine Stunde, ehe man Castelnuovo erreicht, wird, wieder bei einer Biegung
der Straße, die Pietra Bismantova plötzlich sichtbar. Ihre Gestalt ist viel¬
leicht noch überraschender, aber doch von dem gleichen Charakter wie die von
San Leo. Mitten aus dem Thal ragt, nach allen Seiten frei, der gewaltige
Stein, den der breite Kegel von Matten, Laubholz und Geröllhalden, auf dem
er sitzt, noch mächtiger heraushebt. Die allenthalben senkrecht und gleichmäßig
abfallenden Wände, die nur nach Norden etwas niederer werden, bedingen es,
daß der Fels an seinem Gipfel fast die gleiche Ausdehnung hat wie an seinem
Fuß, und die völlige Kahlheit erhöht noch den Eindruck einer mathematischen
Figur."

Es wird nicht an Leuten fehlen, die diese Art, uns das Verständnis der
Dantischen Naturschilderungen zu erschließen, als umständlich und pedantisch
erklären werden. Aber ohne solche Kommentare sind den Lesern Dantes
^ viele giebt es ohnehin nicht mehr -- viele Hunderte von Terzinen ein


Grenzboten II Z808 W
Neues zur Litteratur über Dante

wohl erhaltnen Schloß und Städtchen von Verruechio und an den Trümmern
andrer Burgen der Malatesta. Schon hier charakterisirt sich die Gegend durch
die auffallend scharfen Bergkuppen, die den Feudalherren willkommne Platze für
ihre Kastelle boten. . . . Nach fünf Stunden bei Pietra Cruda, dem »rauhen
Stein,« wie es treffend heißt, biegt unsre Straße links südlich ab in das Thal
des Nebenflüßchens Masoco und steigt dann am breiten Westhang dieses Thals
in langen Schleifen hinauf. Wenn wir die Höhe erreicht haben, steht bei der
letzten scharfen Biegung nach rechts plötzlich der Fels von San Leo uns
gegenüber. Ein überraschendes Bild. Wir sind im Bogen wieder in das
Marecchiathal gelangt. Gegen dieses vorgeschoben ragt der mächtige Block
scheinbar unersteiglich vor uns auf, und dieser Eindruck wird dadurch noch
verstärkt, daß man rechts und links an ihm vorbei fern in das Flußthal
hinabsieht. Auf der uns zugekehrten Ostseite fällt der Stein vollkommen senk¬
recht ab, hier ist der höchste Punkt, und dieser Teil trügt das gewaltige
Kastell. . . . Von diesem Eckpfeiler laufen die schroffen Wände nach Norden
und Westen, und nach seinem Fuß hinüber senkt sich von dem Punkt, wo wir
zuerst des Felsens ansichtig geworden, unsre Straße, um dann von der Süd¬
seite des Klotzes hin nach dem Städtchen hinauszuziehen, das, von der Höhe
des Klosters überragt, die nach Westen etwas geneigte und nach allen Seiten
steil abfallende Oberflüche des Felsens einnimmt. . . . Eine Ähnlichkeit, wie
sie größer kaum denkbar ist, besteht zwischen San Leo und dem andern von
Dante genannten Gipfel, der Pietra Bismantova. Sie ist etwa sieben Stunden
südlich von Reggio-Emilia dicht bei Castelnuovo ne' Monti an der großen
Heerstraße gelegen, die von der Via Emilia durch die Apenninen nach der
Lunigiana führt. Auch hier zeigt sich uns auf dem Hinweg schon, gleichsam
wie vorbereitend, ein Berg von verwandter Form, der berühmte Fels von
Canossa, der auf eine weite Strecke das ganze Landschaftsbild dominirt. Etwa
eine Stunde, ehe man Castelnuovo erreicht, wird, wieder bei einer Biegung
der Straße, die Pietra Bismantova plötzlich sichtbar. Ihre Gestalt ist viel¬
leicht noch überraschender, aber doch von dem gleichen Charakter wie die von
San Leo. Mitten aus dem Thal ragt, nach allen Seiten frei, der gewaltige
Stein, den der breite Kegel von Matten, Laubholz und Geröllhalden, auf dem
er sitzt, noch mächtiger heraushebt. Die allenthalben senkrecht und gleichmäßig
abfallenden Wände, die nur nach Norden etwas niederer werden, bedingen es,
daß der Fels an seinem Gipfel fast die gleiche Ausdehnung hat wie an seinem
Fuß, und die völlige Kahlheit erhöht noch den Eindruck einer mathematischen
Figur."

