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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

War als Student in den Kreis geraten, den Richard Wagner beherrschte, und
so war es denn kein Wunder, wenn sein Geist zwischen dem griechischen Drama
und dem modernen Musikdrnma Beziehungen suchte und fand, lind wenn die
erste bedeutendere Leistung, mit der er vor die Öffentlichkeit trat, den Titel
führte: Die Geburt der Tragödie. Daß er beim handwerksmäßigen Betrieb
der Philologie, dem er als Student gewissenhaft obgelegen hatte, stehen bleiben
würde, darau war uicht zu denken. Die zweite seiner unzeitgemäßer Be-
trachtungen stellt dar. wie "ein Übermaß der Historie dem Lebendigen schadet."
Er beleuchtet darin die drei Vehandluugsweiseu der Geschichte, die "monu-
mentalische," die antiquarische und die kritische, und zeigt von jeder sowohl
die Berechtigung an sich, wie die Stelle, wo sie ihre Berechtigung verliert und
gefährlich wird. Gar prächtig schildert er, wie die historische Betrachtungs¬
weise das Leben hier durch die Größe der Vergangenheit erdrückt, dort durch
die Gleichgiltigkeit gegen die Gegenwart entwurzelt, wie sie die Thatkraft
lahmt, wie sie Vorwünde bietet, uuter der Maske der Verehrung verstorbner
Größen den Haß und den Neid gegen die lebenden zu verbergen, wie sie die
Menschen lehrt, mit allen frühern Zeiten zu empfindeln, sich mit den Lappen
aller verflossenen Kulturen zu schmücken und so allmählich zu jener Gesinnung
oder Gesinnungslosigkeit zu gelangen, die nichts mehr ernst nimmt, und der
das ganze Dasein nur eine Maskerade ist. Besonders die rein antiquarische
BeHandlungsweise ist ihm zuwider, die es verlernt, nur das Wertvolle zu
suchen, das Wertlose aber beiseite liegen zu lassen, die alles Alte ohne Unter¬
schied nur darum schätzt, weil es alt ist. "Die antiquarische Historie entartet
in dem Augenblick, in dem das frische Leben der Gegenwart sie nicht mehr
beseelt und begeistert. Jetzt dörrt die Pietät ab, die gelehrtenhafte Gewöhnung
besteht ohne sie fort und dreht sich egoistisch-selbstgefällig um ihren eignen
Mittelpunkt. Dann erblickt man wohl das widrige Schauspiel einer blinden
Sammelwut, eines rastlosen Zusainmenschnrrens alles einmal Dagewesenen.
Der Mensch hüllt sich in Moderduft; es gelingt ihm, selbst eine bedeutendere
Anlage, ein edleres Bedürfnis durch die antiquarische Manier zu unersättlicher
Neubegier, richtiger Alt- und Allbegier herabzustimmen; oftmals sinkt er so
tief, daß er zuletzt mit jeder Kost zufrieden ist und mit Lust selbst den Staub
bibliographischer Quisquilien frißt" (I, 306).

Von der Versuchung zu dieser Verirrung gänzlich frei, wandte sich also
Nietzsche dem Probleme der Tragödie zu. Vielleicht thue ich etwas Über¬
flüssiges, wenn ich den Grundgedanken seiner Schrift entwickle, da sie in der
Gesamtausgabe der Werke Nietzsches schon die vierte Auflage erlebt hat, viel¬
leicht aber giebt es auch noch mehr Orte wie meinen Wohnort, wo bis vor
kurzem nur ein einziger Mensch lebte, der die Schrift und überhaupt Nietzsche
gelesen hatte. Die Tragödie ist bei den Griechen aus dem Divnysustultus
entstanden. Der Dithyrambus des Chors der Satyrn war ihr erster Anfang.


Friedrich Nietzsche

War als Student in den Kreis geraten, den Richard Wagner beherrschte, und
so war es denn kein Wunder, wenn sein Geist zwischen dem griechischen Drama
und dem modernen Musikdrnma Beziehungen suchte und fand, lind wenn die
erste bedeutendere Leistung, mit der er vor die Öffentlichkeit trat, den Titel
führte: Die Geburt der Tragödie. Daß er beim handwerksmäßigen Betrieb
der Philologie, dem er als Student gewissenhaft obgelegen hatte, stehen bleiben
würde, darau war uicht zu denken. Die zweite seiner unzeitgemäßer Be-
trachtungen stellt dar. wie „ein Übermaß der Historie dem Lebendigen schadet."
Er beleuchtet darin die drei Vehandluugsweiseu der Geschichte, die „monu-
mentalische," die antiquarische und die kritische, und zeigt von jeder sowohl
die Berechtigung an sich, wie die Stelle, wo sie ihre Berechtigung verliert und
gefährlich wird. Gar prächtig schildert er, wie die historische Betrachtungs¬
weise das Leben hier durch die Größe der Vergangenheit erdrückt, dort durch
die Gleichgiltigkeit gegen die Gegenwart entwurzelt, wie sie die Thatkraft
lahmt, wie sie Vorwünde bietet, uuter der Maske der Verehrung verstorbner
Größen den Haß und den Neid gegen die lebenden zu verbergen, wie sie die
Menschen lehrt, mit allen frühern Zeiten zu empfindeln, sich mit den Lappen
aller verflossenen Kulturen zu schmücken und so allmählich zu jener Gesinnung
oder Gesinnungslosigkeit zu gelangen, die nichts mehr ernst nimmt, und der
das ganze Dasein nur eine Maskerade ist. Besonders die rein antiquarische
BeHandlungsweise ist ihm zuwider, die es verlernt, nur das Wertvolle zu
suchen, das Wertlose aber beiseite liegen zu lassen, die alles Alte ohne Unter¬
schied nur darum schätzt, weil es alt ist. „Die antiquarische Historie entartet
in dem Augenblick, in dem das frische Leben der Gegenwart sie nicht mehr
beseelt und begeistert. Jetzt dörrt die Pietät ab, die gelehrtenhafte Gewöhnung
besteht ohne sie fort und dreht sich egoistisch-selbstgefällig um ihren eignen
Mittelpunkt. Dann erblickt man wohl das widrige Schauspiel einer blinden
Sammelwut, eines rastlosen Zusainmenschnrrens alles einmal Dagewesenen.
Der Mensch hüllt sich in Moderduft; es gelingt ihm, selbst eine bedeutendere
Anlage, ein edleres Bedürfnis durch die antiquarische Manier zu unersättlicher
Neubegier, richtiger Alt- und Allbegier herabzustimmen; oftmals sinkt er so
tief, daß er zuletzt mit jeder Kost zufrieden ist und mit Lust selbst den Staub
bibliographischer Quisquilien frißt" (I, 306).

