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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Neues zur Litteratur über Dante

Sollte nicht auch bei Dante seine dichterische Phantasie mehr gethan
haben, als sein Wanderleben? Seine dichterische Phantasie, die sich zum Teil
auf Mitteilungen Ortskundiger, zum Teil aber auch nur auf Landkarten mit
sehr einfachen Andeutungen gestützt haben mag? Bassermann zitirt ein Bei¬
spiel dafür, das eigentlich zur Vorsicht mahnen sollte. Im "Inferno" (27)
läßt Dante die Städte der Romagna in kurzem Überblick an dem Leser vorüber¬
ziehen und sagt dabei von Cesena, das er allein etwas näher bezeichnet:


Und jene, der der Savio rnuscht -vorbei,
Lebt, wie sie daliegt, zwischen Berg und Felde,
Stets zwischen Freiheit hin und Tyrannei.

Diese Andeutungen, die übrigens, wie jeder Unbefangne zugeben wird, so un¬
bestimmt wie möglich sind, stimmen nun mit der geographischen Lage Cesenas
nicht überein. Bassermann, der wirklich jahrelang mit staunenswertem Eifer
und unter allerlei Mühsalen den Spuren Dantes in Italien nachgegangen ist,
hat nach eigner Anschauung gefunden, daß sich bei Cesena, das allerdings am
Beginn der Küstenebene liegt, die Berge so allmählich abstachen, daß die Hügel¬
welle, an die sich die Stadt anschließt, so sanft und anmutig ist, "daß von
dem harten Kontraste, den man nach der (oben erwähnten) Terzine hier er¬
warten sollte, schlechterdings nichts zu finden ist." Bassermann setzt dem
hinzu: "Die Bemerkung scheint fast mehr auf das Bild der Landkarte, als auf
das der Wirklichkeit zurückzuführen." Man kann ebenso gut sagen, daß Dante
sich vielleicht nur eine dichterische Freiheit erlaubt hat, um die politische Lage
Cesenas durch ein der Natur willkürlich entnommnes Bild zu erläutern. Auf
eignen Anschauungen mag dagegen eine Stelle im "Purgatorio" (4, 25) beruhen,
wo Dante den Aufstieg zur ersten Stufe des Fegefeuers mit einer andern
Gegend in der Romagna vergleicht:


Aus nach San Leo gehts, nach Roll nieder,
Der Kulm Bismantovas selbst ist zu zwingen
Durch unsern Fuß. Hier aber branches Gefieder.

Diese wenn auch sehr kargen Andeutungen machen es wahrscheinlich, daß Dante
die Gebirgswanderung, deren einzelne Stationen er mit drei Namen bezeichnet,
selbst gemacht hat. Verständlich werden diese Andeutungen aber erst durch die
ausführliche landschaftliche Beschreibung, die Bassermann nach Wiederholung
dieser Wanderung giebt, und in diesen praktischen Nachprüfungen, die vielleicht
für manche Leser einen kleinen scholastischen Beigeschmack haben mögen, liegt
ein Hauptverdienst seines Buches. Das Scholiastische wird auch durch die
Lebendigkeit und Anschaulichkeit seiner Darstellung stark abgeschwächt. Einige
Sätze, die die zuletzt zitirte Terzine erläutern, sollen den Lesern eine Vor¬
stellung von der Methode Bassermanns geben. "Der Weg nach San Leo
führt von Rimini die Marecchia aufwärts, vorbei unter dem stolz gelegnen,


Neues zur Litteratur über Dante

Sollte nicht auch bei Dante seine dichterische Phantasie mehr gethan
haben, als sein Wanderleben? Seine dichterische Phantasie, die sich zum Teil
auf Mitteilungen Ortskundiger, zum Teil aber auch nur auf Landkarten mit
sehr einfachen Andeutungen gestützt haben mag? Bassermann zitirt ein Bei¬
spiel dafür, das eigentlich zur Vorsicht mahnen sollte. Im „Inferno" (27)
läßt Dante die Städte der Romagna in kurzem Überblick an dem Leser vorüber¬
ziehen und sagt dabei von Cesena, das er allein etwas näher bezeichnet:


Und jene, der der Savio rnuscht -vorbei,
Lebt, wie sie daliegt, zwischen Berg und Felde,
Stets zwischen Freiheit hin und Tyrannei.

Diese Andeutungen, die übrigens, wie jeder Unbefangne zugeben wird, so un¬
bestimmt wie möglich sind, stimmen nun mit der geographischen Lage Cesenas
nicht überein. Bassermann, der wirklich jahrelang mit staunenswertem Eifer
und unter allerlei Mühsalen den Spuren Dantes in Italien nachgegangen ist,
hat nach eigner Anschauung gefunden, daß sich bei Cesena, das allerdings am
Beginn der Küstenebene liegt, die Berge so allmählich abstachen, daß die Hügel¬
welle, an die sich die Stadt anschließt, so sanft und anmutig ist, „daß von
dem harten Kontraste, den man nach der (oben erwähnten) Terzine hier er¬
warten sollte, schlechterdings nichts zu finden ist." Bassermann setzt dem
hinzu: „Die Bemerkung scheint fast mehr auf das Bild der Landkarte, als auf
das der Wirklichkeit zurückzuführen." Man kann ebenso gut sagen, daß Dante
sich vielleicht nur eine dichterische Freiheit erlaubt hat, um die politische Lage
Cesenas durch ein der Natur willkürlich entnommnes Bild zu erläutern. Auf
eignen Anschauungen mag dagegen eine Stelle im „Purgatorio" (4, 25) beruhen,
wo Dante den Aufstieg zur ersten Stufe des Fegefeuers mit einer andern
Gegend in der Romagna vergleicht:


Aus nach San Leo gehts, nach Roll nieder,
Der Kulm Bismantovas selbst ist zu zwingen
Durch unsern Fuß. Hier aber branches Gefieder.

