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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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auch wieder ein kräftigerer Zug in die Banthdtigkeit, und das alte Spiel turn
wieder beginnen.

Die Schwankungen der Konjunkturen lassen sich nicht dnrch Gesetze beseitigen.
Es ist unmöglich, die Produktion ganz genau dem Bedarf anzupassen, weil vielfach
für einen zukünftigen Bedarf, dessen Umfang sich nicht genau bestimmen läßt,
produzirt wird. Außerdem wird die Neigung zur Überproduktion durch unsre
Zeitverhältnisse besonders begünstigt. Wo nur ein einträgliches Gewerbe zu finden
ist, drängt sich eine übergroße Zahl von Arbeitskräften dazu; wo nur ein Gewinn
zu erHaschen ist, strecken viele die Hand darnach ans. Ähnlich wie bei der sür
den Bedarf der Weltwirtschaft Produzirendeu Industrie ist es bei manchen mit der
Industrie in Verbindung stehenden und von ihrem Gedeihen abhängigen Gewerben.
Das rasche Wachstum der Großstädte, das hauptsächlich dem Aufblühen unsrer
Industrie zu verdanken ist, hat vielen Menschen Vorteil und Gewinn gebracht.

Damit ist aber zugleich die Unsicherheit der Erwerbsverhältuisfe verbunden.
Jeder, der sich an dem Wettbewerb um Anteil und Verdienst beteiligt, sollte be¬
denken, daß die Gesetzgebung ihm nicht ein Recht auf die Fortdauer der reichlichen
Arbeitsgelegenheit und des reichlichen Verdienstes sichern kaun. Bei dem Jagen
nach Gewinn haben natürlich nicht alle denselben Erfolg. Da regt sich der Neid
auf die Glücklichen, und die Spekulation wird als unehrenhaft und verwerflich ge¬
scholten. Aber die Spekulanten sind nicht eine besondre Klasse von Menschen, die
man von der übrigen Menschheit scharf unterscheiden könnte. Ein wenig zu speku-
liren halten die wenigsten Menschen für ein Unrecht; die wenigsten sind ganz un¬
empfänglich für den Reiz raschen und mühelosem Gewinnens. Das Bauhandwerk
hat den Tanz um das goldne Kalb mitgemacht; es hat mit ans das Steigen der
Häuser- und Grundstückpreise spekulirt und an dem Gewinn teilgenommen. Mancher
Bauhandwerker hat sich zum Hausbesitzer und Grundstückspekulanten emporgeschwungen.
Eine scharfe Grenze läßt sich zwischen dem "ehrsamen" Handwerker und dem
Spekulanten oft gar nicht ziehen. Die Entrüstung über den vielfach von gewissen¬
losen Hausbesitzern getriebnen Schwindel und Betrug ist berechtigt, und es ist be¬
greiflich, daß die öffentliche Meinung für die geprellten Handwerker Partei ergreift.
Aber es sollte doch bedacht werden, daß auch die Solidität des Handwerks unter
diesen Verhältnissen stark gelitten hat, und daß es unmöglich ist, die Handwerker
vor den Folgen eines leichtsinnigen Geschäftsgebahrens zu schützen. Was immer
bei den Vorschlägen zum Schutz der Bauhandwerker herauskommen mag, man thut
gut, die Hoffnungen nicht zu hoch zu spannen. Denn der Schwindler, der sich
das Ansehen eines leistungsfähigen Mannes zu geben weiß und dadurch den Hand¬
werker zu unvorsichtigem Kreditgeben veranlaßt, wird immer Handhaben finden,
das Gesetz zu umgehen.


Volksschulkuriosa.

Das Schulturnen hat ja wohl unter anderm den Zweck,
einiges von dem Schaden wieder gut zu machen, den der unnatürliche Sitzzwang
anrichtet. Nicht? Nun höre man und staune! Unser Städtlein hat -- wenigstens
für die Volksschüler -- noch keine Turnhalle; infolgedessen siel bisher an Regen¬
tagen der Turnunterricht aus, und der oben genannte Zweck kam dabei eigentlich
nicht zu kurz, denn unsre Buben machen sich ans dem Regen nichts, denken nicht
daran, wegen ein paar Tröpflein gleich unterzukriechen, und benutze" jeden Zaun,
jedes Geländer und jeden unbespannten Wagen als Turngerät; zugleich machen sie
in den Pfützen die Kneippkur. Eines schönen Tages aber verkündigt der Rektor
der Knabenschule den Kollegen, ein Zirkular des Kreisschulinspektors ordne an, daß


auch wieder ein kräftigerer Zug in die Banthdtigkeit, und das alte Spiel turn
wieder beginnen.

