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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

den Willen zur Macht." Immerwährende Kriege seien notwendig gewesen, die
Explosivkraft dieses Triebes vom Innern ab und nach außen zu lenken
(VIII, 169). Er wirst ihnen Grausamkeit vor, und daß sie entarteten und
der Hybris verfielen, sobald sie nicht mehr durch mächtige Nebenbuhler und
Feinde in Schranken gehalten wurden (IX, 197 bis 207). Vergebens hätten
die vorsvkrntischen Philosophen diese Laster bekämpft, sowie die weichliche
Behaglichkeit, die Lüge und die Schmiegsamkeit. Der Grieche, der durch keine
Gewalt in Schranken gehalten wird, "ist ein ganz maßloses Wesen; er stürzt
die Gebräuche des Vaterlandes um, thut den Weibern Gewalt an und tötet
Menschen nach Willkür" (X, 147 und 151). "Leidenschaftlich, aber herzlos
und schauspielerisch, so waren die Griechen, so waren selbst die griechischen
Philosophen, wie Plato" (XII, 396). Dazu litten sie an Halluzinationen und
übergroßer Sensibilität; es fehlte ihnen die Nüchternheit, und was dergleichen
erbauliche Dinge mehr sind; ja er spricht ihnen geradezu die Humanität ab.
Meine Kenntnis der alten Klassiker ist ja weder sehr umfangreich noch sehr
gründlich, aber so weit sie reicht, hat sie mir ein Bild des griechischen
Charakters ergeben, das mir die Vorwürfe Nietzsches teils ungerechtfertigt,
teils übertrieben erscheinen läßt. Insbesondre bin ich überzeugt, daß die
Griechen human waren, soweit ein ganzes Volk überhaupt human sein kaun.
Nietzsche bemerkt selbst einmal, vom Mittelalter aus betrachtet, erschienen die,
Griechen freilich human, aber er wußte uicht, daß das Mittelalter in diesem
Sinne bis in den Anfang des achtzehnten Jahrhunderts hinein gedauert hat,
und das Inhumane um modernen Leben hat er niemals kennen gelernt; er
hat unsre heutige Welt nach dem Pastoren- und Professorenkreise beurteilt,
in dem er lebte, und bei solcher Beschränkung des Begriffs moderner Europäer
dürfte er allerdings sagen, daß ein solcher in der Zeit der Völkerwanderung
als ein heiliger verehrt worden sein würde. Wie es außerhalb dieses engern
Kreises vielfach aussieht, darauf will ich hier nicht eingehen. Was aber den
ersten Punkt betrifft, so möge man nur das eine bedenken, daß die Athener
für Staatsverbrecher keine härtere Strafe kannten, als die schmerzlose Tötung
durch den Schierlingsbecher, und damit z. B. die bestialische Schlachtung des
Ritters Grumbach und des Kanzlers Brück auf dem Markte zu Gotha am
18. April 1567 vergleichen, die ja nicht etwa ein vereinzelter Fall, sondern
für dieses und das nächste Jahrhundert typisch war; und dazu nehme man
noch, daß beide vorher greulich gefoltert worden waren, und daß es im Urteile
über Grumbach hieß, dieser habe "eine gar ernstliche Strafe" verdient, der
Kurfürst (August) jedoch mildere diese "aus angeborner Güte" also, daß er
nur lebendig gevierteilt werden solle. Solcher Barbareien haben sich die
Griechen niemals und nirgends schuldig gemacht, d. h. die alten Griechen;
bei den Byzantinern dann, wenn man diese Griechen nennen will, waren sie
ja an der Tagesordnung.


