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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

ist eben, wie gesagt, keine andre als die des Jagdhundes (ich meine nur die,
die er als Jagdhund bethätigt, denn die Liebe und Treue, die er als Hund
seinem Herrn erzeigt, ist schon etwas höheres). Prügel und Stachelhalsbänder
-- jede solche Moralität beruht auf einem System von Prügeln und Stachel¬
halsbändern -- können mich wohl dahin bringen, daß ich unter keinen Um¬
ständen einen gewissen Leckerbissen anrühre, aber möchte die Dressur auch
tausend Jahre lang fortgesetzt werden, so könnte sie doch niemals das Urteil
erzeugen: den einem andern gehörigen Leckerbissen aufessen ist häßlich, jedem
das Seine lassen, ihn im Besitz seines rechtmäßigen Eigentums schützen und
verteidigen ist schön, und vermöchte am allerwenigsten die unangenehme und
die angenehme Empfindung zu erzengen, die diese beiden Urteile begleitet;
keine Dressur der Welt kann etwas daran ändern, daß jede Entbehrung nur
unangenehme, jede sinnliche Befriedigung uur angenehme Empfindungen er¬
zeugt, so lange sich nicht mit dem leiblichen Organismus als Träger seines
Bewußtseins ein Wesen verbindet, das ganz andern Lebensbedingungen unter¬
liegt als der Leib. Wunderbarer Prozeß, schreibt denn auch Nietzsche IX, 209,
"wie der allgemeine Kampf aller Griechen allmählich auf allen Gebieten eine
6ex^ anerkennt; wo kommt diese her?" Ja, wo kommt sie her? Entweder
sie kommt vom Himmel, aus Gott, oder sie ist eine unerklärliche leere Ein¬
bildung. In und an den Interessenkonflikten entwickelt sich die Idee der Ge¬
rechtigkeit, wie sich in und an den geschlechtlichen Genüssen, Mutterfreuden,
kameradschaftlichen Vorteilen und Annehmlichkeiten die Idee der Liebe, wie sich
an der Arbeit die Idee der Vollkommenheit entwickelt, also, wenn man will,
auf darwinischen Wegen, aber erzeugt werden diese Ideen keineswegs durch
die Leiden, Freuden und Thätigkeiten, in und an denen sie sich entfalten, so
wenig wie die Denkgesetze durch die Gegenstände erzeugt werden, an deren
Betrachtung sie sich entfalten. Wären sie nicht als eine Einrichtung unsrer
Seele vorhanden, dann würde dem Manne das Weib nach gehabten Genuß
so gleichgiltig sein wie dem Stier die Kuh, dann würde jeder Mensch ohne
Ausnahme alles ihm Angenehme rauben, was er ungefährdet und ungestraft
bekommen kann, ohne jemals die Idee der Gerechtigkeit zu gewinnen, und dann
würde er gleich dem Karrengaul genau so lange arbeiten, als er dazu ge¬
zwungen wird, ohne jemals auf den Gedanken zu verfallen, daß man thätig
sein könne, um seine Kräfte anzuwenden, seine Anlagen zu entfalten und da¬
durch seine Persönlichkeit zu vollenden.

Hat man dagegen die Gottesidee angenommen, wie sie die sokratischen
Philosophen und das Christentum ausgebildet haben, dann läßt sich das, was
der Philosoph mit dem Worte Sittlichkeit meint, und das Verhältnis dieser
Eigenschaft zu dem, was im gewöhnlichen Leben darunter verstanden wird,
einigermaßen begreifen. Gott, das eus rsalisZimum, ist der Inbegriff alles
Schönen und Guten und im Besitz seiner Fülle selig. Er ergießt diese seine


Friedrich Nietzsche

ist eben, wie gesagt, keine andre als die des Jagdhundes (ich meine nur die,
die er als Jagdhund bethätigt, denn die Liebe und Treue, die er als Hund
seinem Herrn erzeigt, ist schon etwas höheres). Prügel und Stachelhalsbänder
— jede solche Moralität beruht auf einem System von Prügeln und Stachel¬
halsbändern — können mich wohl dahin bringen, daß ich unter keinen Um¬
ständen einen gewissen Leckerbissen anrühre, aber möchte die Dressur auch
tausend Jahre lang fortgesetzt werden, so könnte sie doch niemals das Urteil
erzeugen: den einem andern gehörigen Leckerbissen aufessen ist häßlich, jedem
das Seine lassen, ihn im Besitz seines rechtmäßigen Eigentums schützen und
verteidigen ist schön, und vermöchte am allerwenigsten die unangenehme und
die angenehme Empfindung zu erzengen, die diese beiden Urteile begleitet;
keine Dressur der Welt kann etwas daran ändern, daß jede Entbehrung nur
unangenehme, jede sinnliche Befriedigung uur angenehme Empfindungen er¬
zeugt, so lange sich nicht mit dem leiblichen Organismus als Träger seines
Bewußtseins ein Wesen verbindet, das ganz andern Lebensbedingungen unter¬
liegt als der Leib. Wunderbarer Prozeß, schreibt denn auch Nietzsche IX, 209,
„wie der allgemeine Kampf aller Griechen allmählich auf allen Gebieten eine
6ex^ anerkennt; wo kommt diese her?" Ja, wo kommt sie her? Entweder
sie kommt vom Himmel, aus Gott, oder sie ist eine unerklärliche leere Ein¬
bildung. In und an den Interessenkonflikten entwickelt sich die Idee der Ge¬
rechtigkeit, wie sich in und an den geschlechtlichen Genüssen, Mutterfreuden,
kameradschaftlichen Vorteilen und Annehmlichkeiten die Idee der Liebe, wie sich
an der Arbeit die Idee der Vollkommenheit entwickelt, also, wenn man will,
auf darwinischen Wegen, aber erzeugt werden diese Ideen keineswegs durch
die Leiden, Freuden und Thätigkeiten, in und an denen sie sich entfalten, so
wenig wie die Denkgesetze durch die Gegenstände erzeugt werden, an deren
Betrachtung sie sich entfalten. Wären sie nicht als eine Einrichtung unsrer
Seele vorhanden, dann würde dem Manne das Weib nach gehabten Genuß
so gleichgiltig sein wie dem Stier die Kuh, dann würde jeder Mensch ohne
Ausnahme alles ihm Angenehme rauben, was er ungefährdet und ungestraft
bekommen kann, ohne jemals die Idee der Gerechtigkeit zu gewinnen, und dann
würde er gleich dem Karrengaul genau so lange arbeiten, als er dazu ge¬
zwungen wird, ohne jemals auf den Gedanken zu verfallen, daß man thätig
sein könne, um seine Kräfte anzuwenden, seine Anlagen zu entfalten und da¬
durch seine Persönlichkeit zu vollenden.

