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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

sollen geschehen, um die Gesellschaft zur Änderung unzweckmäßiger Einrich¬
tungen zu zwingen.

Also jene eigentümliche Beschaffenheit des Menschen, die ihm einen Wert
über den bürgerlichen Nutzwert verleiht, und die man in der Philosophie mit
dem Worte Sittlichkeit meint, läßt sich nicht mit einem Worte bezeichnen,
man müßte denn dem christlichen Ideenkreise die Worte Gottähnlichkeit oder
Gvttgefälligkeit entnehmen, oder den Ausdruck Humanität, verwirklichte Idee
des Menschen, wählen. Da sich alle Anlagen des Menschen, darunter auch
diese höchste, in den Banden der Sitte und nicht ohne sie entwickeln, so besteht
natürlich ein Zusammenhang zwischen jener höhern und der gewöhnlich so ge¬
nannten Sittlichkeit. Bei unverständigen Naturvölkern ist der Zusammenhang
sehr lose; ihre meistens sehr ungereimten Sitten haben höchstens, wie Nietzsche
erkannt hat. die Bedeutung, überhaupt an eine Ordnung zu gewöhnen, aber
die Keime der höhern Menschennatur: Güte, Gerechtigkeit, Schöpfer-, Thaten-
und Forschungsdrang wachsen mehr neben als in solchen Formen heran.
Dagegen finden wir einen sehr innigen Zusammenhang bei den Griechen und
Römern, wo die Volkssitte durchaus vernünftig und auf die Erziehung des
höhern Menschen gerichtet war; bei den Römern auf einseitige Mannhaftigkeit
und Gerechtigkeit, bei den Griechen auf allseitige Entfaltung des Menschen¬
wesens zur Humanität, welcher Ausdruck seit Herder hie und da für das ge¬
braucht wird, was man mit Sittlichkeit meint, aber es nicht zur allgemeinen
Anerkennung gebracht hat. Eine Volkssitte kann nun ursprünglich ganz ge¬
eignet sein, die Gottühnlichkeit oder echte Humanität zu fördern, aber mit der
Zeit zur toten Form erstarren und in eine Fessel umschlagen; das war be¬
kanntlich mit der jüdischen Sitte zur Zeit Christi der Fall. Man braucht,
um sich die Sache vollkommen klar zu machen, nur daran zu denken, wie die
Priesterschaft und wie Christus das Sabbatgesetz behandelt hat. In unsrer
Zeit, wo jede alte Volkssitte zerstört und die Kraft zur Neubildung ge¬
schwunden ist, wo solche Kraft auch gar nichts nützen würde, da das äußere
Verhalten der Menschen teils durch die launenhaft wechselnde Mode geregelt
wird, teils durch Gesetze, deren Zustandekommen von tausend Zufällen abhängt,
die einander widersprechen, die heute erlassen und morgen aufgehoben oder ge¬
ändert werden, und deren Menge sich ins ungemessene häuft, sodaß sie der
Staatsbürger nur zu einem winzigen Teile kennt; heute stehen einander Sitte
und echt menschliche Vollkommenheit ferner als je. Daher ist es ganz natür¬
lich, daß Geister wie Nietzsche wild werden, wenn man ihnen zumutet, einen
Menschen oder vielmehr einen Herrn -- Mensch wäre schon eine Beleidi¬
gung -- deswegen für vollkommen zu halten, weil er keine silbernen Löffel
gestohlen und bei seinen Finanzoperationen das Zuchthaus auch uicht einmal
mit dem Ärmel gestreift hat, weil er niemals betrunken in der Gosse gelegen
hat. weil er seine Amts- oder Geschäftsstunden inne hält, einen tadellosen


Grenzboten II I8!)8 öl
Friedrich Nietzsche

sollen geschehen, um die Gesellschaft zur Änderung unzweckmäßiger Einrich¬
tungen zu zwingen.

