Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Großherzog Leopold in sein durch Preußen von den Freischärlern gereinigtes
Land zurückkehrte, verlieh er den Neicheuauern für alle Zeiten das Recht,
fünfzig Mann Militär und dreißig Spielleute zu halten. Daß die kleine Insel
auch im Ernst ihren Mann stellt, beweist das Kriegerdenkmal in Mittelzell
mit einer langen, in Stein gegrabenen Liste von Mitkämpfern des 1870er
Krieges. An einem Kreuzweg zwischen Mittel- und Niederzell ist außerdem
zur Erinnerung an zwei in'diesem Kriege gefallene Reichenauer ein Stein-
krenz errichtet. Scheffel erzählte gern, wie er sich unter den alten Schatten-
büumeu vor dem Wirtshaus von Mittelzell bei einer Flasche goldnen Neiche-
nauers in die karolingischen Kaiser- und Klosterzellen zurückgedacht habe, und
wie wohl es ihm später nach 1870 ward, wenn er von Radolfzcll herüberfuhr
und in demselben Schatten die neue Kaiserzeit überdachte, die ihn so tief er¬
griffen und manches in ihm. dem alten Großdeutschen und Preußenhasfer,
umgewandelt hatte.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Zur Geschichte der Entstehung der Zünfte.

Rudolf Eberstndt hat
in seiner Studie: Ä^istorium und ?ratvr"it"s (Leipzig, Duncker und Humblot,
den schwierige" Gegenstand nicht allein durch eine Fülle urkundlichen
Materials aufgehellt, das vorzugsweise französischen Quellen entnommen ist, sondern
""es eine grundsätzliche Schlichtung des Streits versucht, den die Vertreter der
entgegengesetzten Theorien vom hoferechtlicheu Ursprung der Zünfte und von der
freie" Einung mit einander führen. Die Zunft ist nach Eberstadt zweifellos hvfe-
rechtlichen Ursprungs. Das Hofecnnt entwickelt sich aus einem Herrendienst zum
^la^iswium, zum Amt eines erwählten Vorstehers fort, der gar nicht einmal ein
Gewerbegenosse zu sein braucht, und die Gliederung, deren Spitze der "Meister"
ist. giebt den Rahmen ab für die Gewerbeorganisation, die später Zunft heißt.
Die kirchlichen Bruderschaften waren allerdings freie Einungen (was nicht immer
gleichbedeutend war mit Einungen von Freien), aber um sich noch keine Zünfte und
überhaupt keine Körperschaften des öffentlichen Rechts; das wurden sie erst dadurch,
daß ihnen die Zunft von der Obrigkeit verliehen wurde. Die Freiheit, führt der
Verfasser aus, sei bei dieser Entwicklung nicht zu kurz gekommen; sei die Zunft
kein freies Rechtsinstitut. so sei sie dafür ein befreiendes gewesen. Die alte, vor-
swtliche Volksfreiheit, die ursprünglich die Quelle des öffentlichen Rechts und
demnach etwas positives gewesen war, sei nun einmal verloren gewesen; alles
Recht sei an den Staat übergegangen, der von da um die einzige Rechtsquelle
wurde, die Freiheit aber sei ein negativer Begriff geworden: Unabhängigkeit vom
Staatszwange. Diese Unabhängigkeit mußte Schritt für Schritt wieder erkämpft
und fortwährend verteidigt werden. Die Zünfte waren es vorzugsweise, die diesen
Kampf führten und die Freiheit auf dem Wege der Erwerbung von Sonderrechten,
von Privilegien, zurückeroberten. Bei den Kämpfen der mittelalterlichen Zünfte
handelte es sich keineswegs um solche Lappereien wie bei unsrer heutige" Zünftlerei.