Hat man dagegen die Gottesidee angenommen, wie sie die sokratischen
Philosophen und das Christentum ausgebildet haben, dann läßt sich das, was
der Philosoph mit dem Worte Sittlichkeit meint, und das Verhältnis dieser
Eigenschaft zu dem, was im gewöhnlichen Leben darunter verstanden wird,
einigermaßen begreifen. Gott, das eus rsalisZimum, ist der Inbegriff alles
Schönen und Guten und im Besitz seiner Fülle selig. Er ergießt diese seine


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[0482] Friedrich Nietzsche ist eben, wie gesagt, keine andre als die des Jagdhundes (ich meine nur die, die er als Jagdhund bethätigt, denn die Liebe und Treue, die er als Hund seinem Herrn erzeigt, ist schon etwas höheres). Prügel und Stachelhalsbänder — jede solche Moralität beruht auf einem System von Prügeln und Stachel¬ halsbändern — können mich wohl dahin bringen, daß ich unter keinen Um¬ ständen einen gewissen Leckerbissen anrühre, aber möchte die Dressur auch tausend Jahre lang fortgesetzt werden, so könnte sie doch niemals das Urteil erzeugen: den einem andern gehörigen Leckerbissen aufessen ist häßlich, jedem das Seine lassen, ihn im Besitz seines rechtmäßigen Eigentums schützen und verteidigen ist schön, und vermöchte am allerwenigsten die unangenehme und die angenehme Empfindung zu erzengen, die diese beiden Urteile begleitet; keine Dressur der Welt kann etwas daran ändern, daß jede Entbehrung nur unangenehme, jede sinnliche Befriedigung uur angenehme Empfindungen er¬ zeugt, so lange sich nicht mit dem leiblichen Organismus als Träger seines Bewußtseins ein Wesen verbindet, das ganz andern Lebensbedingungen unter¬ liegt als der Leib. Wunderbarer Prozeß, schreibt denn auch Nietzsche IX, 209, „wie der allgemeine Kampf aller Griechen allmählich auf allen Gebieten eine 6ex^ anerkennt; wo kommt diese her?" Ja, wo kommt sie her? Entweder sie kommt vom Himmel, aus Gott, oder sie ist eine unerklärliche leere Ein¬ bildung. In und an den Interessenkonflikten entwickelt sich die Idee der Ge¬ rechtigkeit, wie sich in und an den geschlechtlichen Genüssen, Mutterfreuden, kameradschaftlichen Vorteilen und Annehmlichkeiten die Idee der Liebe, wie sich an der Arbeit die Idee der Vollkommenheit entwickelt, also, wenn man will, auf darwinischen Wegen, aber erzeugt werden diese Ideen keineswegs durch die Leiden, Freuden und Thätigkeiten, in und an denen sie sich entfalten, so wenig wie die Denkgesetze durch die Gegenstände erzeugt werden, an deren Betrachtung sie sich entfalten. Wären sie nicht als eine Einrichtung unsrer Seele vorhanden, dann würde dem Manne das Weib nach gehabten Genuß so gleichgiltig sein wie dem Stier die Kuh, dann würde jeder Mensch ohne Ausnahme alles ihm Angenehme rauben, was er ungefährdet und ungestraft bekommen kann, ohne jemals die Idee der Gerechtigkeit zu gewinnen, und dann würde er gleich dem Karrengaul genau so lange arbeiten, als er dazu ge¬ zwungen wird, ohne jemals auf den Gedanken zu verfallen, daß man thätig sein könne, um seine Kräfte anzuwenden, seine Anlagen zu entfalten und da¬ durch seine Persönlichkeit zu vollenden. Hat man dagegen die Gottesidee angenommen, wie sie die sokratischen Philosophen und das Christentum ausgebildet haben, dann läßt sich das, was der Philosoph mit dem Worte Sittlichkeit meint, und das Verhältnis dieser Eigenschaft zu dem, was im gewöhnlichen Leben darunter verstanden wird, einigermaßen begreifen. Gott, das eus rsalisZimum, ist der Inbegriff alles Schönen und Guten und im Besitz seiner Fülle selig. Er ergießt diese seine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/482>, abgerufen am 23.07.2024.