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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Joseph (Lhamberlmn

verzweifelnd, nur konstitutionelle Reformen, allgemeines Stimmrecht, das im
Lande des Parlamentarismus noch immer bloß ein frommer Wunsch ist, und
Abschaffung des Oberhauses auf ihr Banner geschrieben hat. Soziale Reformen
bildeten die Unterlage aller unionistischen Wahlreden, und unter ihnen standen
die Forderungen der Altersversorgung und der Unfallversicherung an der Spitze.
In der That ist die gegenwärtige Negierung für soziale Gesetzgebung wohl
geeignet. Das radikale Element in ihr drängt zum Fortschritt, das konservative
mäßigt den Übereifer und verhindert, daß Reform in Revolution ausartet.
Das Ziel, die Besserung des Loses der minder Begüterten, ist das gleiche, und
vor ihm treten alle andern Fragen zurück, in denen der Radikale mit dem
Konservativen nicht übereinstimmt.

Ein Radikaler ist Chamberlain heute noch, nur ist sein Radikalismus
nicht engherzig an die Lehren des Manchestertums gebunden. Schon eine der
ersten Maßnahmen der Regierung, die Erleichterung der auf dem Ackerbau
liegenden Steuerlast, schlug allen hergebrachten radikalen Anschauungen ins
Gesicht. Nach dem radikalen Glaubensbekenntnis ist der Grundbesitzer eine
Drohne im Bienenkorbe, und selbst wenn er es nicht wäre, so würden doch
die Mauchestergrundsätze jede Staatshilfe verbieten. Für grundsatztreue Radi¬
kale mag das ganz gut sein; ein klardenkender Volkswirt jedoch kann nur mit
Sorge sehen, wie mit dem Einkommen des Grundbesitzers auch die ackerbau¬
treibende Bevölkerung dahinschwindet. Die gesunden Söhne des Landlebens
wandern aus oder ziehen in die Fabrikstädte, wo sie allmählich der Entartung
anheimfallen. Je mehr die Stadtbevölkerung zunimmt und sich die Land¬
bevölkerung verringert, um so größer wird die Gefahr einer Entartung der ganzen
Nation. Die erwähnte Erleichterung allein kann den Ackerbau in England
nicht wieder zur Blüte bringen; denn die Gründe seines Darniederliegens
werden davon nicht im entferntesten berührt. Die Gründe liegen teils in den
Besttzverhültnissen, teils in dem durch das Freihandelssystem begünstigten
fremden Wettbewerb. Aber das Gesetz ist wichtig als ein Markstein in der
volkswirtschaftlichen Geschichte Englands. Es bedeutet, wie die soeben von
Chamberlain angekündigte Unterstützung des westindischen Zuckergewerbes, eine
entschiedne Abkehr von dem alten Satze des I^^issör lÄirs se laisssr aUsr
und den Beginn einer weitern Auffassung von den Pflichten des Staates.

Bei der Besetzung der Ämter war Chamberlain der Posten des Staats¬
sekretärs für die Kolonien zugefallen, oder besser, er hatte ihn sich gewühlt.
Als Mitglied des Kabinetts konnte er die sozialen Reformen immer im Gange
erhalten. Als Leiter des Kolonialamts wollte er auch die Beziehungen des
Mutterlandes zu den Kolonien in seiner Hand halten. Wenn man die Wichtig¬
keit der Interessen betrachtet, so ist kein englisches Ministerium von größerer
Bedeutung; und wenn auch Salisburh den Vorsitz sührt, die Seele der Negie¬
rung und ihr wirkliches Haupt heißt Joseph Chamberlain.


Joseph (Lhamberlmn

verzweifelnd, nur konstitutionelle Reformen, allgemeines Stimmrecht, das im
Lande des Parlamentarismus noch immer bloß ein frommer Wunsch ist, und
Abschaffung des Oberhauses auf ihr Banner geschrieben hat. Soziale Reformen
bildeten die Unterlage aller unionistischen Wahlreden, und unter ihnen standen
die Forderungen der Altersversorgung und der Unfallversicherung an der Spitze.
In der That ist die gegenwärtige Negierung für soziale Gesetzgebung wohl
geeignet. Das radikale Element in ihr drängt zum Fortschritt, das konservative
mäßigt den Übereifer und verhindert, daß Reform in Revolution ausartet.
Das Ziel, die Besserung des Loses der minder Begüterten, ist das gleiche, und
vor ihm treten alle andern Fragen zurück, in denen der Radikale mit dem
Konservativen nicht übereinstimmt.