Diese wenn auch sehr kargen Andeutungen machen es wahrscheinlich, daß Dante
die Gebirgswanderung, deren einzelne Stationen er mit drei Namen bezeichnet,
selbst gemacht hat. Verständlich werden diese Andeutungen aber erst durch die
ausführliche landschaftliche Beschreibung, die Bassermann nach Wiederholung
dieser Wanderung giebt, und in diesen praktischen Nachprüfungen, die vielleicht
für manche Leser einen kleinen scholastischen Beigeschmack haben mögen, liegt
ein Hauptverdienst seines Buches. Das Scholiastische wird auch durch die
Lebendigkeit und Anschaulichkeit seiner Darstellung stark abgeschwächt. Einige
Sätze, die die zuletzt zitirte Terzine erläutern, sollen den Lesern eine Vor¬
stellung von der Methode Bassermanns geben. „Der Weg nach San Leo
führt von Rimini die Marecchia aufwärts, vorbei unter dem stolz gelegnen,


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[0496] Neues zur Litteratur über Dante Sollte nicht auch bei Dante seine dichterische Phantasie mehr gethan haben, als sein Wanderleben? Seine dichterische Phantasie, die sich zum Teil auf Mitteilungen Ortskundiger, zum Teil aber auch nur auf Landkarten mit sehr einfachen Andeutungen gestützt haben mag? Bassermann zitirt ein Bei¬ spiel dafür, das eigentlich zur Vorsicht mahnen sollte. Im „Inferno" (27) läßt Dante die Städte der Romagna in kurzem Überblick an dem Leser vorüber¬ ziehen und sagt dabei von Cesena, das er allein etwas näher bezeichnet: Und jene, der der Savio rnuscht -vorbei, Lebt, wie sie daliegt, zwischen Berg und Felde, Stets zwischen Freiheit hin und Tyrannei. Diese Andeutungen, die übrigens, wie jeder Unbefangne zugeben wird, so un¬ bestimmt wie möglich sind, stimmen nun mit der geographischen Lage Cesenas nicht überein. Bassermann, der wirklich jahrelang mit staunenswertem Eifer und unter allerlei Mühsalen den Spuren Dantes in Italien nachgegangen ist, hat nach eigner Anschauung gefunden, daß sich bei Cesena, das allerdings am Beginn der Küstenebene liegt, die Berge so allmählich abstachen, daß die Hügel¬ welle, an die sich die Stadt anschließt, so sanft und anmutig ist, „daß von dem harten Kontraste, den man nach der (oben erwähnten) Terzine hier er¬ warten sollte, schlechterdings nichts zu finden ist." Bassermann setzt dem hinzu: „Die Bemerkung scheint fast mehr auf das Bild der Landkarte, als auf das der Wirklichkeit zurückzuführen." Man kann ebenso gut sagen, daß Dante sich vielleicht nur eine dichterische Freiheit erlaubt hat, um die politische Lage Cesenas durch ein der Natur willkürlich entnommnes Bild zu erläutern. Auf eignen Anschauungen mag dagegen eine Stelle im „Purgatorio" (4, 25) beruhen, wo Dante den Aufstieg zur ersten Stufe des Fegefeuers mit einer andern Gegend in der Romagna vergleicht: Aus nach San Leo gehts, nach Roll nieder, Der Kulm Bismantovas selbst ist zu zwingen Durch unsern Fuß. Hier aber branches Gefieder. Diese wenn auch sehr kargen Andeutungen machen es wahrscheinlich, daß Dante die Gebirgswanderung, deren einzelne Stationen er mit drei Namen bezeichnet, selbst gemacht hat. Verständlich werden diese Andeutungen aber erst durch die ausführliche landschaftliche Beschreibung, die Bassermann nach Wiederholung dieser Wanderung giebt, und in diesen praktischen Nachprüfungen, die vielleicht für manche Leser einen kleinen scholastischen Beigeschmack haben mögen, liegt ein Hauptverdienst seines Buches. Das Scholiastische wird auch durch die Lebendigkeit und Anschaulichkeit seiner Darstellung stark abgeschwächt. Einige Sätze, die die zuletzt zitirte Terzine erläutern, sollen den Lesern eine Vor¬ stellung von der Methode Bassermanns geben. „Der Weg nach San Leo führt von Rimini die Marecchia aufwärts, vorbei unter dem stolz gelegnen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/496>, abgerufen am 23.07.2024.