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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

hat," sich von den Umständen ans eine entwürdigende Art leiten lassen." Die
Sucht, dem Christentum um jeden Preis eins zu versetzen, kann dem Primaner
nicht zur Schuld angerechnet werden, sie war die Schuld der Welt, in der er
-- damals vielleicht nur durch Lektüre -- lebte; sucht er doch sogar noch das
Christentum selbst von dem Vorwurf zu befreien, indem er von verkehrt auf¬
gefaßten christlichen Sätzen spricht. Aber er hätte sich später durch die Welt¬
geschichte belehren lassen können, daß man es in diesem Falle mehr mit ver-
schiednen Völkercharakteren, als mit verschiednen Glaubenslehren zu thun hat.
Die Türken bentttzen ihren Fatalismus, der sie ja unter Umständen zu Helden¬
thaten befähigt, für gewöhnlich zur Beschönigung ihrer Faulheit, während die
mittelalterlichen Italiener, auch die Deutschen, mit ihrem Vorsehungsglanben
ungemein regsam gewesen sind. Übrigens besteht zwischen den beiden Glaubens¬
vorstellungen kein wesentlicher Unterschied; in beiden wird angenommen, daß
die Dinge von der höchsten Macht bis ins Kleinste geordnet seien, nnr daß
das Wort Vorsehung mehr väterliche Liebe und Milde und Gewährenlassen
im Unbedeutenden einschließt. Harte Naturen und eigensinnige Köpfe ziehen
die härtere Vorstellung vor; weil sie entschlossen sind, unter allen Umstünden
ihren Willen durchzusetzen, nennen sie diesen ihren Willen eine unabänderliche
Fügung. Daher haben Calvin, die Holländer und die Schotten die Lehre von
der Prädestination ausgebildet. Nietzsche nennt gern den Menschen sein eignes
Fatum, ist aber selbst kein Calvin geworden, weil er zwar entschlossen genug
war, das durchzusetzen, was er gerade wollte, aber aller Augenblicke etwas
andres als das zu wollende erkannte.

Unter den erdachten Vorstellungen und verwerflichen Empfindungen, die
seiner Ansicht nach das Christentum in die Europäerseele eingeschmuggelt habe"
sollte, waren ihm keine mehr verhaßt, als die Vorstellungen Sünde, Schuld
und Verantwortung und die entsprechenden Gefühle. Als es ihm im Wohl-
gefühl der Genesung von schweren körperlichen Leiden gelang, alle diese Vor¬
stellungen und Gefühle gründlich loszuwerden, da kam er sich vor, wie ein
Mensch, der dazu verurteilt gewesen sei, im Innern der Erde Maulwurfsarbeit
zu verrichten, und der sich um zum Lichte emporgegraben habe und, als Mensch
neugeboren, die Morgenröte begrüße. Wenn er sich nun frage, was er da
unten eigentlich gemacht habe, so finde er, er sei heruntergestiegen, um ein
gewaltiges Werk zu vollenden: "ein altes Vertrauen zu untergraben, unser
Vertrauen auf die Moral zu untergraben" (IV, 3 bis 4). Daß dieses Unter¬
nehmen bei Nietzsche nicht denselben Sinn haben kann, wie bei manchen Lüst¬
lingen, die sich derselben Aufgabe unterziehen, folgt zur Genüge aus dem im
ersten Artikel gesagten. Wir werden später sehen, daß die Jmmoralitcit, deren
er sich rühmt, eine bloße Selbsttäuschung war. In dieser Selbsttäuschung be¬
merkt er einmal: "Man hat gut reden von aller Art Jmmoralitüt! Aber sie
aushalten können! Z. V. würde ich ein gebrochnes Wort oder gar einen


Friedrich Nietzsche

hat,« sich von den Umständen ans eine entwürdigende Art leiten lassen." Die
Sucht, dem Christentum um jeden Preis eins zu versetzen, kann dem Primaner
nicht zur Schuld angerechnet werden, sie war die Schuld der Welt, in der er
— damals vielleicht nur durch Lektüre — lebte; sucht er doch sogar noch das
Christentum selbst von dem Vorwurf zu befreien, indem er von verkehrt auf¬
gefaßten christlichen Sätzen spricht. Aber er hätte sich später durch die Welt¬
geschichte belehren lassen können, daß man es in diesem Falle mehr mit ver-
schiednen Völkercharakteren, als mit verschiednen Glaubenslehren zu thun hat.
Die Türken bentttzen ihren Fatalismus, der sie ja unter Umständen zu Helden¬
thaten befähigt, für gewöhnlich zur Beschönigung ihrer Faulheit, während die
mittelalterlichen Italiener, auch die Deutschen, mit ihrem Vorsehungsglanben
ungemein regsam gewesen sind. Übrigens besteht zwischen den beiden Glaubens¬
vorstellungen kein wesentlicher Unterschied; in beiden wird angenommen, daß
die Dinge von der höchsten Macht bis ins Kleinste geordnet seien, nnr daß
das Wort Vorsehung mehr väterliche Liebe und Milde und Gewährenlassen
im Unbedeutenden einschließt. Harte Naturen und eigensinnige Köpfe ziehen
die härtere Vorstellung vor; weil sie entschlossen sind, unter allen Umstünden
ihren Willen durchzusetzen, nennen sie diesen ihren Willen eine unabänderliche
Fügung. Daher haben Calvin, die Holländer und die Schotten die Lehre von
der Prädestination ausgebildet. Nietzsche nennt gern den Menschen sein eignes
Fatum, ist aber selbst kein Calvin geworden, weil er zwar entschlossen genug
war, das durchzusetzen, was er gerade wollte, aber aller Augenblicke etwas
andres als das zu wollende erkannte.

