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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

Grausamkeit, die mir immer als der eigentliche "Hexentrank" erschienen ist.
Gegen die fieberhaften Regungen jener Feste, deren Kenntnis auf alten Lcmd-
und Seewegen zu den Griechen drang, waren sie, scheint es, eine Zeit lang
völlig gesichert und geschützt durch die sich hier in seinem ganzen Stolz auf¬
richtende Gestalt des Apollo, der das Medusenhaupt keiner gefährlichern Macht
entgegenhalten konnte als dieser fratzenhaft ungeschlachten dionysischen. Es ist
die dorische Kunst, in der sich jene majestätisch-ablehnende Haltung des Apollo
verewigt hat. Bedenklicher und sogar unmöglicher wurde dieser Widerstand,
als sich endlich aus der tiefsten Wurzel des Hellenischen heraus ähnliche Triebe
Bahn brachen: jetzt beschränkt sich das Wirken des delphischen Gottes darauf,
dem gewaltigen Gegner durch eine zur rechten Zeit abgeschlossene Versöhnung
die vernichtenden Waffen aus der Hand zu nehmen." Wie die dionysischen
Künste: Musik und Tanz aus dem Rausch, so entstehen die apollinischen, die
die Natur nachbildenden Künste aus dem Traum, der das Nachbilden von
Gestatte" lehrt. Dem Tiefsinn der Griechen hat sich das Entsetzliche der Welt
enthüllt, und ihr Zartsinn, der die Leiden der Welt in ihrer ganzen Stärke
und Tiefe empfindet, müßte erliegen, wenn ihnen nicht Apollo, d. i. ihre
Fähigkeit, das Schöne zu sehen, und ihr Trieb, es darzustellen, zu Hilfe käme.
Sie zaubern sich die olympische Götterwelt vor und verbergen sich durch diese
herrliche Kulisse die Welt der düstern Titanen, die Schrecken der Natur; die
ästhetische Auffassung der Welt macht ihnen das Dasein erträglich. In der
Tragödie nun verschmilzt das Apollinische mit dem Dionysischen, indem es
dem Chorgesang die Dekoration, die Person des Helden und den Dialog bei¬
fügt. Der Sinn der Musik wird durch Wort und Bild gedeutet, und die
dionysische Stimmung entladet sich in einer apollinischen Bilderwelt.

Auch wenn ich, was nicht der Fall ist, über das erforderliche philologische
und historisch-antiquarische Rüstzeug verfügte, würde ich es nicht unternehmen,
diesen Erklärungsversuch Nietzsches zu kritisiren; dergleichen kritisirt man über¬
haupt nicht, denn wer vermöchte mit Sicherheit nachzuweisen, wie die Ge¬
dankenwelt einer vor zweitausend Jahren untergegangnen Nation entstanden
ist, und wie alles darin zusammenhängt, und wer vermöchte den zu widerlegen,
der sich auf dem Wege der Kombinationen und Vermutungen ein Bild davon
gemacht hat? Ist das Bild nur schön und glaubhaft, so freut man sich
daran; höchstens untersucht man, ob der Bildner nicht etwa historisch nicht
nachweisbare Züge eingemischt hat, und das ist bei Nietzsches Versuch nicht
der Fall. Alle Elemente, die er verwendet, sind der Wirklichkeit des Alter¬
tums entnommen: der orgiastische Kultus, der Sinn dieses Kultus, die Ver¬
schmelzung des Orgiasmus mit den darstellenden Künsten im griechischen
Drama; auch ist es Thatsache, daß in der Kunst der Rausch der Begeisterung
und die traumartig Bilder schaffende Phantasie zusammenwirken. Vielleicht
wird mancher vorziehen, statt des Apollo die Pallas Athene als Nepräsen-


Friedrich Nietzsche

Grausamkeit, die mir immer als der eigentliche »Hexentrank« erschienen ist.
Gegen die fieberhaften Regungen jener Feste, deren Kenntnis auf alten Lcmd-
und Seewegen zu den Griechen drang, waren sie, scheint es, eine Zeit lang
völlig gesichert und geschützt durch die sich hier in seinem ganzen Stolz auf¬
richtende Gestalt des Apollo, der das Medusenhaupt keiner gefährlichern Macht
entgegenhalten konnte als dieser fratzenhaft ungeschlachten dionysischen. Es ist
die dorische Kunst, in der sich jene majestätisch-ablehnende Haltung des Apollo
verewigt hat. Bedenklicher und sogar unmöglicher wurde dieser Widerstand,
als sich endlich aus der tiefsten Wurzel des Hellenischen heraus ähnliche Triebe
Bahn brachen: jetzt beschränkt sich das Wirken des delphischen Gottes darauf,
dem gewaltigen Gegner durch eine zur rechten Zeit abgeschlossene Versöhnung
die vernichtenden Waffen aus der Hand zu nehmen." Wie die dionysischen
Künste: Musik und Tanz aus dem Rausch, so entstehen die apollinischen, die
die Natur nachbildenden Künste aus dem Traum, der das Nachbilden von
Gestatte» lehrt. Dem Tiefsinn der Griechen hat sich das Entsetzliche der Welt
enthüllt, und ihr Zartsinn, der die Leiden der Welt in ihrer ganzen Stärke
und Tiefe empfindet, müßte erliegen, wenn ihnen nicht Apollo, d. i. ihre
Fähigkeit, das Schöne zu sehen, und ihr Trieb, es darzustellen, zu Hilfe käme.
Sie zaubern sich die olympische Götterwelt vor und verbergen sich durch diese
herrliche Kulisse die Welt der düstern Titanen, die Schrecken der Natur; die
ästhetische Auffassung der Welt macht ihnen das Dasein erträglich. In der
Tragödie nun verschmilzt das Apollinische mit dem Dionysischen, indem es
dem Chorgesang die Dekoration, die Person des Helden und den Dialog bei¬
fügt. Der Sinn der Musik wird durch Wort und Bild gedeutet, und die
dionysische Stimmung entladet sich in einer apollinischen Bilderwelt.

