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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Die hannoverschen Nationalliberalen

und Koalitionsfreiheit, sie zogen mit Eifer in den Kulturkampf und stritten
heftig gegen die Orthodoxie im protestantischen Lager; sie zeigten warme Nei¬
gung für die Interessen der Schule und der Lehrerwelt, die sie von der Kirche
zu emanzipiren strebten, kurz, sie unterschieden sich in den meisten innern
Fragen nicht grundsätzlich, sondern nur taktisch von den linksstehenden übrigen
Parteigruppirungen, oft nur durch eine mildere Tonart und durch einen
größern Respekt vor Äußerungen der Negierung und deren Vertreter bis
herunter zum Landrate. In wirtschaftlichen Fragen waren sie Manchester¬
männer, wie die meisten Liberalen bis in die Reihen der Demokraten, sie ver¬
traten in Wort und Schrift die Idee der "wirtschaftlichen Freiheit" so gut
oder so schlecht, wie das damals überall im Reiche von liberaler Seite ge¬
schah. Das änderte sich erst allmählich seit dem energischen Eintreten des
Fürsten Bismarck für eine systematische Schutzzollpolitik; wir sagen "allmählich,"
denn noch am 12. Juli 1879 stimmte ein großer Teil der Nationalliberalen,
darunter auch die meisten Hannoveraner, gegen den neuen Zolltarif und
namentlich gegen die Getreidezölle, ebenso wie sie sich mit großer Mehrheit
im Jahre 1882 gegen den Gesetzentwurf über das Tabaksmonopol erklärten
und sich in demselben Jahre mit der Fortschrittspartei und der liberalen Ver¬
einigung (denen um Nickert) bei der Beratung der Gesetzentwürfe wegen der
Unfallversicherung gegen jegliche Zwangsversicherung aussprachen.

Nur zögernd und zunächst widerwillig folgten die Nationalliberalen den
ersten Schritten des Reichskanzlers auf den sozialpolitischen Wegen. Indessen
wurden sie durch die starke Strömung, die sich im Anfange der achtziger
Jahre dafür geltend machte, bald fortgerissen, und so konnten sie schon in der
Heidelberger Erklärung (März 1884) auf ihr Programm schreiben: Billigung
der erhöhte" Fürsorge für das Wohl der arbeitenden Klaffen. Aber sie ließen
sich auch nur fortreißen; sie selbst haben niemals den Ehrgeiz gehabt, auf
irgend einem Gebiete der Sozialpolitik die Führung zu übernehmen. Sie
überließen das dem Zentrum, dessen Leitung, klüger und gewandter als die
ihrige, sie hier und in andern Zielen, die früher im liberalen Programm
einen festen Platz einnahmen, zum Bedauern vieler Patrioten allmählich über¬
flügelte. Jahre hindurch trugen sich die Nationalliberalen mit dem Glauben,
daß durch die magern Gerichte, die den Arbeitern in der Unfall-, Krcmken-
und später Alters- und Juvaliditätsgesetzgebung vorgesetzt waren, die große
Masse der Arbeiter zufriedengestellt sein dürfte, und daß somit diese Gesetz¬
gebung der sozialdemokratischen Bewegung großen Abbruch thun würde.
Namentlich auch die hannöverschen Liberalen und deren Presse huldigten dieser
Ansicht. Dein kaiserlichen Programm von 1890 standen sie teils gleichgiltig
gegenüber, teils gegnerisch, da damals schon der Einfluß der rheinisch-west¬
fälischen Industriellen in der Partei so mächtig geworden war, daß selbst Herr
von Bennigsen sich dem nicht entziehen konnte, der nicht lange darauf als


Die hannoverschen Nationalliberalen

und Koalitionsfreiheit, sie zogen mit Eifer in den Kulturkampf und stritten
heftig gegen die Orthodoxie im protestantischen Lager; sie zeigten warme Nei¬
gung für die Interessen der Schule und der Lehrerwelt, die sie von der Kirche
zu emanzipiren strebten, kurz, sie unterschieden sich in den meisten innern
Fragen nicht grundsätzlich, sondern nur taktisch von den linksstehenden übrigen
Parteigruppirungen, oft nur durch eine mildere Tonart und durch einen
größern Respekt vor Äußerungen der Negierung und deren Vertreter bis
herunter zum Landrate. In wirtschaftlichen Fragen waren sie Manchester¬
männer, wie die meisten Liberalen bis in die Reihen der Demokraten, sie ver¬
traten in Wort und Schrift die Idee der „wirtschaftlichen Freiheit" so gut
oder so schlecht, wie das damals überall im Reiche von liberaler Seite ge¬
schah. Das änderte sich erst allmählich seit dem energischen Eintreten des
Fürsten Bismarck für eine systematische Schutzzollpolitik; wir sagen „allmählich,"
denn noch am 12. Juli 1879 stimmte ein großer Teil der Nationalliberalen,
darunter auch die meisten Hannoveraner, gegen den neuen Zolltarif und
namentlich gegen die Getreidezölle, ebenso wie sie sich mit großer Mehrheit
im Jahre 1882 gegen den Gesetzentwurf über das Tabaksmonopol erklärten
und sich in demselben Jahre mit der Fortschrittspartei und der liberalen Ver¬
einigung (denen um Nickert) bei der Beratung der Gesetzentwürfe wegen der
Unfallversicherung gegen jegliche Zwangsversicherung aussprachen.

