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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Der Lvaiigelismus in Rußland

Pobedonoszews lediglich der Schale. Dieser Fanatiker steht in der russisch¬
orthodoxen Kirche so hoch, daß noch heute kaum ein öffentliches Gebet von
einem orthodoxen Geistlichen in Rußland gesprochen wird, ohne daß der
Segen Gottes ausdrücklich auf das Haupt Pobedonoszews herabgefleht wird.
Es wird von dem Klerus mehr für ihn als für den Zaren selbst gebetet.
Mit der weltlichen Macht ausgerüstet begann er die Verfolgung, anfangs mit
milden Mitteln, mit Belebung einer orthodoxen Missionsthätigkeit, die haupt¬
sächlich dem Stnndismus entgegentreten sollte. Aber er Hütte voraussehen
können und sah vielleicht wirklich voraus, daß mit der Berufung auf Kirchen¬
väter, auf den Willen der Kirche und des Kaisers wenig auszurichten war
gegenüber Leuten, die Befriedigung suchten für ein Bedürfnis, das weder nach
dem Wohlwollen von Zar und Kirche, noch nach den Meinungen von dogmati-
sirenden Kircheugrößen aus entlegner Zeit fragte, sondern nach unmittelbarem
Verkehr mit Gott selbst verlangte. So gab mau die friedlichen Mittel bald
auf oder ließ sie neben stärkern Beschwörungen hergehen, gleich der Mission
gegen die Altgläubigen der orthodoxen Kirche, die ihre Disputationen in
Moskau mit geringem Erfolg zwar fortsetzt, aber doch auf die Staatsmittel
ihr eigentliches Vertrauen setzt. Es erschienen wieder die alten Bilder, die in
der ganzen Lebensgeschichte der christlichen Kirchen so oft wie kaum in einer
andern Religionsgemeinschaft neuer oder alter Zeit wiederkehren: die Bilder
der Märtyrer, die um ihres Glaubens willen sogar im Namen Gottes gequält
und mißhandelt werden. In die Öffentlichkeit ist natürlich wenig gedrungen.
Auch für die Stundisten trat Leo Tolstoi als Verteidiger in Schriften gegen
die Regierung auf und schilderte die Leiden dieser Leute. Da sind Gefängnis,
Marter, Verbannung, Trennung der Kinder von den Eltern, Beraubung des
Eigentums, kurz die alt bekannten Heilmittel zu sehen, mit denen christliche
Herrscher von jeher für die himmlische Zukunft ihrer Unterthanen zu sorgen
Pflegten. Da wurden, so erzählt man. Stundisten und Pafchkowisten in
Ketten nach Sibirien in menschenleere Einöden geschickt, weil man beobachtet
hatte, daß, wenn sie, wie das Gesetz vorschreibt, in dem Kaukasus und den
angrenzenden bewohnten Gebieten untergebracht wurden, die Bewohner dort
bald selbst von dem Verlangen ergriffen wurden, daS christliche Evangelium
kennen zu lernen. Da wurden alle religiösen Versammlungen verboten, da
wurden Familien mit fürstlichen Namen genötigt, ihre Güter zu verlassen
und ins Ausland zu entweichen, da wurden namentliche Ukase des Zaren
erwirkt, wodurch einzelnen die Verwaltung ihrer Güter entzogen wurde, da
wurde alles ausgerottet, was Nächstenliebe im Namen der Gebote Christi mit
großen Opfern an Kranken-, Speise- und ähnlichen Anstalten geschaffen hatte.
Paschkow selbst, dieser Mann edelsten Denkens, glühender Sehnsucht nach
Wohlthun, nach der christlichen Wahrheit, ward 1884 des Landes verwiesen.
Weshalb? Weil er auf die Fragen, ob er die Kirche besuche, ob er dort das


