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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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ob nicht ein dem heitersten Frohsinn entsprudeltes Gedicht gleiche Berechtigung
habe, soll hier nicht entschieden werden; wohl aber wollen wir ein Kerners
Beispiel zeigen, wie verschieden sich,das Leid dichterisch widerspiegeln kann, und
wie verschieden es dann wirkt. Überall da, wo leiser Schmerz und stille
Resignation seine Gedichte gleich einem zarten Flor umgeben, wo seine Lieder
ans einer wehmütigen, elegischen Grundstimmung heraus erwachsen, wie im
"Wanderlied," dem "Wandrer in der Sägemühle," da erscheinen sie am
vollendetsten und ergreifen uns am tiefsten. Wird aber, wie es bei Kerner
oft geschieht, das eigne Leid, der persönliche Schmerz in den Vordergrund ge¬
drängt, da verliert es in rein menschlicher wie in ästhetischer Beziehung an
Wirkung. Das gilt beispielsweise auch von Heines krasser Subjektivität, der
uns eiskalt läßt, wenn er tausendmal versichert, daß er "so elend" sei; das¬
selbe trifft auf Johanna Ambrosius zu. Denn am vollsten genießen wir
lyrische Gedichte, wenn wir selbst in ihnen aufzugehen vermögen, und uns nicht
das eigne Ich ihres Schöpfers störend in den Weg tritt. Wir verweilten hierbei
absichtlich etwas länger, weil gerade aus der Schilderung ihres Leidens ein
Lob für die Dichterin hergeleitet wurde, das uns nicht gerechtfertigt erscheint.

Diese Betrachtungen sind nicht in der Absicht geschrieben worden, daS
Kreuz gegen Johanna Ambrosius zu predigen. Nichts liegt uns ferner. Wir
erkennen willig an, daß sie eine starke poetische Begabung hat, die einen
Teil ihrer Gedichte, wie wir schon gesagt haben, weit über das meiste er¬
hebt, was heutzutage an lyrischen Ergüssen dem geduldigen Papier anvertraut
wird, und wir hoffen, daß uns die Dichterin bei strenger Selbstzucht noch
manche schöne Frucht bescheren wird. Zugleich freuen wir uns, daß der von
Sorgen bedrängten Frau die Muse als eine Trösterin herabgestiegen ist. Aber
ein doppelter Grund veranlaßt uns, davor zu warnen, daß man einen Pla¬
neten als Sonne anbetet. Einmal -- wenn es auch ein wenig paradox
klingen mag -- die Rücksicht auf die Dichterin selbst. Nicht von heute ist die
Erfahrung, und das Beispiel der Karschin, von der wir ausgingen, hat es
gelehrt, daß einem Künstler, der zu Beginn seiner Laufbahn allzu stark über¬
schätzt wurde, der schlimmste Tod droht: Vergessenheit, und die mochten wir
manchen Gedichten von Johanna Ambrosius, namentlich aus der ersten Samm¬
lung, nicht wünschen. Und liegt nicht ferner in den Lobhudeleien, mit der
man ihr von allen Seiten begegnet, die Gefahr für die Dichterin, daß sie sich
selbst überschätzt und eitel wird? Schon kann ein aufmerksamer Beobachter
in ihren neuesten Gedichten kleine Züge davon wahrnehmen. Zum andern
aber halten wir es für unsre Pflicht, im Interesse unsers Volks selbst und
seiner großen Dichter dem "Ambrosiusrummel" entgegenzutreten. Gottlob waren
und sind wir überreich an bedeutenden Lyrikern; aber ist ihnen Wohl immer
der Erfolg und die Beachtung zu teil geworden, die sie verdient haben? Oder
müssen wir nicht vielmehr beschämt gestehen, daß wir unter dem Druck der
Mode die Lebenden, die Heyse, Lingg, Fitgcr, Ebner-Eschenbach zurücksetzen
und den Toten nicht tren geblieben sind? Wir greifen zwei Beispiele heraus,
um das zu beweisen: Theodor Storms Gedichte haben in fünfundvierzig
Jahren nur zehn Auflagen, Mörikes gar in neunundfünfzig Jahren deren nur
elf erlebt. Johanna Ambrosius Gedichte aber brachten es etwa in drei Jahren
auf nicht weniger als dreiunddreißig Auflagen, d. h. um ein Drittel mehr als
die der beiden genannten Dichter zusammen genommen. Man wird ja im
allgemeinen gut daran thun, dem vagen Begriff "Auflage" gegenüber ein wenig