Nur zögernd und zunächst widerwillig folgten die Nationalliberalen den
ersten Schritten des Reichskanzlers auf den sozialpolitischen Wegen. Indessen
wurden sie durch die starke Strömung, die sich im Anfange der achtziger
Jahre dafür geltend machte, bald fortgerissen, und so konnten sie schon in der
Heidelberger Erklärung (März 1884) auf ihr Programm schreiben: Billigung
der erhöhte» Fürsorge für das Wohl der arbeitenden Klaffen. Aber sie ließen
sich auch nur fortreißen; sie selbst haben niemals den Ehrgeiz gehabt, auf
irgend einem Gebiete der Sozialpolitik die Führung zu übernehmen. Sie
überließen das dem Zentrum, dessen Leitung, klüger und gewandter als die
ihrige, sie hier und in andern Zielen, die früher im liberalen Programm
einen festen Platz einnahmen, zum Bedauern vieler Patrioten allmählich über¬
flügelte. Jahre hindurch trugen sich die Nationalliberalen mit dem Glauben,
daß durch die magern Gerichte, die den Arbeitern in der Unfall-, Krcmken-
und später Alters- und Juvaliditätsgesetzgebung vorgesetzt waren, die große
Masse der Arbeiter zufriedengestellt sein dürfte, und daß somit diese Gesetz¬
gebung der sozialdemokratischen Bewegung großen Abbruch thun würde.
Namentlich auch die hannöverschen Liberalen und deren Presse huldigten dieser
Ansicht. Dein kaiserlichen Programm von 1890 standen sie teils gleichgiltig
gegenüber, teils gegnerisch, da damals schon der Einfluß der rheinisch-west¬
fälischen Industriellen in der Partei so mächtig geworden war, daß selbst Herr
von Bennigsen sich dem nicht entziehen konnte, der nicht lange darauf als


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[0319] Die hannoverschen Nationalliberalen und Koalitionsfreiheit, sie zogen mit Eifer in den Kulturkampf und stritten heftig gegen die Orthodoxie im protestantischen Lager; sie zeigten warme Nei¬ gung für die Interessen der Schule und der Lehrerwelt, die sie von der Kirche zu emanzipiren strebten, kurz, sie unterschieden sich in den meisten innern Fragen nicht grundsätzlich, sondern nur taktisch von den linksstehenden übrigen Parteigruppirungen, oft nur durch eine mildere Tonart und durch einen größern Respekt vor Äußerungen der Negierung und deren Vertreter bis herunter zum Landrate. In wirtschaftlichen Fragen waren sie Manchester¬ männer, wie die meisten Liberalen bis in die Reihen der Demokraten, sie ver¬ traten in Wort und Schrift die Idee der „wirtschaftlichen Freiheit" so gut oder so schlecht, wie das damals überall im Reiche von liberaler Seite ge¬ schah. Das änderte sich erst allmählich seit dem energischen Eintreten des Fürsten Bismarck für eine systematische Schutzzollpolitik; wir sagen „allmählich," denn noch am 12. Juli 1879 stimmte ein großer Teil der Nationalliberalen, darunter auch die meisten Hannoveraner, gegen den neuen Zolltarif und namentlich gegen die Getreidezölle, ebenso wie sie sich mit großer Mehrheit im Jahre 1882 gegen den Gesetzentwurf über das Tabaksmonopol erklärten und sich in demselben Jahre mit der Fortschrittspartei und der liberalen Ver¬ einigung (denen um Nickert) bei der Beratung der Gesetzentwürfe wegen der Unfallversicherung gegen jegliche Zwangsversicherung aussprachen. Nur zögernd und zunächst widerwillig folgten die Nationalliberalen den ersten Schritten des Reichskanzlers auf den sozialpolitischen Wegen. Indessen wurden sie durch die starke Strömung, die sich im Anfange der achtziger Jahre dafür geltend machte, bald fortgerissen, und so konnten sie schon in der Heidelberger Erklärung (März 1884) auf ihr Programm schreiben: Billigung der erhöhte» Fürsorge für das Wohl der arbeitenden Klaffen. Aber sie ließen sich auch nur fortreißen; sie selbst haben niemals den Ehrgeiz gehabt, auf irgend einem Gebiete der Sozialpolitik die Führung zu übernehmen. Sie überließen das dem Zentrum, dessen Leitung, klüger und gewandter als die ihrige, sie hier und in andern Zielen, die früher im liberalen Programm einen festen Platz einnahmen, zum Bedauern vieler Patrioten allmählich über¬ flügelte. Jahre hindurch trugen sich die Nationalliberalen mit dem Glauben, daß durch die magern Gerichte, die den Arbeitern in der Unfall-, Krcmken- und später Alters- und Juvaliditätsgesetzgebung vorgesetzt waren, die große Masse der Arbeiter zufriedengestellt sein dürfte, und daß somit diese Gesetz¬ gebung der sozialdemokratischen Bewegung großen Abbruch thun würde. Namentlich auch die hannöverschen Liberalen und deren Presse huldigten dieser Ansicht. Dein kaiserlichen Programm von 1890 standen sie teils gleichgiltig gegenüber, teils gegnerisch, da damals schon der Einfluß der rheinisch-west¬ fälischen Industriellen in der Partei so mächtig geworden war, daß selbst Herr von Bennigsen sich dem nicht entziehen konnte, der nicht lange darauf als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/319>, abgerufen am 23.07.2024.