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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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gewaltigen Treibens von Baubeamten, Ingenieuren, Unternehmern, Aufsehern
und Arbeiterkolonnen erinnern an die Meisterschaft, mit der Zola solche Mafien
zu beherrschen, zu gliedern, zu individualisiren und dann wieder zu über¬
wältigender, fast sinnverwirrender Massenwirkung zusammenzubringen weiß.
Der deutsche Schriftsteller versteht aber die seltne Kunst, zu rechter Zeit seine
gestaltende Phantasie zu zügeln und wieder zu den Personen zurückzukehren,
für die er das Interesse seiner Leser vornehmlich gewonnen hat. Zuletzt steigert
er aber noch einmal seine Kraft zu einem Fortissimo bei der Schilderung der
Katastrophe, bei der der gewissenlose Unternehmer Bergholm, Antjes Vater,
bei einer That edler Menschenliebe selbst das Opfer feiner Entschlossenheit wird
und mit seinem Untergang sein irdisches Verschulden büßt-

Nicht minder gründlich als H. von Zobeltitz seine Nordmark, kennt
Schulte vom Brühl das Thüringer Land, in dem er mehrere Jahre seines
Lebens (als Journalist in Weimar) zugebracht hat. Er ist ein vielseitiger
Schriftsteller. Er hat anfangs über bildende Kunst geschrieben, dann hat er
sich als Lyriker hervorgethan, und vor etwa drei Jahren ist er auch mit einem
Roman "Der Marschallsstab" in die Öffentlichkeit getreten, einem figuren¬
reichen Lebensbilde aus den bergischen Industriebezirken, worin er mit keckem
Griff, aber mit gründlicher Kenntnis der Arbeiterverhültnisfe die soziale
Frage angeschnitten hat. Aber nicht etwa mit der Miene des Reformators
"der gar mit dem drohenden Stirnrunzeln des Agitators! Mit Gelassenheit
erzählt er nur, was er gesehen hat, und gruppirt seine Beobachtungen um
einige Personen, deren Geschicke sich absonderlich genug gestalten, um zu einer
Nomcmfabel auszuhalten. Eine Tendenz ist nicht zu erkennen, höchstens darin,
daß der Verfasser von dem Unterschied der Stände ziemlich gering denkt. Das
thun aber alle modernen Schriftsteller, die adlichen wie die bürgerlichen, und
wie ihm alle modernen Menschen, die nicht sogleich mit der Lakaienjacke zur
Welt gekommen find. Von derselben Gesinnung ist auch der zweite, jüngst
erschienene Roman des Verfassers: Gleich und ungleich (Stuttgart, Bonz
u- Comp.) durchdrungen. Das deutet schon zum Teil der Titel an. Ungleich
bezieht sich nämlich auf die Ungleichheit der Geburt und gleich auf die Gleich¬
heit der Welt- und Lebensanschauung, die zwischen den beiden Personen besteht
und allmählich heranwächst, die wir auf dem langen Wege von den Kinder¬
lehren bis zu voller Selbständigkeit und Reife von Mann und Weib begleiten.
Als Seitenstück zu seinem Roman von Fabrikherrn und Fabrikarbeitern giebt
Schulte vom Brühl hier einen Künstlerroman, der aber auch erst langsam deu
Lehrling einer Holzschnitzer- und Mvdellirschule in einem thüringischen Ge-
birgsdorfe zu einem Bildhauer heranreifen läßt, der es wagen darf, sich Künstler
SU nennen und mit frohem Bewußtsein seiner Kraft mit den Meistern seiner
Kunst zu wetteifern. Daß die Kunst adelt, weiß jeder längst, der seine Zeit
u" die Abwägung von Standesunterschieden verschwendet hat, und so wird


Grenzboten II 1898 4

gewaltigen Treibens von Baubeamten, Ingenieuren, Unternehmern, Aufsehern
und Arbeiterkolonnen erinnern an die Meisterschaft, mit der Zola solche Mafien
zu beherrschen, zu gliedern, zu individualisiren und dann wieder zu über¬
wältigender, fast sinnverwirrender Massenwirkung zusammenzubringen weiß.
Der deutsche Schriftsteller versteht aber die seltne Kunst, zu rechter Zeit seine
gestaltende Phantasie zu zügeln und wieder zu den Personen zurückzukehren,
für die er das Interesse seiner Leser vornehmlich gewonnen hat. Zuletzt steigert
er aber noch einmal seine Kraft zu einem Fortissimo bei der Schilderung der
Katastrophe, bei der der gewissenlose Unternehmer Bergholm, Antjes Vater,
bei einer That edler Menschenliebe selbst das Opfer feiner Entschlossenheit wird
und mit seinem Untergang sein irdisches Verschulden büßt-

Nicht minder gründlich als H. von Zobeltitz seine Nordmark, kennt
Schulte vom Brühl das Thüringer Land, in dem er mehrere Jahre seines
Lebens (als Journalist in Weimar) zugebracht hat. Er ist ein vielseitiger
Schriftsteller. Er hat anfangs über bildende Kunst geschrieben, dann hat er
sich als Lyriker hervorgethan, und vor etwa drei Jahren ist er auch mit einem
Roman „Der Marschallsstab" in die Öffentlichkeit getreten, einem figuren¬
reichen Lebensbilde aus den bergischen Industriebezirken, worin er mit keckem
Griff, aber mit gründlicher Kenntnis der Arbeiterverhültnisfe die soziale
Frage angeschnitten hat. Aber nicht etwa mit der Miene des Reformators
«der gar mit dem drohenden Stirnrunzeln des Agitators! Mit Gelassenheit
erzählt er nur, was er gesehen hat, und gruppirt seine Beobachtungen um
einige Personen, deren Geschicke sich absonderlich genug gestalten, um zu einer
Nomcmfabel auszuhalten. Eine Tendenz ist nicht zu erkennen, höchstens darin,
daß der Verfasser von dem Unterschied der Stände ziemlich gering denkt. Das
thun aber alle modernen Schriftsteller, die adlichen wie die bürgerlichen, und
wie ihm alle modernen Menschen, die nicht sogleich mit der Lakaienjacke zur
Welt gekommen find. Von derselben Gesinnung ist auch der zweite, jüngst
erschienene Roman des Verfassers: Gleich und ungleich (Stuttgart, Bonz
u- Comp.) durchdrungen. Das deutet schon zum Teil der Titel an. Ungleich
bezieht sich nämlich auf die Ungleichheit der Geburt und gleich auf die Gleich¬
heit der Welt- und Lebensanschauung, die zwischen den beiden Personen besteht
und allmählich heranwächst, die wir auf dem langen Wege von den Kinder¬
lehren bis zu voller Selbständigkeit und Reife von Mann und Weib begleiten.
Als Seitenstück zu seinem Roman von Fabrikherrn und Fabrikarbeitern giebt
Schulte vom Brühl hier einen Künstlerroman, der aber auch erst langsam deu
Lehrling einer Holzschnitzer- und Mvdellirschule in einem thüringischen Ge-
birgsdorfe zu einem Bildhauer heranreifen läßt, der es wagen darf, sich Künstler
SU nennen und mit frohem Bewußtsein seiner Kraft mit den Meistern seiner
Kunst zu wetteifern. Daß die Kunst adelt, weiß jeder längst, der seine Zeit
u» die Abwägung von Standesunterschieden verschwendet hat, und so wird


Grenzboten II 1898 4
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/33>, abgerufen am 23.07.2024.