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Großherzog Leopold in sein durch Preußen von den Freischärlern gereinigtes
Land zurückkehrte, verlieh er den Neicheuauern für alle Zeiten das Recht,
fünfzig Mann Militär und dreißig Spielleute zu halten. Daß die kleine Insel
auch im Ernst ihren Mann stellt, beweist das Kriegerdenkmal in Mittelzell
mit einer langen, in Stein gegrabenen Liste von Mitkämpfern des 1870er
Krieges. An einem Kreuzweg zwischen Mittel- und Niederzell ist außerdem
zur Erinnerung an zwei in'diesem Kriege gefallene Reichenauer ein Stein-
krenz errichtet. Scheffel erzählte gern, wie er sich unter den alten Schatten-
büumeu vor dem Wirtshaus von Mittelzell bei einer Flasche goldnen Neiche-
nauers in die karolingischen Kaiser- und Klosterzellen zurückgedacht habe, und
wie wohl es ihm später nach 1870 ward, wenn er von Radolfzcll herüberfuhr
und in demselben Schatten die neue Kaiserzeit überdachte, die ihn so tief er¬
griffen und manches in ihm. dem alten Großdeutschen und Preußenhasfer,
umgewandelt hatte.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Zur Geschichte der Entstehung der Zünfte.

Rudolf Eberstndt hat
in seiner Studie: Ä^istorium und ?ratvr»it»s (Leipzig, Duncker und Humblot,
den schwierige» Gegenstand nicht allein durch eine Fülle urkundlichen
Materials aufgehellt, das vorzugsweise französischen Quellen entnommen ist, sondern
""es eine grundsätzliche Schlichtung des Streits versucht, den die Vertreter der
entgegengesetzten Theorien vom hoferechtlicheu Ursprung der Zünfte und von der
freie» Einung mit einander führen. Die Zunft ist nach Eberstadt zweifellos hvfe-
rechtlichen Ursprungs. Das Hofecnnt entwickelt sich aus einem Herrendienst zum
^la^iswium, zum Amt eines erwählten Vorstehers fort, der gar nicht einmal ein
Gewerbegenosse zu sein braucht, und die Gliederung, deren Spitze der „Meister"
ist. giebt den Rahmen ab für die Gewerbeorganisation, die später Zunft heißt.
Die kirchlichen Bruderschaften waren allerdings freie Einungen (was nicht immer
gleichbedeutend war mit Einungen von Freien), aber um sich noch keine Zünfte und
überhaupt keine Körperschaften des öffentlichen Rechts; das wurden sie erst dadurch,
daß ihnen die Zunft von der Obrigkeit verliehen wurde. Die Freiheit, führt der
Verfasser aus, sei bei dieser Entwicklung nicht zu kurz gekommen; sei die Zunft
kein freies Rechtsinstitut. so sei sie dafür ein befreiendes gewesen. Die alte, vor-
swtliche Volksfreiheit, die ursprünglich die Quelle des öffentlichen Rechts und
demnach etwas positives gewesen war, sei nun einmal verloren gewesen; alles
Recht sei an den Staat übergegangen, der von da um die einzige Rechtsquelle
wurde, die Freiheit aber sei ein negativer Begriff geworden: Unabhängigkeit vom
Staatszwange. Diese Unabhängigkeit mußte Schritt für Schritt wieder erkämpft
und fortwährend verteidigt werden. Die Zünfte waren es vorzugsweise, die diesen
Kampf führten und die Freiheit auf dem Wege der Erwerbung von Sonderrechten,
von Privilegien, zurückeroberten. Bei den Kämpfen der mittelalterlichen Zünfte
handelte es sich keineswegs um solche Lappereien wie bei unsrer heutige» Zünftlerei.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0307" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227943"/>
          <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_816" prev="#ID_815"> Großherzog Leopold in sein durch Preußen von den Freischärlern gereinigtes<lb/>
