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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Neue Romane und Novellen

dichterische Kraft erwacht. Er will sich in keine Parteifesseln schlagen lassen,
und das hat er denen, die ihn dazu pressen wollten, sehr deutlich in seinem
neuesten Roman Der Grabenhäger (zwei Bünde, Berlin, F. Fontane u. Comp.)
Zu verstehen gegeben. Er hat darin eigentlich alles zusammengefaßt, was ihn
in seinen frühern Arbeiten vereinzelt beschäftigt hatte. Hier sollte es zu mög¬
lichst kräftigem, vielseitigem Ausdruck kommen. Inzwischen hatte er aber auch
mehr Einzelstudien gemacht, und darnach hat er einzelne Figuren mehr ver¬
tiefen können, als es ihm früher gelungen war. Auch ist er künstlerisch ge¬
wachsen, soweit die Komposition in Betracht kommt, wenn man noch bei einem
Roman, bei einem Erzeugnis der Litteratur überhaupt, diesem veralteten Be¬
griff ein gewisses Recht einräumen will. Er hat gelernt, daß es sich in
dieser Welt nur leben läßt, wenn man sich zu Zugeständnissen versteht und
im Falle der höchsten Not sogar einen faulen Frieden schließt, nur um das
Nächste und Teuerste zu retten. Der Verfasser führt uns so viel Tempera¬
mentsmenschen und Charaktergestalten vor, daß man wohl glauben kann, ein
solcher Friede könne auch einmal zu ersprießlichem Zusammenwirken führen.
In dieser Vielseitigkeit liegt aber auch der Bruch der ganzen Verbindung von
Gestalten und Ideen. Wenn auch ein großer Grundbesitzer, der Grabenhäger,
durch das milde, stille Walten seiner Frau von dem verderblichen Einfluß
seiner Standesgenossen befreit und aus dem Standesbewußtsein zu einer freien
Menschlichkeit erhoben wird, so ist das mir ein dichterisches Gebilde, das
zwar in allen Einzelheiten mit überraschender Naturwahrheit glaubhaft gemacht
wird, das aber, wenn wir es zur Kontrolle der Wirklichkeit gebrauchen wollten,
die Prüfung auf typische Geltung durchaus nicht bestehen würde. Trotzdem
Möchten wir dem Verfasser raten, ans seinem Wege weiter zu gehen. Seine
Kunst ist bisweilen noch ungelenk, aber seine oft von tiefem Ingrimm erfüllten
Worte treffen meist wie Schwerthiebe auf dicke Schädel, deren Inhaber davon
Belehrung, vielleicht auch Nutzen ziehen können.'

Der Wunsch. den adlichen Grundbesitzern mehr die Augen für ihre Um¬
gebung und die Menschen, die nnter ihnen und für sie arbeiten, leben und
^'idem. zu öffnen, durchdringt auch den Roman Quitt! von Johannes
Richard zur Megede, einem Schriftsteller, der sich erst vor etwa anderthalb
Jahren durch eine Nvvellensammlung unter dem Titel "Kismet" und durch
einen Roman aus jener Schicht der Berliner Gesellschaft bekannt gemacht hat.
die aus Sportsleuten, Grundstücksspekulanten, wegen unlauterer Handlungen
verabschiedeten Offizieren und andern gescheiterten Existenzen, Schmarotzern
u"d litterarischen Winkelgrößen bunt genug zusammengesetzt ist (Stuttgart,
Deutsche Verlagsanstalt). Dieser Roman. "Unter Zigeunern" betitelt, ließ
uns zwar in einen Sumpf sittlicher Fäulnis sehen; aber der Kenner dieser
Verhältnisse mußte zugeben, daß hier keineswegs die grellen Farben eines
Zola aufgetragen worden waren. Einen künstlerischen Zug hatte der Roman


Neue Romane und Novellen

dichterische Kraft erwacht. Er will sich in keine Parteifesseln schlagen lassen,
und das hat er denen, die ihn dazu pressen wollten, sehr deutlich in seinem
neuesten Roman Der Grabenhäger (zwei Bünde, Berlin, F. Fontane u. Comp.)
Zu verstehen gegeben. Er hat darin eigentlich alles zusammengefaßt, was ihn
in seinen frühern Arbeiten vereinzelt beschäftigt hatte. Hier sollte es zu mög¬
lichst kräftigem, vielseitigem Ausdruck kommen. Inzwischen hatte er aber auch
mehr Einzelstudien gemacht, und darnach hat er einzelne Figuren mehr ver¬
tiefen können, als es ihm früher gelungen war. Auch ist er künstlerisch ge¬
wachsen, soweit die Komposition in Betracht kommt, wenn man noch bei einem
Roman, bei einem Erzeugnis der Litteratur überhaupt, diesem veralteten Be¬
griff ein gewisses Recht einräumen will. Er hat gelernt, daß es sich in
dieser Welt nur leben läßt, wenn man sich zu Zugeständnissen versteht und
im Falle der höchsten Not sogar einen faulen Frieden schließt, nur um das
Nächste und Teuerste zu retten. Der Verfasser führt uns so viel Tempera¬
mentsmenschen und Charaktergestalten vor, daß man wohl glauben kann, ein
solcher Friede könne auch einmal zu ersprießlichem Zusammenwirken führen.
In dieser Vielseitigkeit liegt aber auch der Bruch der ganzen Verbindung von
Gestalten und Ideen. Wenn auch ein großer Grundbesitzer, der Grabenhäger,
durch das milde, stille Walten seiner Frau von dem verderblichen Einfluß
seiner Standesgenossen befreit und aus dem Standesbewußtsein zu einer freien
Menschlichkeit erhoben wird, so ist das mir ein dichterisches Gebilde, das
zwar in allen Einzelheiten mit überraschender Naturwahrheit glaubhaft gemacht
wird, das aber, wenn wir es zur Kontrolle der Wirklichkeit gebrauchen wollten,
die Prüfung auf typische Geltung durchaus nicht bestehen würde. Trotzdem
Möchten wir dem Verfasser raten, ans seinem Wege weiter zu gehen. Seine
Kunst ist bisweilen noch ungelenk, aber seine oft von tiefem Ingrimm erfüllten
Worte treffen meist wie Schwerthiebe auf dicke Schädel, deren Inhaber davon
Belehrung, vielleicht auch Nutzen ziehen können.'

