Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Friedrich Nietzsche

Diese Musik war der Ausdruck einer Nauschbegeisterung, in der die Schicksale
des Dionysus empfunden und gepriesen wurden, was später in etwas andrer
Weise bei der Mysterienfeier geschah. Dionysus ist das Urwesen der Welt.
Er wird von den Titanen zerstückelt, das heißt, die Einheit des Urwesens
spaltet sich in die Vielheit der Elemente, deren Sinnbilder die Titanen sind,
zuletzt der Individuen. Aus dem Lächeln dieses Dionysus, der in der Zer¬
stücklung Zagreus heißt, sind die olympischen Götter, aus seinen Thränen die
Menschen entstanden. "In jener Existenz als zerstückelter Gott hat Dionysus
die Doppelnatur eines grausamen verwilderten Dämons und eines milden
sanftmütigen Herrschers. Die Hoffnung der Epopeen ^in den Mysterien) ging
aber auf eine Wiedergeburt des Dionysus, die wir jetzt als das Ende der
Individuation ahnungsvoll zu begreifen haben: diesem kommenden dritten
Dionysus erscholl der brausende Jubelgesang der Epopeen. Und nur in dieser
Hoffnung giebt es einen Strahl von Frende auf dem Antlitze der zerrissenen,
in Individuen zertrümmerten Welt. In diesen Anschauungen haben wir alle
Bestandteile einer tiefsinnigen und pessimistischen Weltbetrachtung und damit
zugleich die Mysterienlehre der Tragödie: die Grunderkenntnis von der Einheit
alles Vorhandnen, die Betrachtung der Individuation als des Urgrundes des
Übels, die Kunst als die freudige Hoffnung, daß der Bann der Individuation
zu zerbreche" sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit" (I, 74).
Und zwar ist hier vorzugsweise eine Kunst, die Musik, gemeint, die nach
Schopenhauer nicht wie die andern Künste Erscheinungen abbildet, sondern den
alleinen Willen des Weltwesens selbst ausdrückt. Die Satyrgestalt des Chors
hat den Zweck, das Entsetzliche, dessen man im Mythus inne wird, durch die
Umwandlung ins Erhabne und zugleich ins Komische erträglich zu machen;
erhaben aber erscheinen die Satyrn als Vertreter der unverfälschten Natur,
der gegenüber die Kulturmenschen mit ihrer beschränkenden Sitte und be¬
schränkten Weisheit nur als Karikaturen erscheinen. Wo sich aber die Weisheit
mystisch vertieft und die Natur zwingt, ihr Geheimnis preiszugeben, da er¬
scheint sie als Widernatur, als Frevel an der Natur, weshalb die alten Perser
glaubten, ein Magier könne nur aus dem Jnzest geboren werden, und weshalb
Ödipus, der Rätsellöser, Gatte seiner Mutter und Mörder seines Vaters sein
muß. Die Helden der Tragödie, namentlich Prometheus und Ödipus, sind
nämlich alle nur Masken des einen Dionysus, wie sich andrerseits mit den
Personen des Chors, den Satyrn, die Zuschauer eins fühlen, die ja auch ur¬
sprünglich singend und tanzend an der Feier teilgenommen hatten.

Der Mythus und seine orgiastische Feier stammt bekanntlich aus Vorder-
nsien. Hier um lag der Kern der Feier "in einer überschwänglichen geschlecht¬
lichen Zuchtlosigkeit, deren Wellen über jedes Familientum und dessen ehr¬
würdige Satzungen hinwegflnteten; gerade die wildesten Bestien der Natur
wurden hier entfesselt, bis zu jener abscheulichen Mischung von Wollust und


