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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

Sehen Sie mal, sagte ich meinem Begleiter, gerade so müssen wir unserm
Herrgott vorkommen. Während ich jedoch trotz alledem durch allen Wirrwarr
und alle Verrücktheiten des Lebens immer das Walten einer ordnenden Ver¬
minst habe hindurchschimmern sehen, war Nietzsche nicht so glücklich. Ihm
schien alles Zufall, und das Vernünftige nur ein einzelner Fall des Mög¬
lichen zu sein. Dieses schien ihm das Endergebnis jeder strengen Weltbetrach¬
tung und aller gewissenhaften Forschung zu sein, und er fand daher auch
-- ein Gedanke, der oft ausgesprochen worden ist --, daß das Bemühen der
Reformatoren, den christlichen Glauben zu reinigen, zu seiner völligen Auf¬
lösung geführt habe. Mit alledem war er nur ein Kind seiner Zeit und
seines Gesellschaftskreises. Was ihn an David Strauß empörte, war natürlich
nicht dessen Atheismus, sondern, wie schon bemerkt worden ist, die Leichtfertig¬
keit in der Behandlung furchtbarer Fragen und die Unehrlichkeit, mit der er
die wissenschaftliche Ansicht seines Kreises als einen neuen Glauben bezeichnete,
um den Anschein zu erwecken, als könne man auch als Atheist Religion haben,
eine Heuchelei, die ja heute noch fortgesetzt wird. Die Bedeutung Nietzsches
besteht unter anderm darin, daß er der einzige vollkommen ehrliche, vollkommen
aufrichtige und ganz folgerichtige Bekenner des Atheismus ist.

Seiner Art Hütte es natürlich nicht entsprochen, den von andern er-
fundnen Atheismus als fertige Meinung anzunehmen, in welchem Falle aller¬
dings auch der Atheismus ein Glaube genannt werden darf. Er errang sich
seine Ansicht, sie fortwährend umbildend, in ernsten Studien und schweren
Kämpfen. Schon durch Kant scheint er sich in einen unerträglichen Zustand
versetzt gefühlt zu haben. "Gegen Kant ist dann noch immer einzuwenden,
daß, alle seine Sätze zugegeben, doch noch die volle Möglichkeit bestehen bleibt,
daß die Welt so ist, wie sie uns erscheint. Persönlich ist übrigens diese ganze
Position unbrauchbar; in dieser Skepsis kann niemand leben. Wir müssen
über diese Skepsis hinaus, wir müssen sie vergessen" (X, 215). Er selbst ist
aber niemals darüber hinausgekommen. Daß er unzähligem"! (z. B. VIII, 231)
die Religion beschuldigt, eine eingebildete, völlig unwirkliche Welt geschaffen
zu haben, die nicht einmal, wie die Traumwelt, ein Abbild der Wirklichkeit,
sondern reine Erdichtung sei, das will bei seinem Haß gegen das Christentum
noch nichts sagen. Aber er erklärt (IX, 66 und sonst) die Vorstellung an sich
für Trug. Er erklärt nicht allein den reinen Geist für eine Einbildung,
sondern auch das "rein Menschliche" für eine "Illusion der gemeinsten Art"
(IX, 74). Die Erscheinungen sind Spiegelungen des Ureinen, und alles, was
da ist, ist nur Vorstellung. "Unser Schmerz ist ein vorgestellter, unser Leben
ist ein vorgestelltes Leben" <IX, 172). Das gewisseste, was wir haben, ist
doch wohl die Empfindung; wenn ein Philosoph an seinem eignen Dasein
zweifelt, braucht mau ihn nur mit einer Nadel zu stechen, um ihm die Über¬
zeugung davon, daß er wirklich vorhanden ist, wenigstens auf einen Augenblick


Friedrich Nietzsche

Sehen Sie mal, sagte ich meinem Begleiter, gerade so müssen wir unserm
Herrgott vorkommen. Während ich jedoch trotz alledem durch allen Wirrwarr
und alle Verrücktheiten des Lebens immer das Walten einer ordnenden Ver¬
minst habe hindurchschimmern sehen, war Nietzsche nicht so glücklich. Ihm
schien alles Zufall, und das Vernünftige nur ein einzelner Fall des Mög¬
lichen zu sein. Dieses schien ihm das Endergebnis jeder strengen Weltbetrach¬
tung und aller gewissenhaften Forschung zu sein, und er fand daher auch
— ein Gedanke, der oft ausgesprochen worden ist —, daß das Bemühen der
Reformatoren, den christlichen Glauben zu reinigen, zu seiner völligen Auf¬
lösung geführt habe. Mit alledem war er nur ein Kind seiner Zeit und
seines Gesellschaftskreises. Was ihn an David Strauß empörte, war natürlich
nicht dessen Atheismus, sondern, wie schon bemerkt worden ist, die Leichtfertig¬
keit in der Behandlung furchtbarer Fragen und die Unehrlichkeit, mit der er
die wissenschaftliche Ansicht seines Kreises als einen neuen Glauben bezeichnete,
um den Anschein zu erwecken, als könne man auch als Atheist Religion haben,
eine Heuchelei, die ja heute noch fortgesetzt wird. Die Bedeutung Nietzsches
besteht unter anderm darin, daß er der einzige vollkommen ehrliche, vollkommen
aufrichtige und ganz folgerichtige Bekenner des Atheismus ist.

