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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Prügeljungen müde werden, uns solche professionellen Radaumacher wie die
Jesuiten herein zu rufen. Die Zeit ist ernst auf der Weltbühne und wird
täglich ernster.

Es ist eine bedeutsame und interessante Erscheinung unsrer Zeit, daß sich
der Schauplatz der politischen Konflikte zwischen den Staaten Europas ändert.
Je stärker sich die materiellen Interessen der großen europäischen Mächte in
außereuropäischen Ländern entwickeln, umso mehr dürfen wir hoffen, daß
Deutschland nicht mehr, wie ehemals, zum Turnierplatz aller Welt werden
wird. Ehedem bestand das europäische Gleichgewicht hauptsächlich darin, daß
man von dem deutschen Trümmerhaufen diesen Stein in jene Schale, oder'
jenen in diese Schale zu werfen suchte; Deutschland mußte fast immer das
Material zum Ausgleich hergeben, und alles diplomatische Interesse konzentrirte
sich in Deutschland; umso mehr, seit England es verstanden hatte, dem übrigen
Europa fast alle überseeischen Interessen mit List oder Gewalt abzunehmen.
Das begann sich seit 1870 zu ändern. Unsre Nachbarn sahen, ärgerlich zwar,
immer deutlicher ein, daß die deutschen Steine für keine Ausgleichsprojekte
mehr zu haben waren, sondern in sich selbst zu einem festen Bau zusammen¬
wuchsen. Schon zehn Jahre nach der Einigung Deutschlands konnten wir
anfangen, unsre wirtschaftlichen Interessen nach außen hin staatlich zu erweitern.
Seit 1881 begann das afrikanische Wettrennen; und wenn unsre kolonialen
Erwerbungen auch keinen andern Nutzen für uns hätten, als zu diesem Wett¬
rennen den Anstoß gegeben zu haben, so wäre der Gewinn für uns schon sehr
groß. Denn nun begannen auch andre europäische Kontinentalmächte sich so
gut wie England darauf zu besinnen, daß es noch interessante Dinge in der
Welt, außer Deutschland, gebe, und sie hörten auf, dieses allein starren Blickes
zu beobachten. Frankreich breitete sich in Afrika und Asien aus, der Kongo-
staat wurde gegründet. Italien versuchte sich in Erythräa; Rußland suchte sich
für den ungeschickten und verunglückten Vorstoß gegen die Türkei weiter im
Osten zu entschädigen. Und gerade unsre Gegner der siebziger Jahre, Frankreich
und Rußland, haben in dieser Zeit gewaltige neue Gebiete erworben, die sie
reichlich entschädigen für den Verlust der offnen Thüren, durch die sie stets,
bald gerufen, bald ungerufen, in den deutschen Tummelplatz zu stürmen pflegten.

Tunis, die großen Gebiete am Senegal, Niger und Kongo, dann Mada¬
gaskar und Tonkin sind französisch geworden, und von Tonkin aus rückt die
französische "Interessensphäre" langsam in das südliche China vor. Die
russischen Vorposten sind auf die Pamirhöhen und an die Thore von Herat
vorgeschoben worden; auf das koreanische Königreich hat Nußland seine Hand
gelegt, ebenso auf die Mandschurei; am Golf von Petschili besitzt es seine
Häfen, am Hofe von Peking übt es einen beherrschenden Einfluß aus. Und
diese gewaltigen Erfolge hat Frankreich bloß mit dem Kriege in Tonkin bezahlt,
Nußland ohne einen Schwertstreich errungen. Freilich aber gilt es sür beide
nun, das Erworbne festzuhalten und zu verwerten, was sich vielleicht als nicht


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Prügeljungen müde werden, uns solche professionellen Radaumacher wie die
Jesuiten herein zu rufen. Die Zeit ist ernst auf der Weltbühne und wird
täglich ernster.

Es ist eine bedeutsame und interessante Erscheinung unsrer Zeit, daß sich
der Schauplatz der politischen Konflikte zwischen den Staaten Europas ändert.
Je stärker sich die materiellen Interessen der großen europäischen Mächte in
außereuropäischen Ländern entwickeln, umso mehr dürfen wir hoffen, daß
Deutschland nicht mehr, wie ehemals, zum Turnierplatz aller Welt werden
wird. Ehedem bestand das europäische Gleichgewicht hauptsächlich darin, daß
man von dem deutschen Trümmerhaufen diesen Stein in jene Schale, oder'
jenen in diese Schale zu werfen suchte; Deutschland mußte fast immer das
Material zum Ausgleich hergeben, und alles diplomatische Interesse konzentrirte
sich in Deutschland; umso mehr, seit England es verstanden hatte, dem übrigen
Europa fast alle überseeischen Interessen mit List oder Gewalt abzunehmen.
Das begann sich seit 1870 zu ändern. Unsre Nachbarn sahen, ärgerlich zwar,
immer deutlicher ein, daß die deutschen Steine für keine Ausgleichsprojekte
mehr zu haben waren, sondern in sich selbst zu einem festen Bau zusammen¬
wuchsen. Schon zehn Jahre nach der Einigung Deutschlands konnten wir
anfangen, unsre wirtschaftlichen Interessen nach außen hin staatlich zu erweitern.
Seit 1881 begann das afrikanische Wettrennen; und wenn unsre kolonialen
Erwerbungen auch keinen andern Nutzen für uns hätten, als zu diesem Wett¬
rennen den Anstoß gegeben zu haben, so wäre der Gewinn für uns schon sehr
groß. Denn nun begannen auch andre europäische Kontinentalmächte sich so
gut wie England darauf zu besinnen, daß es noch interessante Dinge in der
Welt, außer Deutschland, gebe, und sie hörten auf, dieses allein starren Blickes
zu beobachten. Frankreich breitete sich in Afrika und Asien aus, der Kongo-
staat wurde gegründet. Italien versuchte sich in Erythräa; Rußland suchte sich
für den ungeschickten und verunglückten Vorstoß gegen die Türkei weiter im
Osten zu entschädigen. Und gerade unsre Gegner der siebziger Jahre, Frankreich
und Rußland, haben in dieser Zeit gewaltige neue Gebiete erworben, die sie
reichlich entschädigen für den Verlust der offnen Thüren, durch die sie stets,
bald gerufen, bald ungerufen, in den deutschen Tummelplatz zu stürmen pflegten.

Tunis, die großen Gebiete am Senegal, Niger und Kongo, dann Mada¬
gaskar und Tonkin sind französisch geworden, und von Tonkin aus rückt die
französische „Interessensphäre" langsam in das südliche China vor. Die
russischen Vorposten sind auf die Pamirhöhen und an die Thore von Herat
vorgeschoben worden; auf das koreanische Königreich hat Nußland seine Hand
gelegt, ebenso auf die Mandschurei; am Golf von Petschili besitzt es seine
Häfen, am Hofe von Peking übt es einen beherrschenden Einfluß aus. Und
diese gewaltigen Erfolge hat Frankreich bloß mit dem Kriege in Tonkin bezahlt,
Nußland ohne einen Schwertstreich errungen. Freilich aber gilt es sür beide
nun, das Erworbne festzuhalten und zu verwerten, was sich vielleicht als nicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/362>, abgerufen am 23.07.2024.