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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Neue Romane und Novellen

Historiker und Ästhetiker Karl Lemcke in Stuttgart ist. Ohne diesen doppelten
Verrat wären wir niemals auf den Gedanken gekommen, daß der Verfasser
der "Populären Ästhetik," der die Welt abstrakter Ideen mit der nüchternen
Wirklichkeit so eng verknüpft hat, wie keiner seiner Vorgänger, in der prak¬
tischen Ausübung seiner Lehren zu einem Phantasten werden könnte, der
über seinen Träumereien, seinen Rückblicken in die Vergangenheit, seinen
empfindsamen Regungen für versunkene Kuriositäten in Menschengestalt die
künstlerische Gestaltung eines dichterischen Werkes ganz aus den Augen verliert.
In dieser Erzählung von Menschenschicksalen, die mit der Schleswig-holsteinischen
Erhebung von 1848 beginnt und die dabei beteiligten Personen etwa bis zum
Jahre 1870 begleitet, hat der Verfasser eine Zickzacklinie gewählt. Von
Holländisch-Indien geht diese Linie über einige Hafenstädte und über Hamburg
wieder nach Schleswig-Holstein zurück. Aber länger als die Haltcstationen, die
der Held der Erzählung macht, sind die des Erzählers. Es ist nicht zu be¬
schreiben, wie er in eifriger Geschäftigkeit immer wieder den Strom der Schilde¬
rung unterbricht, um eine neue Geschichte in eine alte ciuzuschachtelu und
mit behäbiger Lust an der Kleinmalerei die Aufmerksamkeit des Lesers durch
immer neue Figuren zu fesseln, aber zuletzt auch zu verwirren. Es ist nicht
einmal etwas neues. Lemcke ist ein Schüler von Wilhelm Raabe, von dem
er aber nur das äußere Machwerk, das Einschachtelnngssystem gelernt hat.
Bis zu dem tiefen Schacht, aus dem Raabe seinen pessimistischen, mitunter
sogar bitterbösen Humor herausholt, ist Lemcke aber nicht gedrungen, und da
es ihm durchaus trotz seines Erfindungstalents nicht gelingt, etwas selbst¬
ständiges zu schaffen, so sollte er, wenn der dichterische Trieb stärker geworden
O als sein wissenschaftlicher, die Muster der Litteraturgeschichte beiseite lassen
Und eine eigne schriftstellerische Physiognomie zeigen, aus der wir erst ersehen
können, ob er etwas persönliches zu sagen hat oder nicht.

Mit Telmann verwandt ist Ernst Eckstein, nicht nur in gewissen Rich¬
tungen seines litterarischen Schaffens, sondern auch in der Unklarheit über
den Umfang seiner Fähigkeiten. Eckstein hat italienische Novellen und Romane
aus dem modernen Leben geschrieben, die sich mit den besten Telmcmns messen
können. Er hat sich auch, wie Telmann, in das Leben der norddeutschen Gro߬
städte gestürzt und sich noch mutiger als jener an die Lösung der sozialen
Trage herangemacht. Aber in seinem litterarischen Schuldbuch giebt es auch
Zwei dunkle Flecke, von denen Telmnnns Lebensgeschichte frei geblieben ist: das
sind die Schulhumoresken und die historischen Romane ans den Zeiten des
sinkenden Nömertums. Es ist bezeichnend für den Geschmack des urteilsloscn
^sepubliknms, daß gerade diese beiden Spezialitüten Ecksteinscher Vielseitigkeit
Und Fruchtbarkeit ihm die größten materiellen Erfolge eingebracht haben,
^lelleicht ist er selbst mit den Jahren aber weise genug geworden, den
glitzernden Schein der Mache von dem Wesen dichterischer Kunst unterscheide"


Neue Romane und Novellen

Historiker und Ästhetiker Karl Lemcke in Stuttgart ist. Ohne diesen doppelten
Verrat wären wir niemals auf den Gedanken gekommen, daß der Verfasser
der „Populären Ästhetik," der die Welt abstrakter Ideen mit der nüchternen
Wirklichkeit so eng verknüpft hat, wie keiner seiner Vorgänger, in der prak¬
tischen Ausübung seiner Lehren zu einem Phantasten werden könnte, der
über seinen Träumereien, seinen Rückblicken in die Vergangenheit, seinen
empfindsamen Regungen für versunkene Kuriositäten in Menschengestalt die
künstlerische Gestaltung eines dichterischen Werkes ganz aus den Augen verliert.
In dieser Erzählung von Menschenschicksalen, die mit der Schleswig-holsteinischen
Erhebung von 1848 beginnt und die dabei beteiligten Personen etwa bis zum
Jahre 1870 begleitet, hat der Verfasser eine Zickzacklinie gewählt. Von
Holländisch-Indien geht diese Linie über einige Hafenstädte und über Hamburg
wieder nach Schleswig-Holstein zurück. Aber länger als die Haltcstationen, die
der Held der Erzählung macht, sind die des Erzählers. Es ist nicht zu be¬
schreiben, wie er in eifriger Geschäftigkeit immer wieder den Strom der Schilde¬
rung unterbricht, um eine neue Geschichte in eine alte ciuzuschachtelu und
mit behäbiger Lust an der Kleinmalerei die Aufmerksamkeit des Lesers durch
immer neue Figuren zu fesseln, aber zuletzt auch zu verwirren. Es ist nicht
einmal etwas neues. Lemcke ist ein Schüler von Wilhelm Raabe, von dem
er aber nur das äußere Machwerk, das Einschachtelnngssystem gelernt hat.
Bis zu dem tiefen Schacht, aus dem Raabe seinen pessimistischen, mitunter
sogar bitterbösen Humor herausholt, ist Lemcke aber nicht gedrungen, und da
es ihm durchaus trotz seines Erfindungstalents nicht gelingt, etwas selbst¬
ständiges zu schaffen, so sollte er, wenn der dichterische Trieb stärker geworden
O als sein wissenschaftlicher, die Muster der Litteraturgeschichte beiseite lassen
Und eine eigne schriftstellerische Physiognomie zeigen, aus der wir erst ersehen
können, ob er etwas persönliches zu sagen hat oder nicht.

