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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

würde, dann wäre es mit der Frauenschönheit vorbei. Doch muß gegen diesen
letzten Satz Nietzsches eingewandt werden, daß er hier wie eine besondre Art
von Sitte, so auch nur eine besondre Art von Schönheit berücksichtigt, und
daß die "prachtvolle Bestie," die er später zu preisen pflegte, in der That
auch ihre Schönheit hat.

Also Neigung zur Zuchtlosigkeit war es nicht, was Nietzsche bewogen
hat, sich einen Haß gegen die Moral einzubilden, von dem er in Wirklichkeit
ganz frei war, sondern es waren zwei Betrachtungen, von denen die erste alle
großen Religionsstifter und Reformatoren bewegt, die zweite noch jeden ernsten
philosophischen Kopf beschäftigt hat. Das.Moralisiren läuft am Ende immer
darauf hinaus, daß der armselige Philister, der zu beschränkt, zu einfältig und
zu furchtsam ist, an irgend einer Stelle die engen Schranken der Sitte seiner
Zeit, seines Volkes und Standes zu durchbrechen, den auch keine seiner Lebens¬
aufgaben dazu nötigt, der auch gar nicht die Machtmittel dazu hat und sofort
auf Nummer Sicher gebracht wird, wenn er es sich einmal einfallen läßt, den
wilden Mann zu spielen, daß ein solcher Philister als Ideal hingestellt wird
und von der Kirche die Anwartschaft auf einen Platz im Himmel erhält,
während die großen Männer von David und Alexander bis auf Bismarck und
von Sophokles bis Goethe allesamt große Sünder und beim unparteiischen
staatsanwältlichen Lichte gesehen Verbrecher sein sollen, die sich mit einem
Quartier bei Luzifer begnügen müssen. Nietzsche ist nicht der erste gewesen,
der sich gegen diesen Unsinn aufgelehnt hat, und er wird nicht der letzte sein.
Er erklärt einmal die Moral für die Nache von Menschen, die nicht genug
Geist haben, sich dessen freuen zu können, aber gerade genug Bildung, das zu
wissen; die sich selbst verachten und sich im Grunde ihres Daseins schämen.
Was glaubt ihr Wohl, fragt er, was ein solcher nötig hat, "um sich bei sich
selbst den Anschein von Überlegenheit über geistigere Menschen, um sich die
Lust der vollzognen Rache, wenigstens für seine Einbildung, zu schaffen?
Immer die Moralität, darauf darf man wetten, immer die großen Moralworte,
immer das Bumbum von Gerechtigkeit, Weisheit, Heiligkeit, Tugend, immer
den Stoizismus der Gebärde (wie gut versteckt der Stoizismus, was einer
nicht hat!), immer den Mantel des klugen Schweigens, der Leutseligkeit, der
Milde, und wie alle die Jdealistenmäntel heißen, unter denen die unheilbaren
Selbstverächter, auch die unheilbar Enten, herumgehn" (V, 308). Im Zara-
thustra läßt er den Wandrer, auch Zarathustras Schatten genannt, singen:
"Ha, herauf, Würde! Blase, blase wieder, Blasebalg der Tugend! Ha! noch
einmal brüllen, moralisch brüllen, als moralischer Löwe vor den Töchtern der
Wüste brüllen! Denn Tugend-Geheul, ihr allerliebsten Mädchen, ist mehr als
alles Europäer-Inbrunst, Europäer-Heißhunger" (VI, 448). Dazu kommen
dann noch solche Nebenbetrachtungen wie VI, 138: "Und wiederum giebt es
solche, die halten es für Tugend, zu sagen: Tugend ist notwendig; aber sie


Aren^boten II I8W ZV
Friedrich Nietzsche

würde, dann wäre es mit der Frauenschönheit vorbei. Doch muß gegen diesen
letzten Satz Nietzsches eingewandt werden, daß er hier wie eine besondre Art
von Sitte, so auch nur eine besondre Art von Schönheit berücksichtigt, und
daß die „prachtvolle Bestie," die er später zu preisen pflegte, in der That
auch ihre Schönheit hat.

