Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.Manchesterlehre und Christentum Egoismus kommt aber beim Menschen nirgends vor, denn schon von Natur Wenn zwei Kaufleute einander gegenüber treten, jeder in der Absicht, Wer dazu beitragen will, daß wir den sozialen Zwiespalt im Innern Manchesterlehre und Christentum Egoismus kommt aber beim Menschen nirgends vor, denn schon von Natur Wenn zwei Kaufleute einander gegenüber treten, jeder in der Absicht, Wer dazu beitragen will, daß wir den sozialen Zwiespalt im Innern <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0427" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228063"/> <fw type="header" place="top"> Manchesterlehre und Christentum</fw><lb/> <p xml:id="ID_1174" prev="#ID_1173"> Egoismus kommt aber beim Menschen nirgends vor, denn schon von Natur<lb/> ist die Mischung und das Stärkeverhältnis der seelischen Kräfte uno Triebe<lb/> bei den Einzelnen sehr verschieden.</p><lb/> <p xml:id="ID_1175"> Wenn zwei Kaufleute einander gegenüber treten, jeder in der Absicht,<lb/> eine Ware auszutauschen, um eine andre dafür einzutauschen, .so berühren sie<lb/> sich gewissermaßen nur mit einer Stelle der Epidermis, worin sich sür den<lb/> Augenblick ihr Egoismus, ihr Streben nach unmittelbarem Gewinn und Vorteil<lb/> zusammendrängt. Unter normalen Umstünden wird man hier von einer Gleich¬<lb/> heit der Egoismen sprechen können, und die beiderseitige Einwilligung in den<lb/> Tanschvertrag wird in diesem Fall auch ein materiell der Idee der Gerechtig¬<lb/> keit entsprechendes Verhältnis schaffen. Sowie aber ein Mensch, gegen Ent¬<lb/> gelt, seine Leistungsfähigkeit dauernd in den Dienst eines andern stellt, so be¬<lb/> gründet sich ein Verhältnis, das aus dem Umkreis des juristisch abgegrenzten<lb/> Vertrags heraustritt. Die manchesterliche Anschauung, wonach die zum Kauf<lb/> angebotne und gegen Entgelt hingegebne Arbeitskraft, deswegen weil das<lb/> Motiv der Hingabe ein „egoistisches" sei, einer Ware gleichzuachten wäre, und<lb/> das sich aus dem Arbeitsvertrag ergebende Verhältnis keinen andern sittlichen<lb/> Inhalt haben und demnach keine andern Pflichten schaffen soll, als jede be¬<lb/> liebige Abmachung an der Börse oder auf dem Rennplatz, erscheint dem<lb/> Christen, der im Mitmenschen immer die unsterbliche Seele und die Gottes-<lb/> kindschaft anzuerkennen gewohnt ist, beinahe als Ruchlosigkeit. Jedenfalls<lb/> darf die Kirche, wenn sie nicht ihr Prinzip der Wertschätzung des unsterblichen<lb/> Teiles im Menschen aufgeben will, zu der Theorie, daß ein auf sittlich<lb/> gewerteter Leistung begründetes Arbeitsverhältnis für den Kapitalisten, den<lb/> sogenannten Arbeitgeber, keinerlei sittliche Verpflichtung schaffe, niemals<lb/> ihre Zustimmung geben. Den radikalen Unterschied zwischen dem kaufmän¬<lb/> nischen Warentauschgeschäft und dem Vertrag über dauernde Leistungen zeigt<lb/> auch die tägliche Erfahrung. Nachdem zwei Händler ihr „Top. abgemacht"<lb/> gesprochen haben, gehen sie vollkommen gleichgiltigen Sinnes aus einander.<lb/> Der Arbeiter bringt ins Geschäft Haß oder Liebe mit, er trägt Haß oder<lb/> Liebe mit nach Hause, je nachdem die Behandlung, die er erfährt, seinen Vor¬<lb/> stellungen von Gerechtigkeit entspricht oder nicht.</p><lb/> <p xml:id="ID_1176" next="#ID_1177"> Wer dazu beitragen will, daß wir den sozialen Zwiespalt im Innern<lb/> überwinden, und daß sich allmählich wieder ein Weg öffne, der aus dem ha߬<lb/> erfüllten Kampf der Klassen herausführt, der muß vor allem den Aberglauben<lb/> zerstören helfen, deu das Manchestertum predigt, den Aberglauben, daß es der<lb/> angeborne und unausrottbare „Egoismus" des Menschen unmöglich mache, in<lb/> versöhnender Weise das rein wirtschaftliche Verhältnis des Arbeiters zum<lb/> Kapitalisten durch die Förderung des Bewußtseins einer doppelseitigen Ver¬<lb/> pflichtung zu einem sittlichen, weiterhin auch rechtlich immer mehr zu festigenden<lb/> fortzueutwickeln. Nicht daß den Besitzenden das Recht bestritten werden soll,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0427]
Manchesterlehre und Christentum
Egoismus kommt aber beim Menschen nirgends vor, denn schon von Natur
ist die Mischung und das Stärkeverhältnis der seelischen Kräfte uno Triebe
bei den Einzelnen sehr verschieden.