Land zurückkehrte, verlieh er den Neicheuauern für alle Zeiten das Recht,<lb/>
fünfzig Mann Militär und dreißig Spielleute zu halten. Daß die kleine Insel<lb/>
auch im Ernst ihren Mann stellt, beweist das Kriegerdenkmal in Mittelzell<lb/>
mit einer langen, in Stein gegrabenen Liste von Mitkämpfern des 1870er<lb/>
Krieges. An einem Kreuzweg zwischen Mittel- und Niederzell ist außerdem<lb/>
zur Erinnerung an zwei in'diesem Kriege gefallene Reichenauer ein Stein-<lb/>
krenz errichtet. Scheffel erzählte gern, wie er sich unter den alten Schatten-<lb/>
büumeu vor dem Wirtshaus von Mittelzell bei einer Flasche goldnen Neiche-<lb/>
nauers in die karolingischen Kaiser- und Klosterzellen zurückgedacht habe, und<lb/>
wie wohl es ihm später nach 1870 ward, wenn er von Radolfzcll herüberfuhr<lb/>
und in demselben Schatten die neue Kaiserzeit überdachte, die ihn so tief er¬<lb/>
griffen und manches in ihm. dem alten Großdeutschen und Preußenhasfer,<lb/>
umgewandelt hatte.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Maßgebliches und Unmaßgebliches</head><lb/>
          <div n="2">
            <head> Zur Geschichte der Entstehung der Zünfte.</head>
            <p xml:id="ID_817" next="#ID_818"> Rudolf Eberstndt hat<lb/>
in seiner Studie: Ä^istorium und ?ratvr»it»s (Leipzig, Duncker und Humblot,<lb/>
den schwierige» Gegenstand nicht allein durch eine Fülle urkundlichen<lb/>
Materials aufgehellt, das vorzugsweise französischen Quellen entnommen ist, sondern<lb/>
""es eine grundsätzliche Schlichtung des Streits versucht, den die Vertreter der<lb/>
entgegengesetzten Theorien vom hoferechtlicheu Ursprung der Zünfte und von der<lb/>
freie» Einung mit einander führen. Die Zunft ist nach Eberstadt zweifellos hvfe-<lb/>
rechtlichen Ursprungs. Das Hofecnnt entwickelt sich aus einem Herrendienst zum<lb/>
^la^iswium, zum Amt eines erwählten Vorstehers fort, der gar nicht einmal ein<lb/>
Gewerbegenosse zu sein braucht, und die Gliederung, deren Spitze der &#x201E;Meister"<lb/>
ist. giebt den Rahmen ab für die Gewerbeorganisation, die später Zunft heißt.<lb/>
Die kirchlichen Bruderschaften waren allerdings freie Einungen (was nicht immer<lb/>
gleichbedeutend war mit Einungen von Freien), aber um sich noch keine Zünfte und<lb/>
überhaupt keine Körperschaften des öffentlichen Rechts; das wurden sie erst dadurch,<lb/>
daß ihnen die Zunft von der Obrigkeit verliehen wurde. Die Freiheit, führt der<lb/>
Verfasser aus, sei bei dieser Entwicklung nicht zu kurz gekommen; sei die Zunft<lb/>
kein freies Rechtsinstitut. so sei sie dafür ein befreiendes gewesen. Die alte, vor-<lb/>
swtliche Volksfreiheit, die ursprünglich die Quelle des öffentlichen Rechts und<lb/>
demnach etwas positives gewesen war, sei nun einmal verloren gewesen; alles<lb/>
Recht sei an den Staat übergegangen, der von da um die einzige Rechtsquelle<lb/>
wurde, die Freiheit aber sei ein negativer Begriff geworden: Unabhängigkeit vom<lb/>
Staatszwange. Diese Unabhängigkeit mußte Schritt für Schritt wieder erkämpft<lb/>
und fortwährend verteidigt werden. Die Zünfte waren es vorzugsweise, die diesen<lb/>
Kampf führten und die Freiheit auf dem Wege der Erwerbung von Sonderrechten,<lb/>
von Privilegien, zurückeroberten. Bei den Kämpfen der mittelalterlichen Zünfte<lb/>