Es wird nicht an Leuten fehlen, die diese Art, uns das Verständnis der
Dantischen Naturschilderungen zu erschließen, als umständlich und pedantisch
erklären werden. Aber ohne solche Kommentare sind den Lesern Dantes
^ viele giebt es ohnehin nicht mehr — viele Hunderte von Terzinen ein


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[0497] Neues zur Litteratur über Dante wohl erhaltnen Schloß und Städtchen von Verruechio und an den Trümmern andrer Burgen der Malatesta. Schon hier charakterisirt sich die Gegend durch die auffallend scharfen Bergkuppen, die den Feudalherren willkommne Platze für ihre Kastelle boten. . . . Nach fünf Stunden bei Pietra Cruda, dem »rauhen Stein,« wie es treffend heißt, biegt unsre Straße links südlich ab in das Thal des Nebenflüßchens Masoco und steigt dann am breiten Westhang dieses Thals in langen Schleifen hinauf. Wenn wir die Höhe erreicht haben, steht bei der letzten scharfen Biegung nach rechts plötzlich der Fels von San Leo uns gegenüber. Ein überraschendes Bild. Wir sind im Bogen wieder in das Marecchiathal gelangt. Gegen dieses vorgeschoben ragt der mächtige Block scheinbar unersteiglich vor uns auf, und dieser Eindruck wird dadurch noch verstärkt, daß man rechts und links an ihm vorbei fern in das Flußthal hinabsieht. Auf der uns zugekehrten Ostseite fällt der Stein vollkommen senk¬ recht ab, hier ist der höchste Punkt, und dieser Teil trügt das gewaltige Kastell. . . . Von diesem Eckpfeiler laufen die schroffen Wände nach Norden und Westen, und nach seinem Fuß hinüber senkt sich von dem Punkt, wo wir zuerst des Felsens ansichtig geworden, unsre Straße, um dann von der Süd¬ seite des Klotzes hin nach dem Städtchen hinauszuziehen, das, von der Höhe des Klosters überragt, die nach Westen etwas geneigte und nach allen Seiten steil abfallende Oberflüche des Felsens einnimmt. . . . Eine Ähnlichkeit, wie sie größer kaum denkbar ist, besteht zwischen San Leo und dem andern von Dante genannten Gipfel, der Pietra Bismantova. Sie ist etwa sieben Stunden südlich von Reggio-Emilia dicht bei Castelnuovo ne' Monti an der großen Heerstraße gelegen, die von der Via Emilia durch die Apenninen nach der Lunigiana führt. Auch hier zeigt sich uns auf dem Hinweg schon, gleichsam wie vorbereitend, ein Berg von verwandter Form, der berühmte Fels von Canossa, der auf eine weite Strecke das ganze Landschaftsbild dominirt. Etwa eine Stunde, ehe man Castelnuovo erreicht, wird, wieder bei einer Biegung der Straße, die Pietra Bismantova plötzlich sichtbar. Ihre Gestalt ist viel¬ leicht noch überraschender, aber doch von dem gleichen Charakter wie die von San Leo. Mitten aus dem Thal ragt, nach allen Seiten frei, der gewaltige Stein, den der breite Kegel von Matten, Laubholz und Geröllhalden, auf dem er sitzt, noch mächtiger heraushebt. Die allenthalben senkrecht und gleichmäßig abfallenden Wände, die nur nach Norden etwas niederer werden, bedingen es, daß der Fels an seinem Gipfel fast die gleiche Ausdehnung hat wie an seinem Fuß, und die völlige Kahlheit erhöht noch den Eindruck einer mathematischen Figur." Es wird nicht an Leuten fehlen, die diese Art, uns das Verständnis der Dantischen Naturschilderungen zu erschließen, als umständlich und pedantisch erklären werden. Aber ohne solche Kommentare sind den Lesern Dantes ^ viele giebt es ohnehin nicht mehr — viele Hunderte von Terzinen ein Grenzboten II Z808 W

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/497>, abgerufen am 23.07.2024.