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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Der iLvangelismus in Rußland

Abendmahl nehme, ob er an die Heiligen glaube, mit Nein geantwortet hatte.
Und doch hatte der hohe kirchliche Würdenträger, der geschickt worden war,
ihn zu vermahnen, bei allem Kopfschütteln über das Nein des Sünders ihm
gestanden, daß auch er an die Heiligen nicht glaube. Als Paschkow Peters¬
burg verließ, haben nur zwei Frauen aus dem glänzenden Kreise seiner An¬
hänger gewagt, ihm auf dem Bahnhofe das Geleit zu geben. Die Polizei
war versammelt, wie wenn es sich um das Haupt einer mächtigen und gefähr¬
lichen politischen Partei gehandelt hätte.

Von welchem Geiste die von Pobedonoszew geleitete russische Kirche er¬
füllt ist, mag man aus dem Nachstehenden entnehmen. Im Angust 1897 fand
zu Kasan ein von hohen kirchlichen Würdenträgern besuchter orthodoxer
Missionskongreß statt. Über seine Beschlüsse brachten die "Russischen Nach¬
richten" (Rnssk. Wedom.) einen Bericht, dem die "Petersburger Zeitung" das
Folgende entnahm:

"Ans den vielen Referaten, Mitteilungen und Memoranden, die dem
Kongreß von seinen Teilnehmern vorgelegt worden sind, geht hervor, daß die
Verbreitung des Naskols und des Sektenwesens trotz aller Bemühungen der
Missionare und aller Regierungsmaßregeln nicht nur nicht abnimmt, sondern
sogar stärker wird. Besonders stark verbreitet sich der Stundismus, der früher
nur in Südrußland existirte, jetzt aber innerhalb der Bevölkerung der östlichen
Gouvernements, z. B. der Gouvernements Ssamara, Ssaratow und sogar
Asa viele Anhänger hat. Außerdem sind in der letzten Zeit viele neue, bisher
unbekannte Sekten entstanden. Diese letztern Sekten sind teils Schößlinge
jener Sekten, die sich im Volke bereits eingenistet haben, teils selbständig ent-
standne, die mit den frühern nichts zu thun haben. Zu den neuen sektircrischen
Lehren hat der Kongreß auch die religiös-sittlichen Anschauungen des Grafen
Leo Tolstoi gezählt und erkannt, daß seine Anhänger eine "völlig ausgebildete
Sekte" seien. In der Erkenntnis, daß auf diese Sekte die Definition "für
Kirche und Staat besonders gefährlich" durchaus passe, hat der Kongreß be¬
schlossen, den Hi. spröd zu bitten, er möge bei der Regierung dahin vor¬
stellig werden, daß das Gesetz, welches für die "besonders gefährlichen" Sekten
gelte, auch auf diese Sekte ausgedehnt werde. Um die übrigen Sekten und
den Raskol zu schwächen, erkannte der Kongreß es für notwendig, folgende
Maßregeln zu ergreifen: Den Raskolniken die Eröffnung von Schulen zum
Unterricht ihrer Kinder zu verbieten und alle ihre jetzigen Schulen zu schließen;
die Zugehörigkeit zu einer "besonders gefährlichen" Sekte für einen "ent¬
ehrenden Umstand" zu erklären, um den Bauerngemeinden die Möglichkeit zu
geben, diejenigen Mitglieder, welche einer schädlichen Sekte angehören, aus¬
zuschließen und nach Sibirien zu deportiren; die Herausgabe lutherischer gottes¬
dienstlicher Bücher in russischer Sprache für "gefährlich" zu erklären; den
Sektirern zu verbieten, minderjährige Orthodoxe in Dienst zu nehmen und


Der iLvangelismus in Rußland

Abendmahl nehme, ob er an die Heiligen glaube, mit Nein geantwortet hatte.
Und doch hatte der hohe kirchliche Würdenträger, der geschickt worden war,
ihn zu vermahnen, bei allem Kopfschütteln über das Nein des Sünders ihm
gestanden, daß auch er an die Heiligen nicht glaube. Als Paschkow Peters¬
burg verließ, haben nur zwei Frauen aus dem glänzenden Kreise seiner An¬
hänger gewagt, ihm auf dem Bahnhofe das Geleit zu geben. Die Polizei
war versammelt, wie wenn es sich um das Haupt einer mächtigen und gefähr¬
lichen politischen Partei gehandelt hätte.

Von welchem Geiste die von Pobedonoszew geleitete russische Kirche er¬
füllt ist, mag man aus dem Nachstehenden entnehmen. Im Angust 1897 fand
zu Kasan ein von hohen kirchlichen Würdenträgern besuchter orthodoxer
Missionskongreß statt. Über seine Beschlüsse brachten die „Russischen Nach¬
richten" (Rnssk. Wedom.) einen Bericht, dem die „Petersburger Zeitung" das
Folgende entnahm:

