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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Die Flucht vom Lande

lichkeiten und Vergnügungen, in den Tingeltangels, den Tanzsalons usw. Dabei
halten wir den hohen Prozentsatz der weiblichen Zuzügler vom Lande in die Gro߬
städte in der Hauptsache für ein Ergebnis des weiblichen Schulunterrichts auf dem
Lande. Die Schulmädchen werdeu durch ihn gerade soweit ausgebildet, daß sie
ländliche Arbeit in Wind und Wetter oder in Viehställen ihrer nicht mehr für
würdig finden und sich befähigt glauben, ihre Existenz in der Hoffnung auf eine
Nähmaschine und in Aussicht auf Tanz- und Tingeltaugelvergnügen in der großen
Stadt zu suchen. Wenn sie dahin kommen, so finden diejenigen, bei denen der
Tanzsalon mehr Anziehungskraft als die Nähmaschine hat, sehr bald, daß ihr Ver¬
dienst ihren Ansprüchen nicht mehr genügt. Sie fallen dann leicht der Prostitution
anheim und steigern so die großstädtischen Zustände, wie sie bei Beratung der
Je-x Heinze und bei andern Gelegenheiten hinreichend erörtert worden sind. Wenn
von freisinniger Seite den Landwirten geraten wird, ihre Leute besser zu behandeln,
damit sie bei ihnen blieben, so enthält dies die Aufforderug, den Arbeitern auf den
Dörfern Singspielhalleu, Tanzsnlons und dergleichen einzurichten. Das ist natürlich
eine Unmöglichkeit." Und dann kommt die Forderung der "Repression," weil kein
andrer Weg gangbar sei. Daß die Hamburger Nachrichten hiermit, in feinem Ver¬
ständnis für die Regungen der Volksseele, die herrschende Anschauung des ostelbischen
Agrariertums getroffen und etwa schwankenden Gemütern neuen Holt gegeben haben,
ist nicht zu bezweifeln. Mögen auch einzelne Gutsbesitzer solche Roheiten gebührend
würdigen, in den Juteressenvertretuugen der Rittergutsbesitzer und Großbauern wird
das in Hamburg formulirte Dogma in den nächsten Jahren praktisch den Ausschlag
geben, wo immer es sich um praktische Maßnahmen gegen die Landflucht handelt,
auch bei deu Versuchen einer sogenannten innern Kolonisation. Die agrarische Be¬
wegung macht die landwirtschaftlichen Interessenvertretungen heute zu deu ungeschickten
Trägern der sozialen Reformen auf dem Lande. Mit ihnen macht man den Bock
zum Gärtner. Ware noch darauf zu rechnen, daß die höhern Verwaltungsbeamten
in den Ostprovinzen imstande und gewillt wären, der agrarischen Agitation mit der
nötigen Energie entgegen zu treten, so könnte die Sache eine andre Gestalt ge¬
winnen. Der gesunde Sinn unsrer Landwirte würde dann vielleicht Luft und
Halt bekommen, und wenn auch langsam, so doch sicher, würde der Bann des
rohen, oberflächlichen, gedankenlosen, kleinlichen Eigennutzes, der jetzt die Lage be¬
herrscht, gebrochen werden. Traut mau im preußischen Landwirtschaftsministerinm
den ostelbischen Landräten usw. diese antiagrarische Energie zu? Hofft der Ministerial¬
direktor Thiel darauf? Das ist unglaublich. Das Landwirtschaftsministerinm und
die Staatsregierung haben, so scheint es, endgiltig vor dem Agrariertnm kapitulirt,
und die agrarischen Interessenvertretungen werden in den nächsten Jahren allen
widerhaarigen königlich preußischen Beamten mich in der ländlichen Arbeiterfrage ganz
gehörig die Wege weisen. Wer das nicht glaubt, der lese den amtlichen Bericht
über die Verhandlungen des Abgeordnetenhauses vom 20. April. Hat doch der
Landwirtschaftsminister selbst für das Wagnis, dem hohen Hause ein harmlose Ge¬
schichte zu erzählen, nach der es im Osnabrückschen much ohne "Repression," durch
bessere Fürsorge zu Hause, gelungen sei, dem Abwandern der Arbeiter entgegen zu
treten, die Herren aus dem Osten in einer Weise um Verzeihung zu bitten für
nötig gehalten, die in Preußen nen ist. Das wird sich wohl nach den Neuwahlen
zum Reichs- und Landtage vorläufig noch steigern.

Aber Bestand wird es nicht haben! Je toller mans treibt, um so schneller
das Ende.