handelte es sich keineswegs um solche Lappereien wie bei unsrer heutige» Zünftlerei.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0307] Maßgebliches und Unmaßgebliches Großherzog Leopold in sein durch Preußen von den Freischärlern gereinigtes Land zurückkehrte, verlieh er den Neicheuauern für alle Zeiten das Recht, fünfzig Mann Militär und dreißig Spielleute zu halten. Daß die kleine Insel auch im Ernst ihren Mann stellt, beweist das Kriegerdenkmal in Mittelzell mit einer langen, in Stein gegrabenen Liste von Mitkämpfern des 1870er Krieges. An einem Kreuzweg zwischen Mittel- und Niederzell ist außerdem zur Erinnerung an zwei in'diesem Kriege gefallene Reichenauer ein Stein- krenz errichtet. Scheffel erzählte gern, wie er sich unter den alten Schatten- büumeu vor dem Wirtshaus von Mittelzell bei einer Flasche goldnen Neiche- nauers in die karolingischen Kaiser- und Klosterzellen zurückgedacht habe, und wie wohl es ihm später nach 1870 ward, wenn er von Radolfzcll herüberfuhr und in demselben Schatten die neue Kaiserzeit überdachte, die ihn so tief er¬ griffen und manches in ihm. dem alten Großdeutschen und Preußenhasfer, umgewandelt hatte. Maßgebliches und Unmaßgebliches Zur Geschichte der Entstehung der Zünfte. Rudolf Eberstndt hat in seiner Studie: Ä^istorium und ?ratvr»it»s (Leipzig, Duncker und Humblot, den schwierige» Gegenstand nicht allein durch eine Fülle urkundlichen Materials aufgehellt, das vorzugsweise französischen Quellen entnommen ist, sondern ""es eine grundsätzliche Schlichtung des Streits versucht, den die Vertreter der entgegengesetzten Theorien vom hoferechtlicheu Ursprung der Zünfte und von der freie» Einung mit einander führen. Die Zunft ist nach Eberstadt zweifellos hvfe- rechtlichen Ursprungs. Das Hofecnnt entwickelt sich aus einem Herrendienst zum ^la^iswium, zum Amt eines erwählten Vorstehers fort, der gar nicht einmal ein Gewerbegenosse zu sein braucht, und die Gliederung, deren Spitze der „Meister" ist. giebt den Rahmen ab für die Gewerbeorganisation, die später Zunft heißt. Die kirchlichen Bruderschaften waren allerdings freie Einungen (was nicht immer gleichbedeutend war mit Einungen von Freien), aber um sich noch keine Zünfte und überhaupt keine Körperschaften des öffentlichen Rechts; das wurden sie erst dadurch, daß ihnen die Zunft von der Obrigkeit verliehen wurde. Die Freiheit, führt der Verfasser aus, sei bei dieser Entwicklung nicht zu kurz gekommen; sei die Zunft kein freies Rechtsinstitut. so sei sie dafür ein befreiendes gewesen. Die alte, vor- swtliche Volksfreiheit, die ursprünglich die Quelle des öffentlichen Rechts und demnach etwas positives gewesen war, sei nun einmal verloren gewesen; alles Recht sei an den Staat übergegangen, der von da um die einzige Rechtsquelle wurde, die Freiheit aber sei ein negativer Begriff geworden: Unabhängigkeit vom Staatszwange. Diese Unabhängigkeit mußte Schritt für Schritt wieder erkämpft und fortwährend verteidigt werden. Die Zünfte waren es vorzugsweise, die diesen Kampf führten und die Freiheit auf dem Wege der Erwerbung von Sonderrechten, von Privilegien, zurückeroberten. Bei den Kämpfen der mittelalterlichen Zünfte handelte es sich keineswegs um solche Lappereien wie bei unsrer heutige» Zünftlerei.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/307
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/307>, abgerufen am 27.12.2024.