Also jene eigentümliche Beschaffenheit des Menschen, die ihm einen Wert
über den bürgerlichen Nutzwert verleiht, und die man in der Philosophie mit
dem Worte Sittlichkeit meint, läßt sich nicht mit einem Worte bezeichnen,
man müßte denn dem christlichen Ideenkreise die Worte Gottähnlichkeit oder
Gvttgefälligkeit entnehmen, oder den Ausdruck Humanität, verwirklichte Idee
des Menschen, wählen. Da sich alle Anlagen des Menschen, darunter auch
diese höchste, in den Banden der Sitte und nicht ohne sie entwickeln, so besteht
natürlich ein Zusammenhang zwischen jener höhern und der gewöhnlich so ge¬
nannten Sittlichkeit. Bei unverständigen Naturvölkern ist der Zusammenhang
sehr lose; ihre meistens sehr ungereimten Sitten haben höchstens, wie Nietzsche
erkannt hat. die Bedeutung, überhaupt an eine Ordnung zu gewöhnen, aber
die Keime der höhern Menschennatur: Güte, Gerechtigkeit, Schöpfer-, Thaten-
und Forschungsdrang wachsen mehr neben als in solchen Formen heran.
Dagegen finden wir einen sehr innigen Zusammenhang bei den Griechen und
Römern, wo die Volkssitte durchaus vernünftig und auf die Erziehung des
höhern Menschen gerichtet war; bei den Römern auf einseitige Mannhaftigkeit
und Gerechtigkeit, bei den Griechen auf allseitige Entfaltung des Menschen¬
wesens zur Humanität, welcher Ausdruck seit Herder hie und da für das ge¬
braucht wird, was man mit Sittlichkeit meint, aber es nicht zur allgemeinen
Anerkennung gebracht hat. Eine Volkssitte kann nun ursprünglich ganz ge¬
eignet sein, die Gottühnlichkeit oder echte Humanität zu fördern, aber mit der
Zeit zur toten Form erstarren und in eine Fessel umschlagen; das war be¬
kanntlich mit der jüdischen Sitte zur Zeit Christi der Fall. Man braucht,
um sich die Sache vollkommen klar zu machen, nur daran zu denken, wie die
Priesterschaft und wie Christus das Sabbatgesetz behandelt hat. In unsrer
Zeit, wo jede alte Volkssitte zerstört und die Kraft zur Neubildung ge¬
schwunden ist, wo solche Kraft auch gar nichts nützen würde, da das äußere
Verhalten der Menschen teils durch die launenhaft wechselnde Mode geregelt
wird, teils durch Gesetze, deren Zustandekommen von tausend Zufällen abhängt,
die einander widersprechen, die heute erlassen und morgen aufgehoben oder ge¬
ändert werden, und deren Menge sich ins ungemessene häuft, sodaß sie der
Staatsbürger nur zu einem winzigen Teile kennt; heute stehen einander Sitte
und echt menschliche Vollkommenheit ferner als je. Daher ist es ganz natür¬
lich, daß Geister wie Nietzsche wild werden, wenn man ihnen zumutet, einen
Menschen oder vielmehr einen Herrn — Mensch wäre schon eine Beleidi¬
gung — deswegen für vollkommen zu halten, weil er keine silbernen Löffel
gestohlen und bei seinen Finanzoperationen das Zuchthaus auch uicht einmal
mit dem Ärmel gestreift hat, weil er niemals betrunken in der Gosse gelegen
hat. weil er seine Amts- oder Geschäftsstunden inne hält, einen tadellosen


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[0489] Friedrich Nietzsche sollen geschehen, um die Gesellschaft zur Änderung unzweckmäßiger Einrich¬ tungen zu zwingen. Also jene eigentümliche Beschaffenheit des Menschen, die ihm einen Wert über den bürgerlichen Nutzwert verleiht, und die man in der Philosophie mit dem Worte Sittlichkeit meint, läßt sich nicht mit einem Worte bezeichnen, man müßte denn dem christlichen Ideenkreise die Worte Gottähnlichkeit oder Gvttgefälligkeit entnehmen, oder den Ausdruck Humanität, verwirklichte Idee des Menschen, wählen. Da sich alle Anlagen des Menschen, darunter auch diese höchste, in den Banden der Sitte und nicht ohne sie entwickeln, so besteht natürlich ein Zusammenhang zwischen jener höhern und der gewöhnlich so ge¬ nannten Sittlichkeit. Bei unverständigen Naturvölkern ist der Zusammenhang sehr lose; ihre meistens sehr ungereimten Sitten haben höchstens, wie Nietzsche erkannt hat. die Bedeutung, überhaupt an eine Ordnung zu gewöhnen, aber die Keime der höhern Menschennatur: Güte, Gerechtigkeit, Schöpfer-, Thaten- und Forschungsdrang wachsen mehr neben als in solchen Formen heran. Dagegen finden wir einen sehr innigen Zusammenhang bei den Griechen und Römern, wo die Volkssitte durchaus vernünftig und auf die Erziehung des höhern Menschen gerichtet war; bei den Römern auf einseitige Mannhaftigkeit und Gerechtigkeit, bei den Griechen auf allseitige Entfaltung des Menschen¬ wesens zur Humanität, welcher Ausdruck seit Herder hie und da für das ge¬ braucht wird, was man mit Sittlichkeit meint, aber es nicht zur allgemeinen Anerkennung gebracht hat. Eine Volkssitte kann nun ursprünglich ganz ge¬ eignet sein, die Gottühnlichkeit oder echte Humanität zu fördern, aber mit der Zeit zur toten Form erstarren und in eine Fessel umschlagen; das war be¬ kanntlich mit der jüdischen Sitte zur Zeit Christi der Fall. Man braucht, um sich die Sache vollkommen klar zu machen, nur daran zu denken, wie die Priesterschaft und wie Christus das Sabbatgesetz behandelt hat. In unsrer Zeit, wo jede alte Volkssitte zerstört und die Kraft zur Neubildung ge¬ schwunden ist, wo solche Kraft auch gar nichts nützen würde, da das äußere Verhalten der Menschen teils durch die launenhaft wechselnde Mode geregelt wird, teils durch Gesetze, deren Zustandekommen von tausend Zufällen abhängt, die einander widersprechen, die heute erlassen und morgen aufgehoben oder ge¬ ändert werden, und deren Menge sich ins ungemessene häuft, sodaß sie der Staatsbürger nur zu einem winzigen Teile kennt; heute stehen einander Sitte und echt menschliche Vollkommenheit ferner als je. Daher ist es ganz natür¬ lich, daß Geister wie Nietzsche wild werden, wenn man ihnen zumutet, einen Menschen oder vielmehr einen Herrn — Mensch wäre schon eine Beleidi¬ gung — deswegen für vollkommen zu halten, weil er keine silbernen Löffel gestohlen und bei seinen Finanzoperationen das Zuchthaus auch uicht einmal mit dem Ärmel gestreift hat, weil er niemals betrunken in der Gosse gelegen hat. weil er seine Amts- oder Geschäftsstunden inne hält, einen tadellosen Grenzboten II I8!)8 öl

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/489>, abgerufen am 23.07.2024.