Die Schwankungen der Konjunkturen lassen sich nicht dnrch Gesetze beseitigen.
Es ist unmöglich, die Produktion ganz genau dem Bedarf anzupassen, weil vielfach
für einen zukünftigen Bedarf, dessen Umfang sich nicht genau bestimmen läßt,
produzirt wird. Außerdem wird die Neigung zur Überproduktion durch unsre
Zeitverhältnisse besonders begünstigt. Wo nur ein einträgliches Gewerbe zu finden
ist, drängt sich eine übergroße Zahl von Arbeitskräften dazu; wo nur ein Gewinn
zu erHaschen ist, strecken viele die Hand darnach ans. Ähnlich wie bei der sür
den Bedarf der Weltwirtschaft Produzirendeu Industrie ist es bei manchen mit der
Industrie in Verbindung stehenden und von ihrem Gedeihen abhängigen Gewerben.
Das rasche Wachstum der Großstädte, das hauptsächlich dem Aufblühen unsrer
Industrie zu verdanken ist, hat vielen Menschen Vorteil und Gewinn gebracht.

Damit ist aber zugleich die Unsicherheit der Erwerbsverhältuisfe verbunden.
Jeder, der sich an dem Wettbewerb um Anteil und Verdienst beteiligt, sollte be¬
denken, daß die Gesetzgebung ihm nicht ein Recht auf die Fortdauer der reichlichen
Arbeitsgelegenheit und des reichlichen Verdienstes sichern kaun. Bei dem Jagen
nach Gewinn haben natürlich nicht alle denselben Erfolg. Da regt sich der Neid
auf die Glücklichen, und die Spekulation wird als unehrenhaft und verwerflich ge¬
scholten. Aber die Spekulanten sind nicht eine besondre Klasse von Menschen, die
man von der übrigen Menschheit scharf unterscheiden könnte. Ein wenig zu speku-
liren halten die wenigsten Menschen für ein Unrecht; die wenigsten sind ganz un¬
empfänglich für den Reiz raschen und mühelosem Gewinnens. Das Bauhandwerk
hat den Tanz um das goldne Kalb mitgemacht; es hat mit ans das Steigen der
Häuser- und Grundstückpreise spekulirt und an dem Gewinn teilgenommen. Mancher
Bauhandwerker hat sich zum Hausbesitzer und Grundstückspekulanten emporgeschwungen.
Eine scharfe Grenze läßt sich zwischen dem „ehrsamen" Handwerker und dem
Spekulanten oft gar nicht ziehen. Die Entrüstung über den vielfach von gewissen¬
losen Hausbesitzern getriebnen Schwindel und Betrug ist berechtigt, und es ist be¬
greiflich, daß die öffentliche Meinung für die geprellten Handwerker Partei ergreift.
Aber es sollte doch bedacht werden, daß auch die Solidität des Handwerks unter
diesen Verhältnissen stark gelitten hat, und daß es unmöglich ist, die Handwerker
vor den Folgen eines leichtsinnigen Geschäftsgebahrens zu schützen. Was immer
bei den Vorschlägen zum Schutz der Bauhandwerker herauskommen mag, man thut
gut, die Hoffnungen nicht zu hoch zu spannen. Denn der Schwindler, der sich
das Ansehen eines leistungsfähigen Mannes zu geben weiß und dadurch den Hand¬
werker zu unvorsichtigem Kreditgeben veranlaßt, wird immer Handhaben finden,
das Gesetz zu umgehen.


Volksschulkuriosa.

Das Schulturnen hat ja wohl unter anderm den Zweck,
einiges von dem Schaden wieder gut zu machen, den der unnatürliche Sitzzwang
anrichtet. Nicht? Nun höre man und staune! Unser Städtlein hat — wenigstens
für die Volksschüler — noch keine Turnhalle; infolgedessen siel bisher an Regen¬
tagen der Turnunterricht aus, und der oben genannte Zweck kam dabei eigentlich
nicht zu kurz, denn unsre Buben machen sich ans dem Regen nichts, denken nicht
daran, wegen ein paar Tröpflein gleich unterzukriechen, und benutze» jeden Zaun,
jedes Geländer und jeden unbespannten Wagen als Turngerät; zugleich machen sie
in den Pfützen die Kneippkur. Eines schönen Tages aber verkündigt der Rektor
der Knabenschule den Kollegen, ein Zirkular des Kreisschulinspektors ordne an, daß