„Ans den vielen Referaten, Mitteilungen und Memoranden, die dem
Kongreß von seinen Teilnehmern vorgelegt worden sind, geht hervor, daß die
Verbreitung des Naskols und des Sektenwesens trotz aller Bemühungen der
Missionare und aller Regierungsmaßregeln nicht nur nicht abnimmt, sondern
sogar stärker wird. Besonders stark verbreitet sich der Stundismus, der früher
nur in Südrußland existirte, jetzt aber innerhalb der Bevölkerung der östlichen
Gouvernements, z. B. der Gouvernements Ssamara, Ssaratow und sogar
Asa viele Anhänger hat. Außerdem sind in der letzten Zeit viele neue, bisher
unbekannte Sekten entstanden. Diese letztern Sekten sind teils Schößlinge
jener Sekten, die sich im Volke bereits eingenistet haben, teils selbständig ent-
standne, die mit den frühern nichts zu thun haben. Zu den neuen sektircrischen
Lehren hat der Kongreß auch die religiös-sittlichen Anschauungen des Grafen
Leo Tolstoi gezählt und erkannt, daß seine Anhänger eine »völlig ausgebildete
Sekte« seien. In der Erkenntnis, daß auf diese Sekte die Definition »für
Kirche und Staat besonders gefährlich« durchaus passe, hat der Kongreß be¬
schlossen, den Hi. spröd zu bitten, er möge bei der Regierung dahin vor¬
stellig werden, daß das Gesetz, welches für die »besonders gefährlichen« Sekten
gelte, auch auf diese Sekte ausgedehnt werde. Um die übrigen Sekten und
den Raskol zu schwächen, erkannte der Kongreß es für notwendig, folgende
Maßregeln zu ergreifen: Den Raskolniken die Eröffnung von Schulen zum
Unterricht ihrer Kinder zu verbieten und alle ihre jetzigen Schulen zu schließen;
die Zugehörigkeit zu einer »besonders gefährlichen« Sekte für einen »ent¬
ehrenden Umstand« zu erklären, um den Bauerngemeinden die Möglichkeit zu
geben, diejenigen Mitglieder, welche einer schädlichen Sekte angehören, aus¬
zuschließen und nach Sibirien zu deportiren; die Herausgabe lutherischer gottes¬
dienstlicher Bücher in russischer Sprache für »gefährlich« zu erklären; den
Sektirern zu verbieten, minderjährige Orthodoxe in Dienst zu nehmen und


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[0230] Der iLvangelismus in Rußland Abendmahl nehme, ob er an die Heiligen glaube, mit Nein geantwortet hatte. Und doch hatte der hohe kirchliche Würdenträger, der geschickt worden war, ihn zu vermahnen, bei allem Kopfschütteln über das Nein des Sünders ihm gestanden, daß auch er an die Heiligen nicht glaube. Als Paschkow Peters¬ burg verließ, haben nur zwei Frauen aus dem glänzenden Kreise seiner An¬ hänger gewagt, ihm auf dem Bahnhofe das Geleit zu geben. Die Polizei war versammelt, wie wenn es sich um das Haupt einer mächtigen und gefähr¬ lichen politischen Partei gehandelt hätte. Von welchem Geiste die von Pobedonoszew geleitete russische Kirche er¬ füllt ist, mag man aus dem Nachstehenden entnehmen. Im Angust 1897 fand zu Kasan ein von hohen kirchlichen Würdenträgern besuchter orthodoxer Missionskongreß statt. Über seine Beschlüsse brachten die „Russischen Nach¬ richten" (Rnssk. Wedom.) einen Bericht, dem die „Petersburger Zeitung" das Folgende entnahm: „Ans den vielen Referaten, Mitteilungen und Memoranden, die dem Kongreß von seinen Teilnehmern vorgelegt worden sind, geht hervor, daß die Verbreitung des Naskols und des Sektenwesens trotz aller Bemühungen der Missionare und aller Regierungsmaßregeln nicht nur nicht abnimmt, sondern sogar stärker wird. Besonders stark verbreitet sich der Stundismus, der früher nur in Südrußland existirte, jetzt aber innerhalb der Bevölkerung der östlichen Gouvernements, z. B. der Gouvernements Ssamara, Ssaratow und sogar Asa viele Anhänger hat. Außerdem sind in der letzten Zeit viele neue, bisher unbekannte Sekten entstanden. Diese letztern Sekten sind teils Schößlinge jener Sekten, die sich im Volke bereits eingenistet haben, teils selbständig ent- standne, die mit den frühern nichts zu thun haben. Zu den neuen sektircrischen Lehren hat der Kongreß auch die religiös-sittlichen Anschauungen des Grafen Leo Tolstoi gezählt und erkannt, daß seine Anhänger eine »völlig ausgebildete Sekte« seien. In der Erkenntnis, daß auf diese Sekte die Definition »für Kirche und Staat besonders gefährlich« durchaus passe, hat der Kongreß be¬ schlossen, den Hi. spröd zu bitten, er möge bei der Regierung dahin vor¬ stellig werden, daß das Gesetz, welches für die »besonders gefährlichen« Sekten gelte, auch auf diese Sekte ausgedehnt werde. Um die übrigen Sekten und den Raskol zu schwächen, erkannte der Kongreß es für notwendig, folgende Maßregeln zu ergreifen: Den Raskolniken die Eröffnung von Schulen zum Unterricht ihrer Kinder zu verbieten und alle ihre jetzigen Schulen zu schließen; die Zugehörigkeit zu einer »besonders gefährlichen« Sekte für einen »ent¬ ehrenden Umstand« zu erklären, um den Bauerngemeinden die Möglichkeit zu geben, diejenigen Mitglieder, welche einer schädlichen Sekte angehören, aus¬ zuschließen und nach Sibirien zu deportiren; die Herausgabe lutherischer gottes¬ dienstlicher Bücher in russischer Sprache für »gefährlich« zu erklären; den Sektirern zu verbieten, minderjährige Orthodoxe in Dienst zu nehmen und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/230>, abgerufen am 23.07.2024.