Seiner Art Hütte es natürlich nicht entsprochen, den von andern er-
fundnen Atheismus als fertige Meinung anzunehmen, in welchem Falle aller¬
dings auch der Atheismus ein Glaube genannt werden darf. Er errang sich
seine Ansicht, sie fortwährend umbildend, in ernsten Studien und schweren
Kämpfen. Schon durch Kant scheint er sich in einen unerträglichen Zustand
versetzt gefühlt zu haben. „Gegen Kant ist dann noch immer einzuwenden,
daß, alle seine Sätze zugegeben, doch noch die volle Möglichkeit bestehen bleibt,
daß die Welt so ist, wie sie uns erscheint. Persönlich ist übrigens diese ganze
Position unbrauchbar; in dieser Skepsis kann niemand leben. Wir müssen
über diese Skepsis hinaus, wir müssen sie vergessen" (X, 215). Er selbst ist
aber niemals darüber hinausgekommen. Daß er unzähligem«! (z. B. VIII, 231)
die Religion beschuldigt, eine eingebildete, völlig unwirkliche Welt geschaffen
zu haben, die nicht einmal, wie die Traumwelt, ein Abbild der Wirklichkeit,
sondern reine Erdichtung sei, das will bei seinem Haß gegen das Christentum
noch nichts sagen. Aber er erklärt (IX, 66 und sonst) die Vorstellung an sich
für Trug. Er erklärt nicht allein den reinen Geist für eine Einbildung,
sondern auch das „rein Menschliche" für eine „Illusion der gemeinsten Art"
(IX, 74). Die Erscheinungen sind Spiegelungen des Ureinen, und alles, was
da ist, ist nur Vorstellung. „Unser Schmerz ist ein vorgestellter, unser Leben
ist ein vorgestelltes Leben" <IX, 172). Das gewisseste, was wir haben, ist
doch wohl die Empfindung; wenn ein Philosoph an seinem eignen Dasein
zweifelt, braucht mau ihn nur mit einer Nadel zu stechen, um ihm die Über¬
zeugung davon, daß er wirklich vorhanden ist, wenigstens auf einen Augenblick


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[0442] Friedrich Nietzsche Sehen Sie mal, sagte ich meinem Begleiter, gerade so müssen wir unserm Herrgott vorkommen. Während ich jedoch trotz alledem durch allen Wirrwarr und alle Verrücktheiten des Lebens immer das Walten einer ordnenden Ver¬ minst habe hindurchschimmern sehen, war Nietzsche nicht so glücklich. Ihm schien alles Zufall, und das Vernünftige nur ein einzelner Fall des Mög¬ lichen zu sein. Dieses schien ihm das Endergebnis jeder strengen Weltbetrach¬ tung und aller gewissenhaften Forschung zu sein, und er fand daher auch — ein Gedanke, der oft ausgesprochen worden ist —, daß das Bemühen der Reformatoren, den christlichen Glauben zu reinigen, zu seiner völligen Auf¬ lösung geführt habe. Mit alledem war er nur ein Kind seiner Zeit und seines Gesellschaftskreises. Was ihn an David Strauß empörte, war natürlich nicht dessen Atheismus, sondern, wie schon bemerkt worden ist, die Leichtfertig¬ keit in der Behandlung furchtbarer Fragen und die Unehrlichkeit, mit der er die wissenschaftliche Ansicht seines Kreises als einen neuen Glauben bezeichnete, um den Anschein zu erwecken, als könne man auch als Atheist Religion haben, eine Heuchelei, die ja heute noch fortgesetzt wird. Die Bedeutung Nietzsches besteht unter anderm darin, daß er der einzige vollkommen ehrliche, vollkommen aufrichtige und ganz folgerichtige Bekenner des Atheismus ist. Seiner Art Hütte es natürlich nicht entsprochen, den von andern er- fundnen Atheismus als fertige Meinung anzunehmen, in welchem Falle aller¬ dings auch der Atheismus ein Glaube genannt werden darf. Er errang sich seine Ansicht, sie fortwährend umbildend, in ernsten Studien und schweren Kämpfen. Schon durch Kant scheint er sich in einen unerträglichen Zustand versetzt gefühlt zu haben. „Gegen Kant ist dann noch immer einzuwenden, daß, alle seine Sätze zugegeben, doch noch die volle Möglichkeit bestehen bleibt, daß die Welt so ist, wie sie uns erscheint. Persönlich ist übrigens diese ganze Position unbrauchbar; in dieser Skepsis kann niemand leben. Wir müssen über diese Skepsis hinaus, wir müssen sie vergessen" (X, 215). Er selbst ist aber niemals darüber hinausgekommen. Daß er unzähligem«! (z. B. VIII, 231) die Religion beschuldigt, eine eingebildete, völlig unwirkliche Welt geschaffen zu haben, die nicht einmal, wie die Traumwelt, ein Abbild der Wirklichkeit, sondern reine Erdichtung sei, das will bei seinem Haß gegen das Christentum noch nichts sagen. Aber er erklärt (IX, 66 und sonst) die Vorstellung an sich für Trug. Er erklärt nicht allein den reinen Geist für eine Einbildung, sondern auch das „rein Menschliche" für eine „Illusion der gemeinsten Art" (IX, 74). Die Erscheinungen sind Spiegelungen des Ureinen, und alles, was da ist, ist nur Vorstellung. „Unser Schmerz ist ein vorgestellter, unser Leben ist ein vorgestelltes Leben" <IX, 172). Das gewisseste, was wir haben, ist doch wohl die Empfindung; wenn ein Philosoph an seinem eignen Dasein zweifelt, braucht mau ihn nur mit einer Nadel zu stechen, um ihm die Über¬ zeugung davon, daß er wirklich vorhanden ist, wenigstens auf einen Augenblick

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/442>, abgerufen am 28.12.2024.