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[0462] auch wieder ein kräftigerer Zug in die Banthdtigkeit, und das alte Spiel turn wieder beginnen. Die Schwankungen der Konjunkturen lassen sich nicht dnrch Gesetze beseitigen. Es ist unmöglich, die Produktion ganz genau dem Bedarf anzupassen, weil vielfach für einen zukünftigen Bedarf, dessen Umfang sich nicht genau bestimmen läßt, produzirt wird. Außerdem wird die Neigung zur Überproduktion durch unsre Zeitverhältnisse besonders begünstigt. Wo nur ein einträgliches Gewerbe zu finden ist, drängt sich eine übergroße Zahl von Arbeitskräften dazu; wo nur ein Gewinn zu erHaschen ist, strecken viele die Hand darnach ans. Ähnlich wie bei der sür den Bedarf der Weltwirtschaft Produzirendeu Industrie ist es bei manchen mit der Industrie in Verbindung stehenden und von ihrem Gedeihen abhängigen Gewerben. Das rasche Wachstum der Großstädte, das hauptsächlich dem Aufblühen unsrer Industrie zu verdanken ist, hat vielen Menschen Vorteil und Gewinn gebracht. Damit ist aber zugleich die Unsicherheit der Erwerbsverhältuisfe verbunden. Jeder, der sich an dem Wettbewerb um Anteil und Verdienst beteiligt, sollte be¬ denken, daß die Gesetzgebung ihm nicht ein Recht auf die Fortdauer der reichlichen Arbeitsgelegenheit und des reichlichen Verdienstes sichern kaun. Bei dem Jagen nach Gewinn haben natürlich nicht alle denselben Erfolg. Da regt sich der Neid auf die Glücklichen, und die Spekulation wird als unehrenhaft und verwerflich ge¬ scholten. Aber die Spekulanten sind nicht eine besondre Klasse von Menschen, die man von der übrigen Menschheit scharf unterscheiden könnte. Ein wenig zu speku- liren halten die wenigsten Menschen für ein Unrecht; die wenigsten sind ganz un¬ empfänglich für den Reiz raschen und mühelosem Gewinnens. Das Bauhandwerk hat den Tanz um das goldne Kalb mitgemacht; es hat mit ans das Steigen der Häuser- und Grundstückpreise spekulirt und an dem Gewinn teilgenommen. Mancher Bauhandwerker hat sich zum Hausbesitzer und Grundstückspekulanten emporgeschwungen. Eine scharfe Grenze läßt sich zwischen dem „ehrsamen" Handwerker und dem Spekulanten oft gar nicht ziehen. Die Entrüstung über den vielfach von gewissen¬ losen Hausbesitzern getriebnen Schwindel und Betrug ist berechtigt, und es ist be¬ greiflich, daß die öffentliche Meinung für die geprellten Handwerker Partei ergreift. Aber es sollte doch bedacht werden, daß auch die Solidität des Handwerks unter diesen Verhältnissen stark gelitten hat, und daß es unmöglich ist, die Handwerker vor den Folgen eines leichtsinnigen Geschäftsgebahrens zu schützen. Was immer bei den Vorschlägen zum Schutz der Bauhandwerker herauskommen mag, man thut gut, die Hoffnungen nicht zu hoch zu spannen. Denn der Schwindler, der sich das Ansehen eines leistungsfähigen Mannes zu geben weiß und dadurch den Hand¬ werker zu unvorsichtigem Kreditgeben veranlaßt, wird immer Handhaben finden, das Gesetz zu umgehen. Volksschulkuriosa. Das Schulturnen hat ja wohl unter anderm den Zweck, einiges von dem Schaden wieder gut zu machen, den der unnatürliche Sitzzwang anrichtet. Nicht? Nun höre man und staune! Unser Städtlein hat — wenigstens für die Volksschüler — noch keine Turnhalle; infolgedessen siel bisher an Regen¬ tagen der Turnunterricht aus, und der oben genannte Zweck kam dabei eigentlich nicht zu kurz, denn unsre Buben machen sich ans dem Regen nichts, denken nicht daran, wegen ein paar Tröpflein gleich unterzukriechen, und benutze» jeden Zaun, jedes Geländer und jeden unbespannten Wagen als Turngerät; zugleich machen sie in den Pfützen die Kneippkur. Eines schönen Tages aber verkündigt der Rektor der Knabenschule den Kollegen, ein Zirkular des Kreisschulinspektors ordne an, daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/462>, abgerufen am 27.12.2024.