Der Lvaiigelismus in Rußland

Pobedonoszews lediglich der Schale. Dieser Fanatiker steht in der russisch¬
orthodoxen Kirche so hoch, daß noch heute kaum ein öffentliches Gebet von
einem orthodoxen Geistlichen in Rußland gesprochen wird, ohne daß der
Segen Gottes ausdrücklich auf das Haupt Pobedonoszews herabgefleht wird.
Es wird von dem Klerus mehr für ihn als für den Zaren selbst gebetet.
Mit der weltlichen Macht ausgerüstet begann er die Verfolgung, anfangs mit
milden Mitteln, mit Belebung einer orthodoxen Missionsthätigkeit, die haupt¬
sächlich dem Stnndismus entgegentreten sollte. Aber er Hütte voraussehen
können und sah vielleicht wirklich voraus, daß mit der Berufung auf Kirchen¬
väter, auf den Willen der Kirche und des Kaisers wenig auszurichten war
gegenüber Leuten, die Befriedigung suchten für ein Bedürfnis, das weder nach
dem Wohlwollen von Zar und Kirche, noch nach den Meinungen von dogmati-
sirenden Kircheugrößen aus entlegner Zeit fragte, sondern nach unmittelbarem
Verkehr mit Gott selbst verlangte. So gab mau die friedlichen Mittel bald
auf oder ließ sie neben stärkern Beschwörungen hergehen, gleich der Mission
gegen die Altgläubigen der orthodoxen Kirche, die ihre Disputationen in
Moskau mit geringem Erfolg zwar fortsetzt, aber doch auf die Staatsmittel
ihr eigentliches Vertrauen setzt. Es erschienen wieder die alten Bilder, die in
der ganzen Lebensgeschichte der christlichen Kirchen so oft wie kaum in einer
andern Religionsgemeinschaft neuer oder alter Zeit wiederkehren: die Bilder
der Märtyrer, die um ihres Glaubens willen sogar im Namen Gottes gequält
und mißhandelt werden. In die Öffentlichkeit ist natürlich wenig gedrungen.
Auch für die Stundisten trat Leo Tolstoi als Verteidiger in Schriften gegen
die Regierung auf und schilderte die Leiden dieser Leute. Da sind Gefängnis,
Marter, Verbannung, Trennung der Kinder von den Eltern, Beraubung des
Eigentums, kurz die alt bekannten Heilmittel zu sehen, mit denen christliche
Herrscher von jeher für die himmlische Zukunft ihrer Unterthanen zu sorgen
Pflegten. Da wurden, so erzählt man. Stundisten und Pafchkowisten in
Ketten nach Sibirien in menschenleere Einöden geschickt, weil man beobachtet
hatte, daß, wenn sie, wie das Gesetz vorschreibt, in dem Kaukasus und den
angrenzenden bewohnten Gebieten untergebracht wurden, die Bewohner dort
bald selbst von dem Verlangen ergriffen wurden, daS christliche Evangelium
kennen zu lernen. Da wurden alle religiösen Versammlungen verboten, da
wurden Familien mit fürstlichen Namen genötigt, ihre Güter zu verlassen
und ins Ausland zu entweichen, da wurden namentliche Ukase des Zaren
erwirkt, wodurch einzelnen die Verwaltung ihrer Güter entzogen wurde, da
wurde alles ausgerottet, was Nächstenliebe im Namen der Gebote Christi mit
großen Opfern an Kranken-, Speise- und ähnlichen Anstalten geschaffen hatte.
Paschkow selbst, dieser Mann edelsten Denkens, glühender Sehnsucht nach
Wohlthun, nach der christlichen Wahrheit, ward 1884 des Landes verwiesen.
Weshalb? Weil er auf die Fragen, ob er die Kirche besuche, ob er dort das


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[0229] Der Lvaiigelismus in Rußland Pobedonoszews lediglich der Schale. Dieser Fanatiker steht in der russisch¬ orthodoxen Kirche so hoch, daß noch heute kaum ein öffentliches Gebet von einem orthodoxen Geistlichen in Rußland gesprochen wird, ohne daß der Segen Gottes ausdrücklich auf das Haupt Pobedonoszews herabgefleht wird. Es wird von dem Klerus mehr für ihn als für den Zaren selbst gebetet. Mit der weltlichen Macht ausgerüstet begann er die Verfolgung, anfangs mit milden Mitteln, mit Belebung einer orthodoxen Missionsthätigkeit, die haupt¬ sächlich dem Stnndismus entgegentreten sollte. Aber er Hütte voraussehen können und sah vielleicht wirklich voraus, daß mit der Berufung auf Kirchen¬ väter, auf den Willen der Kirche und des Kaisers wenig auszurichten war gegenüber Leuten, die Befriedigung suchten für ein Bedürfnis, das weder nach dem Wohlwollen von Zar und Kirche, noch nach den Meinungen von dogmati- sirenden Kircheugrößen aus entlegner Zeit fragte, sondern nach unmittelbarem Verkehr mit Gott selbst verlangte. So gab mau die friedlichen Mittel bald auf oder ließ sie neben stärkern Beschwörungen hergehen, gleich der Mission gegen die Altgläubigen der orthodoxen Kirche, die ihre Disputationen in Moskau mit geringem Erfolg zwar fortsetzt, aber doch auf die Staatsmittel ihr eigentliches Vertrauen setzt. Es erschienen wieder die alten Bilder, die in der ganzen Lebensgeschichte der christlichen Kirchen so oft wie kaum in einer andern Religionsgemeinschaft neuer oder alter Zeit wiederkehren: die Bilder der Märtyrer, die um ihres Glaubens willen sogar im Namen Gottes gequält und mißhandelt werden. In die Öffentlichkeit ist natürlich wenig gedrungen. Auch für die Stundisten trat Leo Tolstoi als Verteidiger in Schriften gegen die Regierung auf und schilderte die Leiden dieser Leute. Da sind Gefängnis, Marter, Verbannung, Trennung der Kinder von den Eltern, Beraubung des Eigentums, kurz die alt bekannten Heilmittel zu sehen, mit denen christliche Herrscher von jeher für die himmlische Zukunft ihrer Unterthanen zu sorgen Pflegten. Da wurden, so erzählt man. Stundisten und Pafchkowisten in Ketten nach Sibirien in menschenleere Einöden geschickt, weil man beobachtet hatte, daß, wenn sie, wie das Gesetz vorschreibt, in dem Kaukasus und den angrenzenden bewohnten Gebieten untergebracht wurden, die Bewohner dort bald selbst von dem Verlangen ergriffen wurden, daS christliche Evangelium kennen zu lernen. Da wurden alle religiösen Versammlungen verboten, da wurden Familien mit fürstlichen Namen genötigt, ihre Güter zu verlassen und ins Ausland zu entweichen, da wurden namentliche Ukase des Zaren erwirkt, wodurch einzelnen die Verwaltung ihrer Güter entzogen wurde, da wurde alles ausgerottet, was Nächstenliebe im Namen der Gebote Christi mit großen Opfern an Kranken-, Speise- und ähnlichen Anstalten geschaffen hatte. Paschkow selbst, dieser Mann edelsten Denkens, glühender Sehnsucht nach Wohlthun, nach der christlichen Wahrheit, ward 1884 des Landes verwiesen. Weshalb? Weil er auf die Fragen, ob er die Kirche besuche, ob er dort das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/229>, abgerufen am 23.07.2024.