Auch wenn ich, was nicht der Fall ist, über das erforderliche philologische
und historisch-antiquarische Rüstzeug verfügte, würde ich es nicht unternehmen,
diesen Erklärungsversuch Nietzsches zu kritisiren; dergleichen kritisirt man über¬
haupt nicht, denn wer vermöchte mit Sicherheit nachzuweisen, wie die Ge¬
dankenwelt einer vor zweitausend Jahren untergegangnen Nation entstanden
ist, und wie alles darin zusammenhängt, und wer vermöchte den zu widerlegen,
der sich auf dem Wege der Kombinationen und Vermutungen ein Bild davon
gemacht hat? Ist das Bild nur schön und glaubhaft, so freut man sich
daran; höchstens untersucht man, ob der Bildner nicht etwa historisch nicht
nachweisbare Züge eingemischt hat, und das ist bei Nietzsches Versuch nicht
der Fall. Alle Elemente, die er verwendet, sind der Wirklichkeit des Alter¬
tums entnommen: der orgiastische Kultus, der Sinn dieses Kultus, die Ver¬
schmelzung des Orgiasmus mit den darstellenden Künsten im griechischen
Drama; auch ist es Thatsache, daß in der Kunst der Rausch der Begeisterung
und die traumartig Bilder schaffende Phantasie zusammenwirken. Vielleicht
wird mancher vorziehen, statt des Apollo die Pallas Athene als Nepräsen-


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[0287] Friedrich Nietzsche Grausamkeit, die mir immer als der eigentliche »Hexentrank« erschienen ist. Gegen die fieberhaften Regungen jener Feste, deren Kenntnis auf alten Lcmd- und Seewegen zu den Griechen drang, waren sie, scheint es, eine Zeit lang völlig gesichert und geschützt durch die sich hier in seinem ganzen Stolz auf¬ richtende Gestalt des Apollo, der das Medusenhaupt keiner gefährlichern Macht entgegenhalten konnte als dieser fratzenhaft ungeschlachten dionysischen. Es ist die dorische Kunst, in der sich jene majestätisch-ablehnende Haltung des Apollo verewigt hat. Bedenklicher und sogar unmöglicher wurde dieser Widerstand, als sich endlich aus der tiefsten Wurzel des Hellenischen heraus ähnliche Triebe Bahn brachen: jetzt beschränkt sich das Wirken des delphischen Gottes darauf, dem gewaltigen Gegner durch eine zur rechten Zeit abgeschlossene Versöhnung die vernichtenden Waffen aus der Hand zu nehmen." Wie die dionysischen Künste: Musik und Tanz aus dem Rausch, so entstehen die apollinischen, die die Natur nachbildenden Künste aus dem Traum, der das Nachbilden von Gestatte» lehrt. Dem Tiefsinn der Griechen hat sich das Entsetzliche der Welt enthüllt, und ihr Zartsinn, der die Leiden der Welt in ihrer ganzen Stärke und Tiefe empfindet, müßte erliegen, wenn ihnen nicht Apollo, d. i. ihre Fähigkeit, das Schöne zu sehen, und ihr Trieb, es darzustellen, zu Hilfe käme. Sie zaubern sich die olympische Götterwelt vor und verbergen sich durch diese herrliche Kulisse die Welt der düstern Titanen, die Schrecken der Natur; die ästhetische Auffassung der Welt macht ihnen das Dasein erträglich. In der Tragödie nun verschmilzt das Apollinische mit dem Dionysischen, indem es dem Chorgesang die Dekoration, die Person des Helden und den Dialog bei¬ fügt. Der Sinn der Musik wird durch Wort und Bild gedeutet, und die dionysische Stimmung entladet sich in einer apollinischen Bilderwelt. Auch wenn ich, was nicht der Fall ist, über das erforderliche philologische und historisch-antiquarische Rüstzeug verfügte, würde ich es nicht unternehmen, diesen Erklärungsversuch Nietzsches zu kritisiren; dergleichen kritisirt man über¬ haupt nicht, denn wer vermöchte mit Sicherheit nachzuweisen, wie die Ge¬ dankenwelt einer vor zweitausend Jahren untergegangnen Nation entstanden ist, und wie alles darin zusammenhängt, und wer vermöchte den zu widerlegen, der sich auf dem Wege der Kombinationen und Vermutungen ein Bild davon gemacht hat? Ist das Bild nur schön und glaubhaft, so freut man sich daran; höchstens untersucht man, ob der Bildner nicht etwa historisch nicht nachweisbare Züge eingemischt hat, und das ist bei Nietzsches Versuch nicht der Fall. Alle Elemente, die er verwendet, sind der Wirklichkeit des Alter¬ tums entnommen: der orgiastische Kultus, der Sinn dieses Kultus, die Ver¬ schmelzung des Orgiasmus mit den darstellenden Künsten im griechischen Drama; auch ist es Thatsache, daß in der Kunst der Rausch der Begeisterung und die traumartig Bilder schaffende Phantasie zusammenwirken. Vielleicht wird mancher vorziehen, statt des Apollo die Pallas Athene als Nepräsen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/287>, abgerufen am 23.07.2024.