Also Neigung zur Zuchtlosigkeit war es nicht, was Nietzsche bewogen
hat, sich einen Haß gegen die Moral einzubilden, von dem er in Wirklichkeit
ganz frei war, sondern es waren zwei Betrachtungen, von denen die erste alle
großen Religionsstifter und Reformatoren bewegt, die zweite noch jeden ernsten
philosophischen Kopf beschäftigt hat. Das.Moralisiren läuft am Ende immer
darauf hinaus, daß der armselige Philister, der zu beschränkt, zu einfältig und
zu furchtsam ist, an irgend einer Stelle die engen Schranken der Sitte seiner
Zeit, seines Volkes und Standes zu durchbrechen, den auch keine seiner Lebens¬
aufgaben dazu nötigt, der auch gar nicht die Machtmittel dazu hat und sofort
auf Nummer Sicher gebracht wird, wenn er es sich einmal einfallen läßt, den
wilden Mann zu spielen, daß ein solcher Philister als Ideal hingestellt wird
und von der Kirche die Anwartschaft auf einen Platz im Himmel erhält,
während die großen Männer von David und Alexander bis auf Bismarck und
von Sophokles bis Goethe allesamt große Sünder und beim unparteiischen
staatsanwältlichen Lichte gesehen Verbrecher sein sollen, die sich mit einem
Quartier bei Luzifer begnügen müssen. Nietzsche ist nicht der erste gewesen,
der sich gegen diesen Unsinn aufgelehnt hat, und er wird nicht der letzte sein.
Er erklärt einmal die Moral für die Nache von Menschen, die nicht genug
Geist haben, sich dessen freuen zu können, aber gerade genug Bildung, das zu
wissen; die sich selbst verachten und sich im Grunde ihres Daseins schämen.
Was glaubt ihr Wohl, fragt er, was ein solcher nötig hat, „um sich bei sich
selbst den Anschein von Überlegenheit über geistigere Menschen, um sich die
Lust der vollzognen Rache, wenigstens für seine Einbildung, zu schaffen?
Immer die Moralität, darauf darf man wetten, immer die großen Moralworte,
immer das Bumbum von Gerechtigkeit, Weisheit, Heiligkeit, Tugend, immer
den Stoizismus der Gebärde (wie gut versteckt der Stoizismus, was einer
nicht hat!), immer den Mantel des klugen Schweigens, der Leutseligkeit, der
Milde, und wie alle die Jdealistenmäntel heißen, unter denen die unheilbaren
Selbstverächter, auch die unheilbar Enten, herumgehn" (V, 308). Im Zara-
thustra läßt er den Wandrer, auch Zarathustras Schatten genannt, singen:
„Ha, herauf, Würde! Blase, blase wieder, Blasebalg der Tugend! Ha! noch
einmal brüllen, moralisch brüllen, als moralischer Löwe vor den Töchtern der
Wüste brüllen! Denn Tugend-Geheul, ihr allerliebsten Mädchen, ist mehr als
alles Europäer-Inbrunst, Europäer-Heißhunger" (VI, 448). Dazu kommen
dann noch solche Nebenbetrachtungen wie VI, 138: „Und wiederum giebt es
solche, die halten es für Tugend, zu sagen: Tugend ist notwendig; aber sie


Aren^boten II I8W ZV
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[0449] Friedrich Nietzsche würde, dann wäre es mit der Frauenschönheit vorbei. Doch muß gegen diesen letzten Satz Nietzsches eingewandt werden, daß er hier wie eine besondre Art von Sitte, so auch nur eine besondre Art von Schönheit berücksichtigt, und daß die „prachtvolle Bestie," die er später zu preisen pflegte, in der That auch ihre Schönheit hat. Also Neigung zur Zuchtlosigkeit war es nicht, was Nietzsche bewogen hat, sich einen Haß gegen die Moral einzubilden, von dem er in Wirklichkeit ganz frei war, sondern es waren zwei Betrachtungen, von denen die erste alle großen Religionsstifter und Reformatoren bewegt, die zweite noch jeden ernsten philosophischen Kopf beschäftigt hat. Das.Moralisiren läuft am Ende immer darauf hinaus, daß der armselige Philister, der zu beschränkt, zu einfältig und zu furchtsam ist, an irgend einer Stelle die engen Schranken der Sitte seiner Zeit, seines Volkes und Standes zu durchbrechen, den auch keine seiner Lebens¬ aufgaben dazu nötigt, der auch gar nicht die Machtmittel dazu hat und sofort auf Nummer Sicher gebracht wird, wenn er es sich einmal einfallen läßt, den wilden Mann zu spielen, daß ein solcher Philister als Ideal hingestellt wird und von der Kirche die Anwartschaft auf einen Platz im Himmel erhält, während die großen Männer von David und Alexander bis auf Bismarck und von Sophokles bis Goethe allesamt große Sünder und beim unparteiischen staatsanwältlichen Lichte gesehen Verbrecher sein sollen, die sich mit einem Quartier bei Luzifer begnügen müssen. Nietzsche ist nicht der erste gewesen, der sich gegen diesen Unsinn aufgelehnt hat, und er wird nicht der letzte sein. Er erklärt einmal die Moral für die Nache von Menschen, die nicht genug Geist haben, sich dessen freuen zu können, aber gerade genug Bildung, das zu wissen; die sich selbst verachten und sich im Grunde ihres Daseins schämen. Was glaubt ihr Wohl, fragt er, was ein solcher nötig hat, „um sich bei sich selbst den Anschein von Überlegenheit über geistigere Menschen, um sich die Lust der vollzognen Rache, wenigstens für seine Einbildung, zu schaffen? Immer die Moralität, darauf darf man wetten, immer die großen Moralworte, immer das Bumbum von Gerechtigkeit, Weisheit, Heiligkeit, Tugend, immer den Stoizismus der Gebärde (wie gut versteckt der Stoizismus, was einer nicht hat!), immer den Mantel des klugen Schweigens, der Leutseligkeit, der Milde, und wie alle die Jdealistenmäntel heißen, unter denen die unheilbaren Selbstverächter, auch die unheilbar Enten, herumgehn" (V, 308). Im Zara- thustra läßt er den Wandrer, auch Zarathustras Schatten genannt, singen: „Ha, herauf, Würde! Blase, blase wieder, Blasebalg der Tugend! Ha! noch einmal brüllen, moralisch brüllen, als moralischer Löwe vor den Töchtern der Wüste brüllen! Denn Tugend-Geheul, ihr allerliebsten Mädchen, ist mehr als alles Europäer-Inbrunst, Europäer-Heißhunger" (VI, 448). Dazu kommen dann noch solche Nebenbetrachtungen wie VI, 138: „Und wiederum giebt es solche, die halten es für Tugend, zu sagen: Tugend ist notwendig; aber sie Aren^boten II I8W ZV

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/449>, abgerufen am 30.12.2024.