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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

zurückzugeben. Nietzsche aber schreibt: "Wie ganz irrtümlich ist die Empfin¬
dung! Allen unsern Bewegungen auf Grund von Empfindungen liegen Ur¬
teile zu Grunde -- einverleibte Meinungen über bestimmte Ursachen und
Wirkungen, über einen Mechanismus, über unser Ich usw. Alles ist aber
falsch! Trotzdem: wir mögen es besser wissen, sobald wir praktisch handeln,
müssen wir wider das bessere Wissen handeln und uns in den Dienst der
Empfindungsurteile stellen!" (XII). Also unsre Vorstellungen täuschen und
unsre Empfindungen täuschen; und woher sollte uns das bessere Wissen
kommen, wenn auch, wie er oft lehrt, alle Philosophien trügen, die doch allein
besseres Wissen vermitteln könnten? Nun hat er ja später die Skepsis da¬
durch zu überwinden versucht, daß er sich einredete: die Wirklichkeit ist so,
wie sie ist, die Sinne täuschen nicht, das Leibliche ist wirklich, und es ist das
allein Wirkliche! Aber die erlangte philosophische Erkenntnis hat er doch durch
solche Gewaltsprüche nicht aus seiner Seele auswischen können, und die Zweifel
brechen immer wieder durch. Den metaphysischen Idealismus, d. h. die Über¬
zeugung, daß die Stofflichkeit der Körperwelt nur eine Vorstellung unsers
Bewußtseins sei, wird einer nicht mehr los, wenn er sie einmal gewonnen hat.
Nietzsche drückt sie einmal sehr hübsch aus, indem er meint, von einem in be¬
stimmten Richtungen wirkenden elektrischen Strom würden wir in der Hand
genau dieselbe Empfindung haben, wie wenn wir einen harten Körper an¬
fühlten. Das eine, was ihm wirklich gewiß gewesen zu sein scheint, ist nur
eine Negation: die Unmöglichkeit eines persönlichen Gottes.

Es dürfte die Beschäftigung mit der vorsokratischen Philosophie der
Griechen gewesen sein, was ihm diese Ansicht zur klaren Überzeugung erhob.
In seiner Darstellung der Lehre des Anaximander (X, 23) liest man: "Nie
kann also ein Wesen, das bestimmte Eigenschaften besitzt und aus ihnen besteht,
Ursprung und Prinzip der Dinge sein; das wahrhaft Seiende, schloß Anaxi¬
mander, kann keine bestimmten Eigenschaften besitzen, sonst würde es, wie alle
andern Dinge, entstanden sein und zu Grunde gehen müssen. Damit das
Werden nicht aufhört, muß das UrWesen unbestimmt sein. Die Unsterblichkeit
und Ewigkeit des UrWesens liegt nicht in einer Unendlichkeit und Unausschöpf-
barkeit, wie gemeinhin die Erklärer des Anaximander annehmen, sondern darin,
daß es der bestimmten, zum Untergange führenden Qualitäten bar ist: wes¬
halb es auch seinen Namen, als "das Unbestimmte" trägt" (X, 23). Wenn
er sich in diesen Gedanken verbiß, so mußte er dann allerdings den persön¬
lichen Gott undenkbar finden. Um den ^von,- des Anaxcigoras aber kam er
dadurch herum, daß er in ihm -- ob mit Recht oder mit Unrecht, vermag
ich nicht zu entscheiden -- keineswegs den Weltenordner, sondern nur den
ersten Anstoß zur Bewegung sah, die blind nach mechanischen Gesetzen fort¬
schreitend, Ordnung und Zweckmäßigkeit rein zufällig erzeuge.

Wie schwierig es ist, sich einen persönlichen Gott zu denken, empfindet


Friedrich Nietzsche

zurückzugeben. Nietzsche aber schreibt: „Wie ganz irrtümlich ist die Empfin¬
dung! Allen unsern Bewegungen auf Grund von Empfindungen liegen Ur¬
teile zu Grunde — einverleibte Meinungen über bestimmte Ursachen und
Wirkungen, über einen Mechanismus, über unser Ich usw. Alles ist aber
falsch! Trotzdem: wir mögen es besser wissen, sobald wir praktisch handeln,
müssen wir wider das bessere Wissen handeln und uns in den Dienst der
Empfindungsurteile stellen!" (XII). Also unsre Vorstellungen täuschen und
unsre Empfindungen täuschen; und woher sollte uns das bessere Wissen
kommen, wenn auch, wie er oft lehrt, alle Philosophien trügen, die doch allein
besseres Wissen vermitteln könnten? Nun hat er ja später die Skepsis da¬
durch zu überwinden versucht, daß er sich einredete: die Wirklichkeit ist so,
wie sie ist, die Sinne täuschen nicht, das Leibliche ist wirklich, und es ist das
allein Wirkliche! Aber die erlangte philosophische Erkenntnis hat er doch durch
solche Gewaltsprüche nicht aus seiner Seele auswischen können, und die Zweifel
brechen immer wieder durch. Den metaphysischen Idealismus, d. h. die Über¬
zeugung, daß die Stofflichkeit der Körperwelt nur eine Vorstellung unsers
Bewußtseins sei, wird einer nicht mehr los, wenn er sie einmal gewonnen hat.
Nietzsche drückt sie einmal sehr hübsch aus, indem er meint, von einem in be¬
stimmten Richtungen wirkenden elektrischen Strom würden wir in der Hand
genau dieselbe Empfindung haben, wie wenn wir einen harten Körper an¬
fühlten. Das eine, was ihm wirklich gewiß gewesen zu sein scheint, ist nur
eine Negation: die Unmöglichkeit eines persönlichen Gottes.