Von der Versuchung zu dieser Verirrung gänzlich frei, wandte sich also
Nietzsche dem Probleme der Tragödie zu. Vielleicht thue ich etwas Über¬
flüssiges, wenn ich den Grundgedanken seiner Schrift entwickle, da sie in der
Gesamtausgabe der Werke Nietzsches schon die vierte Auflage erlebt hat, viel¬
leicht aber giebt es auch noch mehr Orte wie meinen Wohnort, wo bis vor
kurzem nur ein einziger Mensch lebte, der die Schrift und überhaupt Nietzsche
gelesen hatte. Die Tragödie ist bei den Griechen aus dem Divnysustultus
entstanden. Der Dithyrambus des Chors der Satyrn war ihr erster Anfang.


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[0285] Friedrich Nietzsche War als Student in den Kreis geraten, den Richard Wagner beherrschte, und so war es denn kein Wunder, wenn sein Geist zwischen dem griechischen Drama und dem modernen Musikdrnma Beziehungen suchte und fand, lind wenn die erste bedeutendere Leistung, mit der er vor die Öffentlichkeit trat, den Titel führte: Die Geburt der Tragödie. Daß er beim handwerksmäßigen Betrieb der Philologie, dem er als Student gewissenhaft obgelegen hatte, stehen bleiben würde, darau war uicht zu denken. Die zweite seiner unzeitgemäßer Be- trachtungen stellt dar. wie „ein Übermaß der Historie dem Lebendigen schadet." Er beleuchtet darin die drei Vehandluugsweiseu der Geschichte, die „monu- mentalische," die antiquarische und die kritische, und zeigt von jeder sowohl die Berechtigung an sich, wie die Stelle, wo sie ihre Berechtigung verliert und gefährlich wird. Gar prächtig schildert er, wie die historische Betrachtungs¬ weise das Leben hier durch die Größe der Vergangenheit erdrückt, dort durch die Gleichgiltigkeit gegen die Gegenwart entwurzelt, wie sie die Thatkraft lahmt, wie sie Vorwünde bietet, uuter der Maske der Verehrung verstorbner Größen den Haß und den Neid gegen die lebenden zu verbergen, wie sie die Menschen lehrt, mit allen frühern Zeiten zu empfindeln, sich mit den Lappen aller verflossenen Kulturen zu schmücken und so allmählich zu jener Gesinnung oder Gesinnungslosigkeit zu gelangen, die nichts mehr ernst nimmt, und der das ganze Dasein nur eine Maskerade ist. Besonders die rein antiquarische BeHandlungsweise ist ihm zuwider, die es verlernt, nur das Wertvolle zu suchen, das Wertlose aber beiseite liegen zu lassen, die alles Alte ohne Unter¬ schied nur darum schätzt, weil es alt ist. „Die antiquarische Historie entartet in dem Augenblick, in dem das frische Leben der Gegenwart sie nicht mehr beseelt und begeistert. Jetzt dörrt die Pietät ab, die gelehrtenhafte Gewöhnung besteht ohne sie fort und dreht sich egoistisch-selbstgefällig um ihren eignen Mittelpunkt. Dann erblickt man wohl das widrige Schauspiel einer blinden Sammelwut, eines rastlosen Zusainmenschnrrens alles einmal Dagewesenen. Der Mensch hüllt sich in Moderduft; es gelingt ihm, selbst eine bedeutendere Anlage, ein edleres Bedürfnis durch die antiquarische Manier zu unersättlicher Neubegier, richtiger Alt- und Allbegier herabzustimmen; oftmals sinkt er so tief, daß er zuletzt mit jeder Kost zufrieden ist und mit Lust selbst den Staub bibliographischer Quisquilien frißt" (I, 306). Von der Versuchung zu dieser Verirrung gänzlich frei, wandte sich also Nietzsche dem Probleme der Tragödie zu. Vielleicht thue ich etwas Über¬ flüssiges, wenn ich den Grundgedanken seiner Schrift entwickle, da sie in der Gesamtausgabe der Werke Nietzsches schon die vierte Auflage erlebt hat, viel¬ leicht aber giebt es auch noch mehr Orte wie meinen Wohnort, wo bis vor kurzem nur ein einziger Mensch lebte, der die Schrift und überhaupt Nietzsche gelesen hatte. Die Tragödie ist bei den Griechen aus dem Divnysustultus entstanden. Der Dithyrambus des Chors der Satyrn war ihr erster Anfang.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/285>, abgerufen am 26.08.2024.