Friedrich Nietzsche

Diese Musik war der Ausdruck einer Nauschbegeisterung, in der die Schicksale
des Dionysus empfunden und gepriesen wurden, was später in etwas andrer
Weise bei der Mysterienfeier geschah. Dionysus ist das Urwesen der Welt.
Er wird von den Titanen zerstückelt, das heißt, die Einheit des Urwesens
spaltet sich in die Vielheit der Elemente, deren Sinnbilder die Titanen sind,
zuletzt der Individuen. Aus dem Lächeln dieses Dionysus, der in der Zer¬
stücklung Zagreus heißt, sind die olympischen Götter, aus seinen Thränen die
Menschen entstanden. „In jener Existenz als zerstückelter Gott hat Dionysus
die Doppelnatur eines grausamen verwilderten Dämons und eines milden
sanftmütigen Herrschers. Die Hoffnung der Epopeen ^in den Mysterien) ging
aber auf eine Wiedergeburt des Dionysus, die wir jetzt als das Ende der
Individuation ahnungsvoll zu begreifen haben: diesem kommenden dritten
Dionysus erscholl der brausende Jubelgesang der Epopeen. Und nur in dieser
Hoffnung giebt es einen Strahl von Frende auf dem Antlitze der zerrissenen,
in Individuen zertrümmerten Welt. In diesen Anschauungen haben wir alle
Bestandteile einer tiefsinnigen und pessimistischen Weltbetrachtung und damit
zugleich die Mysterienlehre der Tragödie: die Grunderkenntnis von der Einheit
alles Vorhandnen, die Betrachtung der Individuation als des Urgrundes des
Übels, die Kunst als die freudige Hoffnung, daß der Bann der Individuation
zu zerbreche» sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit" (I, 74).
Und zwar ist hier vorzugsweise eine Kunst, die Musik, gemeint, die nach
Schopenhauer nicht wie die andern Künste Erscheinungen abbildet, sondern den
alleinen Willen des Weltwesens selbst ausdrückt. Die Satyrgestalt des Chors
hat den Zweck, das Entsetzliche, dessen man im Mythus inne wird, durch die
Umwandlung ins Erhabne und zugleich ins Komische erträglich zu machen;
erhaben aber erscheinen die Satyrn als Vertreter der unverfälschten Natur,
der gegenüber die Kulturmenschen mit ihrer beschränkenden Sitte und be¬
schränkten Weisheit nur als Karikaturen erscheinen. Wo sich aber die Weisheit
mystisch vertieft und die Natur zwingt, ihr Geheimnis preiszugeben, da er¬
scheint sie als Widernatur, als Frevel an der Natur, weshalb die alten Perser
glaubten, ein Magier könne nur aus dem Jnzest geboren werden, und weshalb
Ödipus, der Rätsellöser, Gatte seiner Mutter und Mörder seines Vaters sein
muß. Die Helden der Tragödie, namentlich Prometheus und Ödipus, sind
nämlich alle nur Masken des einen Dionysus, wie sich andrerseits mit den
Personen des Chors, den Satyrn, die Zuschauer eins fühlen, die ja auch ur¬
sprünglich singend und tanzend an der Feier teilgenommen hatten.

Der Mythus und seine orgiastische Feier stammt bekanntlich aus Vorder-
nsien. Hier um lag der Kern der Feier „in einer überschwänglichen geschlecht¬
lichen Zuchtlosigkeit, deren Wellen über jedes Familientum und dessen ehr¬
würdige Satzungen hinwegflnteten; gerade die wildesten Bestien der Natur
wurden hier entfesselt, bis zu jener abscheulichen Mischung von Wollust und


