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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

Leibe Gelähmten sehe, so macht mir das den Eindruck, als hätte ihn eine
feindliche Macht gefesselt, und wenn ich den schmerzerfüllter Ausdruck im Ge¬
sicht eines Zwergs oder einer Zwergin sehe -- schon in früher Jugend haben
solche Unglücklichen alte Gesichter --, so muß ich unwillkürlich an einen bösen
Dämon denken, der die unglückliche Seele in diese Mißgestalt gebannt hat,
wenn mir auch die Vernunft fagt, daß es durchaus widersinnig sei, an das
Dasein von Dämonen zu glauben. Und so klingt denn nichts selbstverständ¬
licher, als was Christus bei der Heilung eines gekrümmten Weibes sprach,
da der Synagogenvorsteher die Leute ausschalt, daß sie sich am Sabbat heilen
ließen: "Ihr Heuchler, bindet nicht jeder von euch am Sabbat seinen Ochsen
oder Esel von der Krippe los und sührt ihn zur Tränke? Diese Tochter
Abrahams aber, die der Satan schon ins achtzehnte Jahr gebunden hielt,
sollte nicht von ihrer Fessel gelöst werden am Tage des Sabbath?" Indem
die Übel, die physischen wie die moralischen, auf eine Gott feindliche Macht
zurückgeführt werden, erscheint ihre Bekämpfung als Pflicht; diese Pflicht
könnte leicht verdunkelt, und der Mensch könnte versucht werden, sich wider¬
standslos allen Übeln zu überlassen, wenn es ihm von vornherein klar wäre,
daß die Übel in der Schöpfung, also in Gott selbst ihren Ursprung haben,
aber erkannt haben diese Wahrheit nicht allein die Philosophen, sondern
auch die vier größten Theologen der Christenheit: Paulus, Augustinus, Luther
und Calvin, die den Menschen für unfrei, die Gebote Gottes für unerfüllbar
(d. h. den Widerspruch zwischen Ideal und Leben für uncinfhebbar), die
Menschheit daher für der Verdammnis verfallen und ihre Rettung nur durch
die Gnade für möglich erklären.

Die Erlösung kann nun auf dreierlei Weise gedacht werden. Erstens ist
sie von vornherein dadurch gegeben, daß die Übel eine unerläßliche Bedingung
für die Entfaltung des Menschen sind; eben in ihrer Bekämpfung wird er erst
Mensch; darin liegt die Einladung zu ihrer Bekämpfung, also zu einer fort¬
währenden, vom Menschen selbst zu vollziehenden Erlösung, die freilich auf
Erden niemals ihr Endziel erreicht. Diese Art der Erlösung wird durch die
wohlthätigen Wunder Christi gesinubildet. Zweitens versetzt Gott einzelne in
eine Lage, durch die sie weniger in Pflichtenkollisionen verwickelt werden als
andre, und rüstet sie zudem mit glücklichen Naturanlagen aus. Das ist die
Gnade im engern Sinne, die den oben genannten vier großen Theologen den
Gedanken der Prädestination eingegeben hat, denn mit ihm ist nichts andres
gesagt, als daß durch die von Gott geordnete Einrichtung der Welt die einen
ni deu Stand gesetzt werden, das Menschenideal annähernd zu verwirklichen,
während die andern von dieser Möglichkeit ausgeschlossen bleibe". In solch
glücklicher Lage befinden sich eigentlich nur die Kinder guter und verständiger
Familien, die deshalb die einzigen Idealmenschen ans Erden sind und von den
Erwachsenen darin nie mehr erreicht werden können; weshalb Christus sagte,


Friedrich Nietzsche

Leibe Gelähmten sehe, so macht mir das den Eindruck, als hätte ihn eine
feindliche Macht gefesselt, und wenn ich den schmerzerfüllter Ausdruck im Ge¬
sicht eines Zwergs oder einer Zwergin sehe — schon in früher Jugend haben
solche Unglücklichen alte Gesichter —, so muß ich unwillkürlich an einen bösen
Dämon denken, der die unglückliche Seele in diese Mißgestalt gebannt hat,
wenn mir auch die Vernunft fagt, daß es durchaus widersinnig sei, an das
Dasein von Dämonen zu glauben. Und so klingt denn nichts selbstverständ¬
licher, als was Christus bei der Heilung eines gekrümmten Weibes sprach,
da der Synagogenvorsteher die Leute ausschalt, daß sie sich am Sabbat heilen
ließen: „Ihr Heuchler, bindet nicht jeder von euch am Sabbat seinen Ochsen
oder Esel von der Krippe los und sührt ihn zur Tränke? Diese Tochter
Abrahams aber, die der Satan schon ins achtzehnte Jahr gebunden hielt,
sollte nicht von ihrer Fessel gelöst werden am Tage des Sabbath?" Indem
die Übel, die physischen wie die moralischen, auf eine Gott feindliche Macht
zurückgeführt werden, erscheint ihre Bekämpfung als Pflicht; diese Pflicht
könnte leicht verdunkelt, und der Mensch könnte versucht werden, sich wider¬
standslos allen Übeln zu überlassen, wenn es ihm von vornherein klar wäre,
daß die Übel in der Schöpfung, also in Gott selbst ihren Ursprung haben,
aber erkannt haben diese Wahrheit nicht allein die Philosophen, sondern
auch die vier größten Theologen der Christenheit: Paulus, Augustinus, Luther
und Calvin, die den Menschen für unfrei, die Gebote Gottes für unerfüllbar
(d. h. den Widerspruch zwischen Ideal und Leben für uncinfhebbar), die
Menschheit daher für der Verdammnis verfallen und ihre Rettung nur durch
die Gnade für möglich erklären.