Der Wunsch. den adlichen Grundbesitzern mehr die Augen für ihre Um¬
gebung und die Menschen, die nnter ihnen und für sie arbeiten, leben und
^'idem. zu öffnen, durchdringt auch den Roman Quitt! von Johannes
Richard zur Megede, einem Schriftsteller, der sich erst vor etwa anderthalb
Jahren durch eine Nvvellensammlung unter dem Titel „Kismet" und durch
einen Roman aus jener Schicht der Berliner Gesellschaft bekannt gemacht hat.
die aus Sportsleuten, Grundstücksspekulanten, wegen unlauterer Handlungen
verabschiedeten Offizieren und andern gescheiterten Existenzen, Schmarotzern
u»d litterarischen Winkelgrößen bunt genug zusammengesetzt ist (Stuttgart,
Deutsche Verlagsanstalt). Dieser Roman. „Unter Zigeunern" betitelt, ließ
uns zwar in einen Sumpf sittlicher Fäulnis sehen; aber der Kenner dieser
Verhältnisse mußte zugeben, daß hier keineswegs die grellen Farben eines
Zola aufgetragen worden waren. Einen künstlerischen Zug hatte der Roman


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[0029] Neue Romane und Novellen dichterische Kraft erwacht. Er will sich in keine Parteifesseln schlagen lassen, und das hat er denen, die ihn dazu pressen wollten, sehr deutlich in seinem neuesten Roman Der Grabenhäger (zwei Bünde, Berlin, F. Fontane u. Comp.) Zu verstehen gegeben. Er hat darin eigentlich alles zusammengefaßt, was ihn in seinen frühern Arbeiten vereinzelt beschäftigt hatte. Hier sollte es zu mög¬ lichst kräftigem, vielseitigem Ausdruck kommen. Inzwischen hatte er aber auch mehr Einzelstudien gemacht, und darnach hat er einzelne Figuren mehr ver¬ tiefen können, als es ihm früher gelungen war. Auch ist er künstlerisch ge¬ wachsen, soweit die Komposition in Betracht kommt, wenn man noch bei einem Roman, bei einem Erzeugnis der Litteratur überhaupt, diesem veralteten Be¬ griff ein gewisses Recht einräumen will. Er hat gelernt, daß es sich in dieser Welt nur leben läßt, wenn man sich zu Zugeständnissen versteht und im Falle der höchsten Not sogar einen faulen Frieden schließt, nur um das Nächste und Teuerste zu retten. Der Verfasser führt uns so viel Tempera¬ mentsmenschen und Charaktergestalten vor, daß man wohl glauben kann, ein solcher Friede könne auch einmal zu ersprießlichem Zusammenwirken führen. In dieser Vielseitigkeit liegt aber auch der Bruch der ganzen Verbindung von Gestalten und Ideen. Wenn auch ein großer Grundbesitzer, der Grabenhäger, durch das milde, stille Walten seiner Frau von dem verderblichen Einfluß seiner Standesgenossen befreit und aus dem Standesbewußtsein zu einer freien Menschlichkeit erhoben wird, so ist das mir ein dichterisches Gebilde, das zwar in allen Einzelheiten mit überraschender Naturwahrheit glaubhaft gemacht wird, das aber, wenn wir es zur Kontrolle der Wirklichkeit gebrauchen wollten, die Prüfung auf typische Geltung durchaus nicht bestehen würde. Trotzdem Möchten wir dem Verfasser raten, ans seinem Wege weiter zu gehen. Seine Kunst ist bisweilen noch ungelenk, aber seine oft von tiefem Ingrimm erfüllten Worte treffen meist wie Schwerthiebe auf dicke Schädel, deren Inhaber davon Belehrung, vielleicht auch Nutzen ziehen können.' Der Wunsch. den adlichen Grundbesitzern mehr die Augen für ihre Um¬ gebung und die Menschen, die nnter ihnen und für sie arbeiten, leben und ^'idem. zu öffnen, durchdringt auch den Roman Quitt! von Johannes Richard zur Megede, einem Schriftsteller, der sich erst vor etwa anderthalb Jahren durch eine Nvvellensammlung unter dem Titel „Kismet" und durch einen Roman aus jener Schicht der Berliner Gesellschaft bekannt gemacht hat. die aus Sportsleuten, Grundstücksspekulanten, wegen unlauterer Handlungen verabschiedeten Offizieren und andern gescheiterten Existenzen, Schmarotzern u»d litterarischen Winkelgrößen bunt genug zusammengesetzt ist (Stuttgart, Deutsche Verlagsanstalt). Dieser Roman. „Unter Zigeunern" betitelt, ließ uns zwar in einen Sumpf sittlicher Fäulnis sehen; aber der Kenner dieser Verhältnisse mußte zugeben, daß hier keineswegs die grellen Farben eines Zola aufgetragen worden waren. Einen künstlerischen Zug hatte der Roman

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/29>, abgerufen am 23.07.2024.