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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Neue Romane und Novellen

anz so trostlos steht es denn doch nicht auf dem deutschen
Büchermarkte aus, als man nach den Massenerzeugnissen der
"Modernen" glauben sollte. Freilich machen sie sich jetzt
in allen Schaufenstern breit und suchen schon durch ihre illu-
strirten Umschläge, die den wildesten Geschmacksverirrungen und
den frechsten Gemeinheiten der Franzosen nachgeäfft sind, selbst um den Preis
schamloser Erniedrigung die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden auf sich zu
ziehen. Aber es fehlt noch nicht an Schriftstellern und auch nicht an Ver¬
legern, die solche Reizmittel verschmähen und sich davon fern halten, nur auf die
gemeinen Instinkte des vornehmen und niedrigen Pöbels zu spekuliren. Wir
machen sogar die Beobachtung, daß ernsthafte Schriftsteller, die sich anfangs
von dem verführerischen Freiheitsdrange der "Modernen" hatten mitreißen
lassen, sehr bald dieser Klüngel- und Jnteressenwirtschaft überdrüssig und, ohne
das Gute und Wertvolle, das aus dieser Bewegung herausgewachsen ist,
preiszugeben, aus Marktschreiern und Charlatcinen zu Künstlern geworden sind.

Einer von ihnen ist Wilhelm von Potenz, der nach rascher Über¬
windung einiger naturalistischer Kinderkrankheiten breit angelegte Bilder aus
dem Leben unsrer Zeit entworfen hat, in denen anfangs das tendenziöse
Element das künstlerische stark überwucherte. Von dichterischer Ornamentik,
die die Lektüre eines sonst peinlichen oder doch verdrießlichen Buches angenehm
macht, war bei ihm überhaupt nichts zu spüren. Die Kampflust riß den
Verfasser so weit hin, daß er ganz vergaß, daß ein Romanschriftsteller auch
ein Künstler sein müßte. In dem "Pfarrer von Breitendorf" hat er die
Freiheit der geistlichen Seelsorge gegen die Tyrannei der Orthodoxie und in
dem "Büttnerbauer" deu kleinen Grundbesitzer gegen die allen Kleinbesitz auf¬
saugende Macht des Großkapitals verteidigt, die in ihren Folgen beinahe
ebenso verderblich ist wie die alles verneinende Zerstörungswut der Sozial¬
demokratie. Nach diesem Roman ist Wilhelm von Potenz von den politischen
Tageszeitungen, die. offen oder unter dem Mäntelchen einer Parteibezeichnung
versteckt, für die Interessen der Agrarier eintreten, als Vorkämpfer ihrer wirt¬
schaftlichen Politik gefeiert worden. Über dieser Bevormundung ist aber seine




Neue Romane und Novellen

anz so trostlos steht es denn doch nicht auf dem deutschen
Büchermarkte aus, als man nach den Massenerzeugnissen der
„Modernen" glauben sollte. Freilich machen sie sich jetzt
in allen Schaufenstern breit und suchen schon durch ihre illu-
strirten Umschläge, die den wildesten Geschmacksverirrungen und
den frechsten Gemeinheiten der Franzosen nachgeäfft sind, selbst um den Preis
schamloser Erniedrigung die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden auf sich zu
ziehen. Aber es fehlt noch nicht an Schriftstellern und auch nicht an Ver¬
legern, die solche Reizmittel verschmähen und sich davon fern halten, nur auf die
gemeinen Instinkte des vornehmen und niedrigen Pöbels zu spekuliren. Wir
machen sogar die Beobachtung, daß ernsthafte Schriftsteller, die sich anfangs
von dem verführerischen Freiheitsdrange der „Modernen" hatten mitreißen
lassen, sehr bald dieser Klüngel- und Jnteressenwirtschaft überdrüssig und, ohne
das Gute und Wertvolle, das aus dieser Bewegung herausgewachsen ist,
preiszugeben, aus Marktschreiern und Charlatcinen zu Künstlern geworden sind.