Wenn zwei Kaufleute einander gegenüber treten, jeder in der Absicht,
eine Ware auszutauschen, um eine andre dafür einzutauschen, .so berühren sie
sich gewissermaßen nur mit einer Stelle der Epidermis, worin sich sür den
Augenblick ihr Egoismus, ihr Streben nach unmittelbarem Gewinn und Vorteil
zusammendrängt. Unter normalen Umstünden wird man hier von einer Gleich¬
heit der Egoismen sprechen können, und die beiderseitige Einwilligung in den
Tanschvertrag wird in diesem Fall auch ein materiell der Idee der Gerechtig¬
keit entsprechendes Verhältnis schaffen. Sowie aber ein Mensch, gegen Ent¬
gelt, seine Leistungsfähigkeit dauernd in den Dienst eines andern stellt, so be¬
gründet sich ein Verhältnis, das aus dem Umkreis des juristisch abgegrenzten
Vertrags heraustritt. Die manchesterliche Anschauung, wonach die zum Kauf
angebotne und gegen Entgelt hingegebne Arbeitskraft, deswegen weil das
Motiv der Hingabe ein „egoistisches" sei, einer Ware gleichzuachten wäre, und
das sich aus dem Arbeitsvertrag ergebende Verhältnis keinen andern sittlichen
Inhalt haben und demnach keine andern Pflichten schaffen soll, als jede be¬
liebige Abmachung an der Börse oder auf dem Rennplatz, erscheint dem
Christen, der im Mitmenschen immer die unsterbliche Seele und die Gottes-
kindschaft anzuerkennen gewohnt ist, beinahe als Ruchlosigkeit. Jedenfalls
darf die Kirche, wenn sie nicht ihr Prinzip der Wertschätzung des unsterblichen
Teiles im Menschen aufgeben will, zu der Theorie, daß ein auf sittlich
gewerteter Leistung begründetes Arbeitsverhältnis für den Kapitalisten, den
sogenannten Arbeitgeber, keinerlei sittliche Verpflichtung schaffe, niemals
ihre Zustimmung geben. Den radikalen Unterschied zwischen dem kaufmän¬
nischen Warentauschgeschäft und dem Vertrag über dauernde Leistungen zeigt
auch die tägliche Erfahrung. Nachdem zwei Händler ihr „Top. abgemacht"
gesprochen haben, gehen sie vollkommen gleichgiltigen Sinnes aus einander.
Der Arbeiter bringt ins Geschäft Haß oder Liebe mit, er trägt Haß oder
Liebe mit nach Hause, je nachdem die Behandlung, die er erfährt, seinen Vor¬
stellungen von Gerechtigkeit entspricht oder nicht.
Wer dazu beitragen will, daß wir den sozialen Zwiespalt im Innern
überwinden, und daß sich allmählich wieder ein Weg öffne, der aus dem ha߬
erfüllten Kampf der Klassen herausführt, der muß vor allem den Aberglauben
zerstören helfen, deu das Manchestertum predigt, den Aberglauben, daß es der
angeborne und unausrottbare „Egoismus" des Menschen unmöglich mache, in
versöhnender Weise das rein wirtschaftliche Verhältnis des Arbeiters zum
Kapitalisten durch die Förderung des Bewußtseins einer doppelseitigen Ver¬
pflichtung zu einem sittlichen, weiterhin auch rechtlich immer mehr zu festigenden
fortzueutwickeln. Nicht daß den Besitzenden das Recht bestritten werden soll,
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