Die Erlösung kann nun auf dreierlei Weise gedacht werden. Erstens ist
sie von vornherein dadurch gegeben, daß die Übel eine unerläßliche Bedingung
für die Entfaltung des Menschen sind; eben in ihrer Bekämpfung wird er erst
Mensch; darin liegt die Einladung zu ihrer Bekämpfung, also zu einer fort¬
währenden, vom Menschen selbst zu vollziehenden Erlösung, die freilich auf
Erden niemals ihr Endziel erreicht. Diese Art der Erlösung wird durch die
wohlthätigen Wunder Christi gesinubildet. Zweitens versetzt Gott einzelne in
eine Lage, durch die sie weniger in Pflichtenkollisionen verwickelt werden als
andre, und rüstet sie zudem mit glücklichen Naturanlagen aus. Das ist die
Gnade im engern Sinne, die den oben genannten vier großen Theologen den
Gedanken der Prädestination eingegeben hat, denn mit ihm ist nichts andres
gesagt, als daß durch die von Gott geordnete Einrichtung der Welt die einen
ni deu Stand gesetzt werden, das Menschenideal annähernd zu verwirklichen,
während die andern von dieser Möglichkeit ausgeschlossen bleibe». In solch
glücklicher Lage befinden sich eigentlich nur die Kinder guter und verständiger
Familien, die deshalb die einzigen Idealmenschen ans Erden sind und von den
Erwachsenen darin nie mehr erreicht werden können; weshalb Christus sagte,


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[0485] Friedrich Nietzsche Leibe Gelähmten sehe, so macht mir das den Eindruck, als hätte ihn eine feindliche Macht gefesselt, und wenn ich den schmerzerfüllter Ausdruck im Ge¬ sicht eines Zwergs oder einer Zwergin sehe — schon in früher Jugend haben solche Unglücklichen alte Gesichter —, so muß ich unwillkürlich an einen bösen Dämon denken, der die unglückliche Seele in diese Mißgestalt gebannt hat, wenn mir auch die Vernunft fagt, daß es durchaus widersinnig sei, an das Dasein von Dämonen zu glauben. Und so klingt denn nichts selbstverständ¬ licher, als was Christus bei der Heilung eines gekrümmten Weibes sprach, da der Synagogenvorsteher die Leute ausschalt, daß sie sich am Sabbat heilen ließen: „Ihr Heuchler, bindet nicht jeder von euch am Sabbat seinen Ochsen oder Esel von der Krippe los und sührt ihn zur Tränke? Diese Tochter Abrahams aber, die der Satan schon ins achtzehnte Jahr gebunden hielt, sollte nicht von ihrer Fessel gelöst werden am Tage des Sabbath?" Indem die Übel, die physischen wie die moralischen, auf eine Gott feindliche Macht zurückgeführt werden, erscheint ihre Bekämpfung als Pflicht; diese Pflicht könnte leicht verdunkelt, und der Mensch könnte versucht werden, sich wider¬ standslos allen Übeln zu überlassen, wenn es ihm von vornherein klar wäre, daß die Übel in der Schöpfung, also in Gott selbst ihren Ursprung haben, aber erkannt haben diese Wahrheit nicht allein die Philosophen, sondern auch die vier größten Theologen der Christenheit: Paulus, Augustinus, Luther und Calvin, die den Menschen für unfrei, die Gebote Gottes für unerfüllbar (d. h. den Widerspruch zwischen Ideal und Leben für uncinfhebbar), die Menschheit daher für der Verdammnis verfallen und ihre Rettung nur durch die Gnade für möglich erklären. Die Erlösung kann nun auf dreierlei Weise gedacht werden. Erstens ist sie von vornherein dadurch gegeben, daß die Übel eine unerläßliche Bedingung für die Entfaltung des Menschen sind; eben in ihrer Bekämpfung wird er erst Mensch; darin liegt die Einladung zu ihrer Bekämpfung, also zu einer fort¬ währenden, vom Menschen selbst zu vollziehenden Erlösung, die freilich auf Erden niemals ihr Endziel erreicht. Diese Art der Erlösung wird durch die wohlthätigen Wunder Christi gesinubildet. Zweitens versetzt Gott einzelne in eine Lage, durch die sie weniger in Pflichtenkollisionen verwickelt werden als andre, und rüstet sie zudem mit glücklichen Naturanlagen aus. Das ist die Gnade im engern Sinne, die den oben genannten vier großen Theologen den Gedanken der Prädestination eingegeben hat, denn mit ihm ist nichts andres gesagt, als daß durch die von Gott geordnete Einrichtung der Welt die einen ni deu Stand gesetzt werden, das Menschenideal annähernd zu verwirklichen, während die andern von dieser Möglichkeit ausgeschlossen bleibe». In solch glücklicher Lage befinden sich eigentlich nur die Kinder guter und verständiger Familien, die deshalb die einzigen Idealmenschen ans Erden sind und von den Erwachsenen darin nie mehr erreicht werden können; weshalb Christus sagte,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/485>, abgerufen am 23.07.2024.