Unter den erdachten Vorstellungen und verwerflichen Empfindungen, die
seiner Ansicht nach das Christentum in die Europäerseele eingeschmuggelt habe»
sollte, waren ihm keine mehr verhaßt, als die Vorstellungen Sünde, Schuld
und Verantwortung und die entsprechenden Gefühle. Als es ihm im Wohl-
gefühl der Genesung von schweren körperlichen Leiden gelang, alle diese Vor¬
stellungen und Gefühle gründlich loszuwerden, da kam er sich vor, wie ein
Mensch, der dazu verurteilt gewesen sei, im Innern der Erde Maulwurfsarbeit
zu verrichten, und der sich um zum Lichte emporgegraben habe und, als Mensch
neugeboren, die Morgenröte begrüße. Wenn er sich nun frage, was er da
unten eigentlich gemacht habe, so finde er, er sei heruntergestiegen, um ein
gewaltiges Werk zu vollenden: „ein altes Vertrauen zu untergraben, unser
Vertrauen auf die Moral zu untergraben" (IV, 3 bis 4). Daß dieses Unter¬
nehmen bei Nietzsche nicht denselben Sinn haben kann, wie bei manchen Lüst¬
lingen, die sich derselben Aufgabe unterziehen, folgt zur Genüge aus dem im
ersten Artikel gesagten. Wir werden später sehen, daß die Jmmoralitcit, deren
er sich rühmt, eine bloße Selbsttäuschung war. In dieser Selbsttäuschung be¬
merkt er einmal: „Man hat gut reden von aller Art Jmmoralitüt! Aber sie
aushalten können! Z. V. würde ich ein gebrochnes Wort oder gar einen


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[0447] Friedrich Nietzsche hat,« sich von den Umständen ans eine entwürdigende Art leiten lassen." Die Sucht, dem Christentum um jeden Preis eins zu versetzen, kann dem Primaner nicht zur Schuld angerechnet werden, sie war die Schuld der Welt, in der er — damals vielleicht nur durch Lektüre — lebte; sucht er doch sogar noch das Christentum selbst von dem Vorwurf zu befreien, indem er von verkehrt auf¬ gefaßten christlichen Sätzen spricht. Aber er hätte sich später durch die Welt¬ geschichte belehren lassen können, daß man es in diesem Falle mehr mit ver- schiednen Völkercharakteren, als mit verschiednen Glaubenslehren zu thun hat. Die Türken bentttzen ihren Fatalismus, der sie ja unter Umständen zu Helden¬ thaten befähigt, für gewöhnlich zur Beschönigung ihrer Faulheit, während die mittelalterlichen Italiener, auch die Deutschen, mit ihrem Vorsehungsglanben ungemein regsam gewesen sind. Übrigens besteht zwischen den beiden Glaubens¬ vorstellungen kein wesentlicher Unterschied; in beiden wird angenommen, daß die Dinge von der höchsten Macht bis ins Kleinste geordnet seien, nnr daß das Wort Vorsehung mehr väterliche Liebe und Milde und Gewährenlassen im Unbedeutenden einschließt. Harte Naturen und eigensinnige Köpfe ziehen die härtere Vorstellung vor; weil sie entschlossen sind, unter allen Umstünden ihren Willen durchzusetzen, nennen sie diesen ihren Willen eine unabänderliche Fügung. Daher haben Calvin, die Holländer und die Schotten die Lehre von der Prädestination ausgebildet. Nietzsche nennt gern den Menschen sein eignes Fatum, ist aber selbst kein Calvin geworden, weil er zwar entschlossen genug war, das durchzusetzen, was er gerade wollte, aber aller Augenblicke etwas andres als das zu wollende erkannte. Unter den erdachten Vorstellungen und verwerflichen Empfindungen, die seiner Ansicht nach das Christentum in die Europäerseele eingeschmuggelt habe» sollte, waren ihm keine mehr verhaßt, als die Vorstellungen Sünde, Schuld und Verantwortung und die entsprechenden Gefühle. Als es ihm im Wohl- gefühl der Genesung von schweren körperlichen Leiden gelang, alle diese Vor¬ stellungen und Gefühle gründlich loszuwerden, da kam er sich vor, wie ein Mensch, der dazu verurteilt gewesen sei, im Innern der Erde Maulwurfsarbeit zu verrichten, und der sich um zum Lichte emporgegraben habe und, als Mensch neugeboren, die Morgenröte begrüße. Wenn er sich nun frage, was er da unten eigentlich gemacht habe, so finde er, er sei heruntergestiegen, um ein gewaltiges Werk zu vollenden: „ein altes Vertrauen zu untergraben, unser Vertrauen auf die Moral zu untergraben" (IV, 3 bis 4). Daß dieses Unter¬ nehmen bei Nietzsche nicht denselben Sinn haben kann, wie bei manchen Lüst¬ lingen, die sich derselben Aufgabe unterziehen, folgt zur Genüge aus dem im ersten Artikel gesagten. Wir werden später sehen, daß die Jmmoralitcit, deren er sich rühmt, eine bloße Selbsttäuschung war. In dieser Selbsttäuschung be¬ merkt er einmal: „Man hat gut reden von aller Art Jmmoralitüt! Aber sie aushalten können! Z. V. würde ich ein gebrochnes Wort oder gar einen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/447>, abgerufen am 23.07.2024.