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0286" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227922"/>
          <fw type="header" place="top"> Friedrich Nietzsche</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_771" prev="#ID_770"> Diese Musik war der Ausdruck einer Nauschbegeisterung, in der die Schicksale<lb/>
des Dionysus empfunden und gepriesen wurden, was später in etwas andrer<lb/>
Weise bei der Mysterienfeier geschah. Dionysus ist das Urwesen der Welt.<lb/>
Er wird von den Titanen zerstückelt, das heißt, die Einheit des Urwesens<lb/>
spaltet sich in die Vielheit der Elemente, deren Sinnbilder die Titanen sind,<lb/>
zuletzt der Individuen. Aus dem Lächeln dieses Dionysus, der in der Zer¬<lb/>
stücklung Zagreus heißt, sind die olympischen Götter, aus seinen Thränen die<lb/>
Menschen entstanden. &#x201E;In jener Existenz als zerstückelter Gott hat Dionysus<lb/>
die Doppelnatur eines grausamen verwilderten Dämons und eines milden<lb/>
sanftmütigen Herrschers. Die Hoffnung der Epopeen ^in den Mysterien) ging<lb/>
aber auf eine Wiedergeburt des Dionysus, die wir jetzt als das Ende der<lb/>
Individuation ahnungsvoll zu begreifen haben: diesem kommenden dritten<lb/>
Dionysus erscholl der brausende Jubelgesang der Epopeen. Und nur in dieser<lb/>
Hoffnung giebt es einen Strahl von Frende auf dem Antlitze der zerrissenen,<lb/>
in Individuen zertrümmerten Welt. In diesen Anschauungen haben wir alle<lb/>
Bestandteile einer tiefsinnigen und pessimistischen Weltbetrachtung und damit<lb/>
zugleich die Mysterienlehre der Tragödie: die Grunderkenntnis von der Einheit<lb/>
alles Vorhandnen, die Betrachtung der Individuation als des Urgrundes des<lb/>
Übels, die Kunst als die freudige Hoffnung, daß der Bann der Individuation<lb/>
zu zerbreche» sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit" (I, 74).<lb/>
Und zwar ist hier vorzugsweise eine Kunst, die Musik, gemeint, die nach<lb/>
Schopenhauer nicht wie die andern Künste Erscheinungen abbildet, sondern den<lb/>
alleinen Willen des Weltwesens selbst ausdrückt. Die Satyrgestalt des Chors<lb/>
hat den Zweck, das Entsetzliche, dessen man im Mythus inne wird, durch die<lb/>
Umwandlung ins Erhabne und zugleich ins Komische erträglich zu machen;<lb/>
erhaben aber erscheinen die Satyrn als Vertreter der unverfälschten Natur,<lb/>
der gegenüber die Kulturmenschen mit ihrer beschränkenden Sitte und be¬<lb/>
schränkten Weisheit nur als Karikaturen erscheinen. Wo sich aber die Weisheit<lb/>
mystisch vertieft und die Natur zwingt, ihr Geheimnis preiszugeben, da er¬<lb/>
scheint sie als Widernatur, als Frevel an der Natur, weshalb die alten Perser<lb/>
glaubten, ein Magier könne nur aus dem Jnzest geboren werden, und weshalb<lb/>
Ödipus, der Rätsellöser, Gatte seiner Mutter und Mörder seines Vaters sein<lb/>
muß. Die Helden der Tragödie, namentlich Prometheus und Ödipus, sind<lb/>
nämlich alle nur Masken des einen Dionysus, wie sich andrerseits mit den<lb/>
Personen des Chors, den Satyrn, die Zuschauer eins fühlen, die ja auch ur¬<lb/>
sprünglich singend und tanzend an der Feier teilgenommen hatten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_772" next="#ID_773"> Der Mythus und seine orgiastische Feier stammt bekanntlich aus Vorder-<lb/>
nsien. Hier um lag der Kern der Feier &#x201E;in einer überschwänglichen geschlecht¬<lb/>
lichen Zuchtlosigkeit, deren Wellen über jedes Familientum und dessen ehr¬<lb/>
würdige Satzungen hinwegflnteten; gerade die wildesten Bestien der Natur<lb/>
wurden hier entfesselt, bis zu jener abscheulichen Mischung von Wollust und</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0286] Friedrich Nietzsche Diese Musik war der Ausdruck einer Nauschbegeisterung, in der die Schicksale des Dionysus empfunden und gepriesen wurden, was später in etwas andrer Weise bei der Mysterienfeier geschah. Dionysus ist das Urwesen der Welt. Er wird von den Titanen zerstückelt, das heißt, die Einheit des Urwesens spaltet sich in die Vielheit der Elemente, deren Sinnbilder die Titanen sind, zuletzt der Individuen. Aus dem Lächeln dieses Dionysus, der in der Zer¬ stücklung Zagreus heißt, sind die olympischen Götter, aus seinen Thränen die Menschen entstanden. „In jener Existenz als zerstückelter Gott hat Dionysus die Doppelnatur eines grausamen verwilderten Dämons und eines milden sanftmütigen Herrschers. Die Hoffnung der Epopeen ^in den Mysterien) ging aber auf eine Wiedergeburt des Dionysus, die wir jetzt als das Ende der Individuation ahnungsvoll zu begreifen haben: diesem kommenden dritten Dionysus erscholl der brausende Jubelgesang der Epopeen. Und nur in dieser Hoffnung giebt es einen Strahl von Frende auf dem Antlitze der zerrissenen, in Individuen zertrümmerten Welt. In diesen Anschauungen haben wir alle Bestandteile einer tiefsinnigen und pessimistischen Weltbetrachtung und damit zugleich die Mysterienlehre der Tragödie: die Grunderkenntnis von der Einheit alles Vorhandnen, die Betrachtung der Individuation als des Urgrundes des Übels, die Kunst als die freudige Hoffnung, daß der Bann der Individuation zu zerbreche» sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit" (I, 74). Und zwar ist hier vorzugsweise eine Kunst, die Musik, gemeint, die nach Schopenhauer nicht wie die andern Künste Erscheinungen abbildet, sondern den alleinen Willen des Weltwesens selbst ausdrückt. Die Satyrgestalt des Chors hat den Zweck, das Entsetzliche, dessen man im Mythus inne wird, durch die Umwandlung ins Erhabne und zugleich ins Komische erträglich zu machen; erhaben aber erscheinen die Satyrn als Vertreter der unverfälschten Natur, der gegenüber die Kulturmenschen mit ihrer beschränkenden Sitte und be¬ schränkten Weisheit nur als Karikaturen erscheinen. Wo sich aber die Weisheit mystisch vertieft und die Natur zwingt, ihr Geheimnis preiszugeben, da er¬ scheint sie als Widernatur, als Frevel an der Natur, weshalb die alten Perser glaubten, ein Magier könne nur aus dem Jnzest geboren werden, und weshalb Ödipus, der Rätsellöser, Gatte seiner Mutter und Mörder seines Vaters sein muß. Die Helden der Tragödie, namentlich Prometheus und Ödipus, sind nämlich alle nur Masken des einen Dionysus, wie sich andrerseits mit den Personen des Chors, den Satyrn, die Zuschauer eins fühlen, die ja auch ur¬ sprünglich singend und tanzend an der Feier teilgenommen hatten. Der Mythus und seine orgiastische Feier stammt bekanntlich aus Vorder- nsien. Hier um lag der Kern der Feier „in einer überschwänglichen geschlecht¬ lichen Zuchtlosigkeit, deren Wellen über jedes Familientum und dessen ehr¬ würdige Satzungen hinwegflnteten; gerade die wildesten Bestien der Natur wurden hier entfesselt, bis zu jener abscheulichen Mischung von Wollust und

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/286
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/286>, abgerufen am 28.12.2024.