Einer von ihnen ist Wilhelm von Potenz, der nach rascher Über¬
windung einiger naturalistischer Kinderkrankheiten breit angelegte Bilder aus
dem Leben unsrer Zeit entworfen hat, in denen anfangs das tendenziöse
Element das künstlerische stark überwucherte. Von dichterischer Ornamentik,
die die Lektüre eines sonst peinlichen oder doch verdrießlichen Buches angenehm
macht, war bei ihm überhaupt nichts zu spüren. Die Kampflust riß den
Verfasser so weit hin, daß er ganz vergaß, daß ein Romanschriftsteller auch
ein Künstler sein müßte. In dem „Pfarrer von Breitendorf" hat er die
Freiheit der geistlichen Seelsorge gegen die Tyrannei der Orthodoxie und in
dem „Büttnerbauer" deu kleinen Grundbesitzer gegen die allen Kleinbesitz auf¬
saugende Macht des Großkapitals verteidigt, die in ihren Folgen beinahe
ebenso verderblich ist wie die alles verneinende Zerstörungswut der Sozial¬
demokratie. Nach diesem Roman ist Wilhelm von Potenz von den politischen
Tageszeitungen, die. offen oder unter dem Mäntelchen einer Parteibezeichnung
versteckt, für die Interessen der Agrarier eintreten, als Vorkämpfer ihrer wirt¬
schaftlichen Politik gefeiert worden. Über dieser Bevormundung ist aber seine


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[0028] [Abbildung] Neue Romane und Novellen anz so trostlos steht es denn doch nicht auf dem deutschen Büchermarkte aus, als man nach den Massenerzeugnissen der „Modernen" glauben sollte. Freilich machen sie sich jetzt in allen Schaufenstern breit und suchen schon durch ihre illu- strirten Umschläge, die den wildesten Geschmacksverirrungen und den frechsten Gemeinheiten der Franzosen nachgeäfft sind, selbst um den Preis schamloser Erniedrigung die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden auf sich zu ziehen. Aber es fehlt noch nicht an Schriftstellern und auch nicht an Ver¬ legern, die solche Reizmittel verschmähen und sich davon fern halten, nur auf die gemeinen Instinkte des vornehmen und niedrigen Pöbels zu spekuliren. Wir machen sogar die Beobachtung, daß ernsthafte Schriftsteller, die sich anfangs von dem verführerischen Freiheitsdrange der „Modernen" hatten mitreißen lassen, sehr bald dieser Klüngel- und Jnteressenwirtschaft überdrüssig und, ohne das Gute und Wertvolle, das aus dieser Bewegung herausgewachsen ist, preiszugeben, aus Marktschreiern und Charlatcinen zu Künstlern geworden sind. Einer von ihnen ist Wilhelm von Potenz, der nach rascher Über¬ windung einiger naturalistischer Kinderkrankheiten breit angelegte Bilder aus dem Leben unsrer Zeit entworfen hat, in denen anfangs das tendenziöse Element das künstlerische stark überwucherte. Von dichterischer Ornamentik, die die Lektüre eines sonst peinlichen oder doch verdrießlichen Buches angenehm macht, war bei ihm überhaupt nichts zu spüren. Die Kampflust riß den Verfasser so weit hin, daß er ganz vergaß, daß ein Romanschriftsteller auch ein Künstler sein müßte. In dem „Pfarrer von Breitendorf" hat er die Freiheit der geistlichen Seelsorge gegen die Tyrannei der Orthodoxie und in dem „Büttnerbauer" deu kleinen Grundbesitzer gegen die allen Kleinbesitz auf¬ saugende Macht des Großkapitals verteidigt, die in ihren Folgen beinahe ebenso verderblich ist wie die alles verneinende Zerstörungswut der Sozial¬ demokratie. Nach diesem Roman ist Wilhelm von Potenz von den politischen Tageszeitungen, die. offen oder unter dem Mäntelchen einer Parteibezeichnung versteckt, für die Interessen der Agrarier eintreten, als Vorkämpfer ihrer wirt¬ schaftlichen Politik gefeiert worden. Über dieser Bevormundung ist aber seine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/28>, abgerufen am 27.12.2024.