Mit Telmann verwandt ist Ernst Eckstein, nicht nur in gewissen Rich¬
tungen seines litterarischen Schaffens, sondern auch in der Unklarheit über
den Umfang seiner Fähigkeiten. Eckstein hat italienische Novellen und Romane
aus dem modernen Leben geschrieben, die sich mit den besten Telmcmns messen
können. Er hat sich auch, wie Telmann, in das Leben der norddeutschen Gro߬
städte gestürzt und sich noch mutiger als jener an die Lösung der sozialen
Trage herangemacht. Aber in seinem litterarischen Schuldbuch giebt es auch
Zwei dunkle Flecke, von denen Telmnnns Lebensgeschichte frei geblieben ist: das
sind die Schulhumoresken und die historischen Romane ans den Zeiten des
sinkenden Nömertums. Es ist bezeichnend für den Geschmack des urteilsloscn
^sepubliknms, daß gerade diese beiden Spezialitüten Ecksteinscher Vielseitigkeit
Und Fruchtbarkeit ihm die größten materiellen Erfolge eingebracht haben,
^lelleicht ist er selbst mit den Jahren aber weise genug geworden, den
glitzernden Schein der Mache von dem Wesen dichterischer Kunst unterscheide»


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[0039] Neue Romane und Novellen Historiker und Ästhetiker Karl Lemcke in Stuttgart ist. Ohne diesen doppelten Verrat wären wir niemals auf den Gedanken gekommen, daß der Verfasser der „Populären Ästhetik," der die Welt abstrakter Ideen mit der nüchternen Wirklichkeit so eng verknüpft hat, wie keiner seiner Vorgänger, in der prak¬ tischen Ausübung seiner Lehren zu einem Phantasten werden könnte, der über seinen Träumereien, seinen Rückblicken in die Vergangenheit, seinen empfindsamen Regungen für versunkene Kuriositäten in Menschengestalt die künstlerische Gestaltung eines dichterischen Werkes ganz aus den Augen verliert. In dieser Erzählung von Menschenschicksalen, die mit der Schleswig-holsteinischen Erhebung von 1848 beginnt und die dabei beteiligten Personen etwa bis zum Jahre 1870 begleitet, hat der Verfasser eine Zickzacklinie gewählt. Von Holländisch-Indien geht diese Linie über einige Hafenstädte und über Hamburg wieder nach Schleswig-Holstein zurück. Aber länger als die Haltcstationen, die der Held der Erzählung macht, sind die des Erzählers. Es ist nicht zu be¬ schreiben, wie er in eifriger Geschäftigkeit immer wieder den Strom der Schilde¬ rung unterbricht, um eine neue Geschichte in eine alte ciuzuschachtelu und mit behäbiger Lust an der Kleinmalerei die Aufmerksamkeit des Lesers durch immer neue Figuren zu fesseln, aber zuletzt auch zu verwirren. Es ist nicht einmal etwas neues. Lemcke ist ein Schüler von Wilhelm Raabe, von dem er aber nur das äußere Machwerk, das Einschachtelnngssystem gelernt hat. Bis zu dem tiefen Schacht, aus dem Raabe seinen pessimistischen, mitunter sogar bitterbösen Humor herausholt, ist Lemcke aber nicht gedrungen, und da es ihm durchaus trotz seines Erfindungstalents nicht gelingt, etwas selbst¬ ständiges zu schaffen, so sollte er, wenn der dichterische Trieb stärker geworden O als sein wissenschaftlicher, die Muster der Litteraturgeschichte beiseite lassen Und eine eigne schriftstellerische Physiognomie zeigen, aus der wir erst ersehen können, ob er etwas persönliches zu sagen hat oder nicht. Mit Telmann verwandt ist Ernst Eckstein, nicht nur in gewissen Rich¬ tungen seines litterarischen Schaffens, sondern auch in der Unklarheit über den Umfang seiner Fähigkeiten. Eckstein hat italienische Novellen und Romane aus dem modernen Leben geschrieben, die sich mit den besten Telmcmns messen können. Er hat sich auch, wie Telmann, in das Leben der norddeutschen Gro߬ städte gestürzt und sich noch mutiger als jener an die Lösung der sozialen Trage herangemacht. Aber in seinem litterarischen Schuldbuch giebt es auch Zwei dunkle Flecke, von denen Telmnnns Lebensgeschichte frei geblieben ist: das sind die Schulhumoresken und die historischen Romane ans den Zeiten des sinkenden Nömertums. Es ist bezeichnend für den Geschmack des urteilsloscn ^sepubliknms, daß gerade diese beiden Spezialitüten Ecksteinscher Vielseitigkeit Und Fruchtbarkeit ihm die größten materiellen Erfolge eingebracht haben, ^lelleicht ist er selbst mit den Jahren aber weise genug geworden, den glitzernden Schein der Mache von dem Wesen dichterischer Kunst unterscheide»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/39>, abgerufen am 23.07.2024.