Es war nötig, bei diesen unerfreulichen Bildern solange zu verweilen, weil


Die Flucht vom Lande

lichkeiten und Vergnügungen, in den Tingeltangels, den Tanzsalons usw. Dabei
halten wir den hohen Prozentsatz der weiblichen Zuzügler vom Lande in die Gro߬
städte in der Hauptsache für ein Ergebnis des weiblichen Schulunterrichts auf dem
Lande. Die Schulmädchen werdeu durch ihn gerade soweit ausgebildet, daß sie
ländliche Arbeit in Wind und Wetter oder in Viehställen ihrer nicht mehr für
würdig finden und sich befähigt glauben, ihre Existenz in der Hoffnung auf eine
Nähmaschine und in Aussicht auf Tanz- und Tingeltaugelvergnügen in der großen
Stadt zu suchen. Wenn sie dahin kommen, so finden diejenigen, bei denen der
Tanzsalon mehr Anziehungskraft als die Nähmaschine hat, sehr bald, daß ihr Ver¬
dienst ihren Ansprüchen nicht mehr genügt. Sie fallen dann leicht der Prostitution
anheim und steigern so die großstädtischen Zustände, wie sie bei Beratung der
Je-x Heinze und bei andern Gelegenheiten hinreichend erörtert worden sind. Wenn
von freisinniger Seite den Landwirten geraten wird, ihre Leute besser zu behandeln,
damit sie bei ihnen blieben, so enthält dies die Aufforderug, den Arbeitern auf den
Dörfern Singspielhalleu, Tanzsnlons und dergleichen einzurichten. Das ist natürlich
eine Unmöglichkeit." Und dann kommt die Forderung der „Repression," weil kein
andrer Weg gangbar sei. Daß die Hamburger Nachrichten hiermit, in feinem Ver¬
ständnis für die Regungen der Volksseele, die herrschende Anschauung des ostelbischen
Agrariertums getroffen und etwa schwankenden Gemütern neuen Holt gegeben haben,
ist nicht zu bezweifeln. Mögen auch einzelne Gutsbesitzer solche Roheiten gebührend
würdigen, in den Juteressenvertretuugen der Rittergutsbesitzer und Großbauern wird
das in Hamburg formulirte Dogma in den nächsten Jahren praktisch den Ausschlag
geben, wo immer es sich um praktische Maßnahmen gegen die Landflucht handelt,
auch bei deu Versuchen einer sogenannten innern Kolonisation. Die agrarische Be¬
wegung macht die landwirtschaftlichen Interessenvertretungen heute zu deu ungeschickten
Trägern der sozialen Reformen auf dem Lande. Mit ihnen macht man den Bock
zum Gärtner. Ware noch darauf zu rechnen, daß die höhern Verwaltungsbeamten
in den Ostprovinzen imstande und gewillt wären, der agrarischen Agitation mit der
nötigen Energie entgegen zu treten, so könnte die Sache eine andre Gestalt ge¬
winnen. Der gesunde Sinn unsrer Landwirte würde dann vielleicht Luft und
Halt bekommen, und wenn auch langsam, so doch sicher, würde der Bann des
rohen, oberflächlichen, gedankenlosen, kleinlichen Eigennutzes, der jetzt die Lage be¬
herrscht, gebrochen werden. Traut mau im preußischen Landwirtschaftsministerinm
den ostelbischen Landräten usw. diese antiagrarische Energie zu? Hofft der Ministerial¬
direktor Thiel darauf? Das ist unglaublich. Das Landwirtschaftsministerinm und
die Staatsregierung haben, so scheint es, endgiltig vor dem Agrariertnm kapitulirt,
und die agrarischen Interessenvertretungen werden in den nächsten Jahren allen
widerhaarigen königlich preußischen Beamten mich in der ländlichen Arbeiterfrage ganz
gehörig die Wege weisen. Wer das nicht glaubt, der lese den amtlichen Bericht
über die Verhandlungen des Abgeordnetenhauses vom 20. April. Hat doch der
Landwirtschaftsminister selbst für das Wagnis, dem hohen Hause ein harmlose Ge¬
schichte zu erzählen, nach der es im Osnabrückschen much ohne „Repression," durch
bessere Fürsorge zu Hause, gelungen sei, dem Abwandern der Arbeiter entgegen zu
treten, die Herren aus dem Osten in einer Weise um Verzeihung zu bitten für
nötig gehalten, die in Preußen nen ist. Das wird sich wohl nach den Neuwahlen
zum Reichs- und Landtage vorläufig noch steigern.

Aber Bestand wird es nicht haben! Je toller mans treibt, um so schneller
das Ende.