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ob nicht ein dem heitersten Frohsinn entsprudeltes Gedicht gleiche Berechtigung
habe, soll hier nicht entschieden werden; wohl aber wollen wir ein Kerners
Beispiel zeigen, wie verschieden sich,das Leid dichterisch widerspiegeln kann, und
wie verschieden es dann wirkt. Überall da, wo leiser Schmerz und stille
Resignation seine Gedichte gleich einem zarten Flor umgeben, wo seine Lieder
ans einer wehmütigen, elegischen Grundstimmung heraus erwachsen, wie im
„Wanderlied," dem „Wandrer in der Sägemühle," da erscheinen sie am
vollendetsten und ergreifen uns am tiefsten. Wird aber, wie es bei Kerner
oft geschieht, das eigne Leid, der persönliche Schmerz in den Vordergrund ge¬
drängt, da verliert es in rein menschlicher wie in ästhetischer Beziehung an
Wirkung. Das gilt beispielsweise auch von Heines krasser Subjektivität, der
uns eiskalt läßt, wenn er tausendmal versichert, daß er „so elend" sei; das¬
selbe trifft auf Johanna Ambrosius zu. Denn am vollsten genießen wir
lyrische Gedichte, wenn wir selbst in ihnen aufzugehen vermögen, und uns nicht
das eigne Ich ihres Schöpfers störend in den Weg tritt. Wir verweilten hierbei
absichtlich etwas länger, weil gerade aus der Schilderung ihres Leidens ein
Lob für die Dichterin hergeleitet wurde, das uns nicht gerechtfertigt erscheint.

Diese Betrachtungen sind nicht in der Absicht geschrieben worden, daS
Kreuz gegen Johanna Ambrosius zu predigen. Nichts liegt uns ferner. Wir
erkennen willig an, daß sie eine starke poetische Begabung hat, die einen
Teil ihrer Gedichte, wie wir schon gesagt haben, weit über das meiste er¬
hebt, was heutzutage an lyrischen Ergüssen dem geduldigen Papier anvertraut
wird, und wir hoffen, daß uns die Dichterin bei strenger Selbstzucht noch
manche schöne Frucht bescheren wird. Zugleich freuen wir uns, daß der von
Sorgen bedrängten Frau die Muse als eine Trösterin herabgestiegen ist. Aber
ein doppelter Grund veranlaßt uns, davor zu warnen, daß man einen Pla¬
neten als Sonne anbetet. Einmal — wenn es auch ein wenig paradox
klingen mag — die Rücksicht auf die Dichterin selbst. Nicht von heute ist die
Erfahrung, und das Beispiel der Karschin, von der wir ausgingen, hat es
gelehrt, daß einem Künstler, der zu Beginn seiner Laufbahn allzu stark über¬
schätzt wurde, der schlimmste Tod droht: Vergessenheit, und die mochten wir
manchen Gedichten von Johanna Ambrosius, namentlich aus der ersten Samm¬
lung, nicht wünschen. Und liegt nicht ferner in den Lobhudeleien, mit der
man ihr von allen Seiten begegnet, die Gefahr für die Dichterin, daß sie sich
selbst überschätzt und eitel wird? Schon kann ein aufmerksamer Beobachter
in ihren neuesten Gedichten kleine Züge davon wahrnehmen. Zum andern
aber halten wir es für unsre Pflicht, im Interesse unsers Volks selbst und
seiner großen Dichter dem „Ambrosiusrummel" entgegenzutreten. Gottlob waren
und sind wir überreich an bedeutenden Lyrikern; aber ist ihnen Wohl immer
der Erfolg und die Beachtung zu teil geworden, die sie verdient haben? Oder
müssen wir nicht vielmehr beschämt gestehen, daß wir unter dem Druck der
Mode die Lebenden, die Heyse, Lingg, Fitgcr, Ebner-Eschenbach zurücksetzen
und den Toten nicht tren geblieben sind? Wir greifen zwei Beispiele heraus,
um das zu beweisen: Theodor Storms Gedichte haben in fünfundvierzig
Jahren nur zehn Auflagen, Mörikes gar in neunundfünfzig Jahren deren nur
elf erlebt. Johanna Ambrosius Gedichte aber brachten es etwa in drei Jahren
auf nicht weniger als dreiunddreißig Auflagen, d. h. um ein Drittel mehr als
die der beiden genannten Dichter zusammen genommen. Man wird ja im
allgemeinen gut daran thun, dem vagen Begriff „Auflage" gegenüber ein wenig


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/253>, abgerufen am 27.12.2024.