Es dürfte die Beschäftigung mit der vorsokratischen Philosophie der
Griechen gewesen sein, was ihm diese Ansicht zur klaren Überzeugung erhob.
In seiner Darstellung der Lehre des Anaximander (X, 23) liest man: „Nie
kann also ein Wesen, das bestimmte Eigenschaften besitzt und aus ihnen besteht,
Ursprung und Prinzip der Dinge sein; das wahrhaft Seiende, schloß Anaxi¬
mander, kann keine bestimmten Eigenschaften besitzen, sonst würde es, wie alle
andern Dinge, entstanden sein und zu Grunde gehen müssen. Damit das
Werden nicht aufhört, muß das UrWesen unbestimmt sein. Die Unsterblichkeit
und Ewigkeit des UrWesens liegt nicht in einer Unendlichkeit und Unausschöpf-
barkeit, wie gemeinhin die Erklärer des Anaximander annehmen, sondern darin,
daß es der bestimmten, zum Untergange führenden Qualitäten bar ist: wes¬
halb es auch seinen Namen, als »das Unbestimmte« trägt" (X, 23). Wenn
er sich in diesen Gedanken verbiß, so mußte er dann allerdings den persön¬
lichen Gott undenkbar finden. Um den ^von,- des Anaxcigoras aber kam er
dadurch herum, daß er in ihm — ob mit Recht oder mit Unrecht, vermag
ich nicht zu entscheiden — keineswegs den Weltenordner, sondern nur den
ersten Anstoß zur Bewegung sah, die blind nach mechanischen Gesetzen fort¬
schreitend, Ordnung und Zweckmäßigkeit rein zufällig erzeuge.

Wie schwierig es ist, sich einen persönlichen Gott zu denken, empfindet


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[0443] Friedrich Nietzsche zurückzugeben. Nietzsche aber schreibt: „Wie ganz irrtümlich ist die Empfin¬ dung! Allen unsern Bewegungen auf Grund von Empfindungen liegen Ur¬ teile zu Grunde — einverleibte Meinungen über bestimmte Ursachen und Wirkungen, über einen Mechanismus, über unser Ich usw. Alles ist aber falsch! Trotzdem: wir mögen es besser wissen, sobald wir praktisch handeln, müssen wir wider das bessere Wissen handeln und uns in den Dienst der Empfindungsurteile stellen!" (XII). Also unsre Vorstellungen täuschen und unsre Empfindungen täuschen; und woher sollte uns das bessere Wissen kommen, wenn auch, wie er oft lehrt, alle Philosophien trügen, die doch allein besseres Wissen vermitteln könnten? Nun hat er ja später die Skepsis da¬ durch zu überwinden versucht, daß er sich einredete: die Wirklichkeit ist so, wie sie ist, die Sinne täuschen nicht, das Leibliche ist wirklich, und es ist das allein Wirkliche! Aber die erlangte philosophische Erkenntnis hat er doch durch solche Gewaltsprüche nicht aus seiner Seele auswischen können, und die Zweifel brechen immer wieder durch. Den metaphysischen Idealismus, d. h. die Über¬ zeugung, daß die Stofflichkeit der Körperwelt nur eine Vorstellung unsers Bewußtseins sei, wird einer nicht mehr los, wenn er sie einmal gewonnen hat. Nietzsche drückt sie einmal sehr hübsch aus, indem er meint, von einem in be¬ stimmten Richtungen wirkenden elektrischen Strom würden wir in der Hand genau dieselbe Empfindung haben, wie wenn wir einen harten Körper an¬ fühlten. Das eine, was ihm wirklich gewiß gewesen zu sein scheint, ist nur eine Negation: die Unmöglichkeit eines persönlichen Gottes. Es dürfte die Beschäftigung mit der vorsokratischen Philosophie der Griechen gewesen sein, was ihm diese Ansicht zur klaren Überzeugung erhob. In seiner Darstellung der Lehre des Anaximander (X, 23) liest man: „Nie kann also ein Wesen, das bestimmte Eigenschaften besitzt und aus ihnen besteht, Ursprung und Prinzip der Dinge sein; das wahrhaft Seiende, schloß Anaxi¬ mander, kann keine bestimmten Eigenschaften besitzen, sonst würde es, wie alle andern Dinge, entstanden sein und zu Grunde gehen müssen. Damit das Werden nicht aufhört, muß das UrWesen unbestimmt sein. Die Unsterblichkeit und Ewigkeit des UrWesens liegt nicht in einer Unendlichkeit und Unausschöpf- barkeit, wie gemeinhin die Erklärer des Anaximander annehmen, sondern darin, daß es der bestimmten, zum Untergange führenden Qualitäten bar ist: wes¬ halb es auch seinen Namen, als »das Unbestimmte« trägt" (X, 23). Wenn er sich in diesen Gedanken verbiß, so mußte er dann allerdings den persön¬ lichen Gott undenkbar finden. Um den ^von,- des Anaxcigoras aber kam er dadurch herum, daß er in ihm — ob mit Recht oder mit Unrecht, vermag ich nicht zu entscheiden — keineswegs den Weltenordner, sondern nur den ersten Anstoß zur Bewegung sah, die blind nach mechanischen Gesetzen fort¬ schreitend, Ordnung und Zweckmäßigkeit rein zufällig erzeuge. Wie schwierig es ist, sich einen persönlichen Gott zu denken, empfindet

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/443>, abgerufen am 23.07.2024.