Friedrich Nietzsche

den Willen zur Macht." Immerwährende Kriege seien notwendig gewesen, die
Explosivkraft dieses Triebes vom Innern ab und nach außen zu lenken
(VIII, 169). Er wirst ihnen Grausamkeit vor, und daß sie entarteten und
der Hybris verfielen, sobald sie nicht mehr durch mächtige Nebenbuhler und
Feinde in Schranken gehalten wurden (IX, 197 bis 207). Vergebens hätten
die vorsvkrntischen Philosophen diese Laster bekämpft, sowie die weichliche
Behaglichkeit, die Lüge und die Schmiegsamkeit. Der Grieche, der durch keine
Gewalt in Schranken gehalten wird, „ist ein ganz maßloses Wesen; er stürzt
die Gebräuche des Vaterlandes um, thut den Weibern Gewalt an und tötet
Menschen nach Willkür" (X, 147 und 151). „Leidenschaftlich, aber herzlos
und schauspielerisch, so waren die Griechen, so waren selbst die griechischen
Philosophen, wie Plato" (XII, 396). Dazu litten sie an Halluzinationen und
übergroßer Sensibilität; es fehlte ihnen die Nüchternheit, und was dergleichen
erbauliche Dinge mehr sind; ja er spricht ihnen geradezu die Humanität ab.
Meine Kenntnis der alten Klassiker ist ja weder sehr umfangreich noch sehr
gründlich, aber so weit sie reicht, hat sie mir ein Bild des griechischen
Charakters ergeben, das mir die Vorwürfe Nietzsches teils ungerechtfertigt,
teils übertrieben erscheinen läßt. Insbesondre bin ich überzeugt, daß die
Griechen human waren, soweit ein ganzes Volk überhaupt human sein kaun.
Nietzsche bemerkt selbst einmal, vom Mittelalter aus betrachtet, erschienen die,
Griechen freilich human, aber er wußte uicht, daß das Mittelalter in diesem
Sinne bis in den Anfang des achtzehnten Jahrhunderts hinein gedauert hat,
und das Inhumane um modernen Leben hat er niemals kennen gelernt; er
hat unsre heutige Welt nach dem Pastoren- und Professorenkreise beurteilt,
in dem er lebte, und bei solcher Beschränkung des Begriffs moderner Europäer
dürfte er allerdings sagen, daß ein solcher in der Zeit der Völkerwanderung
als ein heiliger verehrt worden sein würde. Wie es außerhalb dieses engern
Kreises vielfach aussieht, darauf will ich hier nicht eingehen. Was aber den
ersten Punkt betrifft, so möge man nur das eine bedenken, daß die Athener
für Staatsverbrecher keine härtere Strafe kannten, als die schmerzlose Tötung
durch den Schierlingsbecher, und damit z. B. die bestialische Schlachtung des
Ritters Grumbach und des Kanzlers Brück auf dem Markte zu Gotha am
18. April 1567 vergleichen, die ja nicht etwa ein vereinzelter Fall, sondern
für dieses und das nächste Jahrhundert typisch war; und dazu nehme man
noch, daß beide vorher greulich gefoltert worden waren, und daß es im Urteile
über Grumbach hieß, dieser habe „eine gar ernstliche Strafe" verdient, der
Kurfürst (August) jedoch mildere diese „aus angeborner Güte" also, daß er
nur lebendig gevierteilt werden solle. Solcher Barbareien haben sich die
Griechen niemals und nirgends schuldig gemacht, d. h. die alten Griechen;
bei den Byzantinern dann, wenn man diese Griechen nennen will, waren sie
ja an der Tagesordnung.


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[0293] Friedrich Nietzsche den Willen zur Macht." Immerwährende Kriege seien notwendig gewesen, die Explosivkraft dieses Triebes vom Innern ab und nach außen zu lenken (VIII, 169). Er wirst ihnen Grausamkeit vor, und daß sie entarteten und der Hybris verfielen, sobald sie nicht mehr durch mächtige Nebenbuhler und Feinde in Schranken gehalten wurden (IX, 197 bis 207). Vergebens hätten die vorsvkrntischen Philosophen diese Laster bekämpft, sowie die weichliche Behaglichkeit, die Lüge und die Schmiegsamkeit. Der Grieche, der durch keine Gewalt in Schranken gehalten wird, „ist ein ganz maßloses Wesen; er stürzt die Gebräuche des Vaterlandes um, thut den Weibern Gewalt an und tötet Menschen nach Willkür" (X, 147 und 151). „Leidenschaftlich, aber herzlos und schauspielerisch, so waren die Griechen, so waren selbst die griechischen Philosophen, wie Plato" (XII, 396). Dazu litten sie an Halluzinationen und übergroßer Sensibilität; es fehlte ihnen die Nüchternheit, und was dergleichen erbauliche Dinge mehr sind; ja er spricht ihnen geradezu die Humanität ab. Meine Kenntnis der alten Klassiker ist ja weder sehr umfangreich noch sehr gründlich, aber so weit sie reicht, hat sie mir ein Bild des griechischen Charakters ergeben, das mir die Vorwürfe Nietzsches teils ungerechtfertigt, teils übertrieben erscheinen läßt. Insbesondre bin ich überzeugt, daß die Griechen human waren, soweit ein ganzes Volk überhaupt human sein kaun. Nietzsche bemerkt selbst einmal, vom Mittelalter aus betrachtet, erschienen die, Griechen freilich human, aber er wußte uicht, daß das Mittelalter in diesem Sinne bis in den Anfang des achtzehnten Jahrhunderts hinein gedauert hat, und das Inhumane um modernen Leben hat er niemals kennen gelernt; er hat unsre heutige Welt nach dem Pastoren- und Professorenkreise beurteilt, in dem er lebte, und bei solcher Beschränkung des Begriffs moderner Europäer dürfte er allerdings sagen, daß ein solcher in der Zeit der Völkerwanderung als ein heiliger verehrt worden sein würde. Wie es außerhalb dieses engern Kreises vielfach aussieht, darauf will ich hier nicht eingehen. Was aber den ersten Punkt betrifft, so möge man nur das eine bedenken, daß die Athener für Staatsverbrecher keine härtere Strafe kannten, als die schmerzlose Tötung durch den Schierlingsbecher, und damit z. B. die bestialische Schlachtung des Ritters Grumbach und des Kanzlers Brück auf dem Markte zu Gotha am 18. April 1567 vergleichen, die ja nicht etwa ein vereinzelter Fall, sondern für dieses und das nächste Jahrhundert typisch war; und dazu nehme man noch, daß beide vorher greulich gefoltert worden waren, und daß es im Urteile über Grumbach hieß, dieser habe „eine gar ernstliche Strafe" verdient, der Kurfürst (August) jedoch mildere diese „aus angeborner Güte" also, daß er nur lebendig gevierteilt werden solle. Solcher Barbareien haben sich die Griechen niemals und nirgends schuldig gemacht, d. h. die alten Griechen; bei den Byzantinern dann, wenn man diese Griechen nennen will, waren sie ja an der Tagesordnung.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/293>, abgerufen am 23.07.2024.