Es war nötig, bei diesen unerfreulichen Bildern solange zu verweilen, weil


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[0351] Die Flucht vom Lande lichkeiten und Vergnügungen, in den Tingeltangels, den Tanzsalons usw. Dabei halten wir den hohen Prozentsatz der weiblichen Zuzügler vom Lande in die Gro߬ städte in der Hauptsache für ein Ergebnis des weiblichen Schulunterrichts auf dem Lande. Die Schulmädchen werdeu durch ihn gerade soweit ausgebildet, daß sie ländliche Arbeit in Wind und Wetter oder in Viehställen ihrer nicht mehr für würdig finden und sich befähigt glauben, ihre Existenz in der Hoffnung auf eine Nähmaschine und in Aussicht auf Tanz- und Tingeltaugelvergnügen in der großen Stadt zu suchen. Wenn sie dahin kommen, so finden diejenigen, bei denen der Tanzsalon mehr Anziehungskraft als die Nähmaschine hat, sehr bald, daß ihr Ver¬ dienst ihren Ansprüchen nicht mehr genügt. Sie fallen dann leicht der Prostitution anheim und steigern so die großstädtischen Zustände, wie sie bei Beratung der Je-x Heinze und bei andern Gelegenheiten hinreichend erörtert worden sind. Wenn von freisinniger Seite den Landwirten geraten wird, ihre Leute besser zu behandeln, damit sie bei ihnen blieben, so enthält dies die Aufforderug, den Arbeitern auf den Dörfern Singspielhalleu, Tanzsnlons und dergleichen einzurichten. Das ist natürlich eine Unmöglichkeit." Und dann kommt die Forderung der „Repression," weil kein andrer Weg gangbar sei. Daß die Hamburger Nachrichten hiermit, in feinem Ver¬ ständnis für die Regungen der Volksseele, die herrschende Anschauung des ostelbischen Agrariertums getroffen und etwa schwankenden Gemütern neuen Holt gegeben haben, ist nicht zu bezweifeln. Mögen auch einzelne Gutsbesitzer solche Roheiten gebührend würdigen, in den Juteressenvertretuugen der Rittergutsbesitzer und Großbauern wird das in Hamburg formulirte Dogma in den nächsten Jahren praktisch den Ausschlag geben, wo immer es sich um praktische Maßnahmen gegen die Landflucht handelt, auch bei deu Versuchen einer sogenannten innern Kolonisation. Die agrarische Be¬ wegung macht die landwirtschaftlichen Interessenvertretungen heute zu deu ungeschickten Trägern der sozialen Reformen auf dem Lande. Mit ihnen macht man den Bock zum Gärtner. Ware noch darauf zu rechnen, daß die höhern Verwaltungsbeamten in den Ostprovinzen imstande und gewillt wären, der agrarischen Agitation mit der nötigen Energie entgegen zu treten, so könnte die Sache eine andre Gestalt ge¬ winnen. Der gesunde Sinn unsrer Landwirte würde dann vielleicht Luft und Halt bekommen, und wenn auch langsam, so doch sicher, würde der Bann des rohen, oberflächlichen, gedankenlosen, kleinlichen Eigennutzes, der jetzt die Lage be¬ herrscht, gebrochen werden. Traut mau im preußischen Landwirtschaftsministerinm den ostelbischen Landräten usw. diese antiagrarische Energie zu? Hofft der Ministerial¬ direktor Thiel darauf? Das ist unglaublich. Das Landwirtschaftsministerinm und die Staatsregierung haben, so scheint es, endgiltig vor dem Agrariertnm kapitulirt, und die agrarischen Interessenvertretungen werden in den nächsten Jahren allen widerhaarigen königlich preußischen Beamten mich in der ländlichen Arbeiterfrage ganz gehörig die Wege weisen. Wer das nicht glaubt, der lese den amtlichen Bericht über die Verhandlungen des Abgeordnetenhauses vom 20. April. Hat doch der Landwirtschaftsminister selbst für das Wagnis, dem hohen Hause ein harmlose Ge¬ schichte zu erzählen, nach der es im Osnabrückschen much ohne „Repression," durch bessere Fürsorge zu Hause, gelungen sei, dem Abwandern der Arbeiter entgegen zu treten, die Herren aus dem Osten in einer Weise um Verzeihung zu bitten für nötig gehalten, die in Preußen nen ist. Das wird sich wohl nach den Neuwahlen zum Reichs- und Landtage vorläufig noch steigern. Aber Bestand wird es nicht haben! Je toller mans treibt, um so schneller das Ende. Es war nötig, bei diesen unerfreulichen Bildern solange zu verweilen, weil

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/351>, abgerufen am 28.12.2024.