Ein Radikaler ist Chamberlain heute noch, nur ist sein Radikalismus
nicht engherzig an die Lehren des Manchestertums gebunden. Schon eine der
ersten Maßnahmen der Regierung, die Erleichterung der auf dem Ackerbau
liegenden Steuerlast, schlug allen hergebrachten radikalen Anschauungen ins
Gesicht. Nach dem radikalen Glaubensbekenntnis ist der Grundbesitzer eine
Drohne im Bienenkorbe, und selbst wenn er es nicht wäre, so würden doch
die Mauchestergrundsätze jede Staatshilfe verbieten. Für grundsatztreue Radi¬
kale mag das ganz gut sein; ein klardenkender Volkswirt jedoch kann nur mit
Sorge sehen, wie mit dem Einkommen des Grundbesitzers auch die ackerbau¬
treibende Bevölkerung dahinschwindet. Die gesunden Söhne des Landlebens
wandern aus oder ziehen in die Fabrikstädte, wo sie allmählich der Entartung
anheimfallen. Je mehr die Stadtbevölkerung zunimmt und sich die Land¬
bevölkerung verringert, um so größer wird die Gefahr einer Entartung der ganzen
Nation. Die erwähnte Erleichterung allein kann den Ackerbau in England
nicht wieder zur Blüte bringen; denn die Gründe seines Darniederliegens
werden davon nicht im entferntesten berührt. Die Gründe liegen teils in den
Besttzverhültnissen, teils in dem durch das Freihandelssystem begünstigten
fremden Wettbewerb. Aber das Gesetz ist wichtig als ein Markstein in der
volkswirtschaftlichen Geschichte Englands. Es bedeutet, wie die soeben von
Chamberlain angekündigte Unterstützung des westindischen Zuckergewerbes, eine
entschiedne Abkehr von dem alten Satze des I^^issör lÄirs se laisssr aUsr
und den Beginn einer weitern Auffassung von den Pflichten des Staates.

Bei der Besetzung der Ämter war Chamberlain der Posten des Staats¬
sekretärs für die Kolonien zugefallen, oder besser, er hatte ihn sich gewühlt.
Als Mitglied des Kabinetts konnte er die sozialen Reformen immer im Gange
erhalten. Als Leiter des Kolonialamts wollte er auch die Beziehungen des
Mutterlandes zu den Kolonien in seiner Hand halten. Wenn man die Wichtig¬
keit der Interessen betrachtet, so ist kein englisches Ministerium von größerer
Bedeutung; und wenn auch Salisburh den Vorsitz sührt, die Seele der Negie¬
rung und ihr wirkliches Haupt heißt Joseph Chamberlain.


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[0238] Joseph (Lhamberlmn verzweifelnd, nur konstitutionelle Reformen, allgemeines Stimmrecht, das im Lande des Parlamentarismus noch immer bloß ein frommer Wunsch ist, und Abschaffung des Oberhauses auf ihr Banner geschrieben hat. Soziale Reformen bildeten die Unterlage aller unionistischen Wahlreden, und unter ihnen standen die Forderungen der Altersversorgung und der Unfallversicherung an der Spitze. In der That ist die gegenwärtige Negierung für soziale Gesetzgebung wohl geeignet. Das radikale Element in ihr drängt zum Fortschritt, das konservative mäßigt den Übereifer und verhindert, daß Reform in Revolution ausartet. Das Ziel, die Besserung des Loses der minder Begüterten, ist das gleiche, und vor ihm treten alle andern Fragen zurück, in denen der Radikale mit dem Konservativen nicht übereinstimmt. Ein Radikaler ist Chamberlain heute noch, nur ist sein Radikalismus nicht engherzig an die Lehren des Manchestertums gebunden. Schon eine der ersten Maßnahmen der Regierung, die Erleichterung der auf dem Ackerbau liegenden Steuerlast, schlug allen hergebrachten radikalen Anschauungen ins Gesicht. Nach dem radikalen Glaubensbekenntnis ist der Grundbesitzer eine Drohne im Bienenkorbe, und selbst wenn er es nicht wäre, so würden doch die Mauchestergrundsätze jede Staatshilfe verbieten. Für grundsatztreue Radi¬ kale mag das ganz gut sein; ein klardenkender Volkswirt jedoch kann nur mit Sorge sehen, wie mit dem Einkommen des Grundbesitzers auch die ackerbau¬ treibende Bevölkerung dahinschwindet. Die gesunden Söhne des Landlebens wandern aus oder ziehen in die Fabrikstädte, wo sie allmählich der Entartung anheimfallen. Je mehr die Stadtbevölkerung zunimmt und sich die Land¬ bevölkerung verringert, um so größer wird die Gefahr einer Entartung der ganzen Nation. Die erwähnte Erleichterung allein kann den Ackerbau in England nicht wieder zur Blüte bringen; denn die Gründe seines Darniederliegens werden davon nicht im entferntesten berührt. Die Gründe liegen teils in den Besttzverhültnissen, teils in dem durch das Freihandelssystem begünstigten fremden Wettbewerb. Aber das Gesetz ist wichtig als ein Markstein in der volkswirtschaftlichen Geschichte Englands. Es bedeutet, wie die soeben von Chamberlain angekündigte Unterstützung des westindischen Zuckergewerbes, eine entschiedne Abkehr von dem alten Satze des I^^issör lÄirs se laisssr aUsr und den Beginn einer weitern Auffassung von den Pflichten des Staates. Bei der Besetzung der Ämter war Chamberlain der Posten des Staats¬ sekretärs für die Kolonien zugefallen, oder besser, er hatte ihn sich gewühlt. Als Mitglied des Kabinetts konnte er die sozialen Reformen immer im Gange erhalten. Als Leiter des Kolonialamts wollte er auch die Beziehungen des Mutterlandes zu den Kolonien in seiner Hand halten. Wenn man die Wichtig¬ keit der Interessen betrachtet, so ist kein englisches Ministerium von größerer Bedeutung; und wenn auch Salisburh den Vorsitz sührt, die Seele der Negie¬ rung und ihr wirkliches Haupt heißt Joseph Chamberlain.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/238>, abgerufen am 23.07.2024.