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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Der Lvangelismus in Rußland

lischer Moralist, nicht Prophet, und erfaßt -- wie ich es oben bezeichnet
habe -- deshalb nicht das ganze, das innerste Leben. Und indem seine Moral
über das persönliche Gefühl hinausgreift, stößt er gegen Kirche und Staat
heftig an. Nicht schwören, sich nicht verteidigen durch Gewalt, keine Kriege
führen -- das sind Forderungen, die weder Staat noch Gesellschaft, noch
Kirche anerkennen können, wenigstens nicht in der Konsequenz, wie Tolstoi sie
vertritt. Er beruft sich auf das Wort Christi (Matth. 5, 39): "Ich aber
sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel" und folgert, daß aller
Krieg, alle Polizeigewalt, alle Rechtspflege, soweit sie mit Zwang verbanden
sind, vom Übel seien. Seine Lehren sind für jeden Staat so nmstürzend, so
unerträglich, wie nur revolutionäre Lehren sein können, und dennoch wird er
bisher von der russischen Negierung mit keinem Finger belästigt. Vielleicht
eben weil man seine Lehren für zu unvernünftig hält, als daß sie schädlich
sein könnten. In der That, wenn er, am Buchstaben des Evangeliums haftend,
alle Staatsgewalt für unchristlich erklärt, so sollte man meinen, daß er für
ein solches Evangelium wenig Anhänger finden werde. Und dennoch hat er
Anhänger, dennoch giebt es eine nicht unbedeutende Schar in der Masse des
bäuerlichen Volkes und auch in den obern Klaffen, die ihn als ihr geistliches
Haupt verehrt.

Tolstoi hat sich offen von der Kirche losgesagt, ohne eine religiöse
Gemeinschaft an die Stelle setzen zu wollen; denn seine Lehren sind moralisch¬
soziale, nicht religiöse Lehren, und was er durch sein Leben predigt, ist
ebenso wenig religiösen Inhalts: es ist ungefähr was Rousseau vor hundert
Jahren auch pries, das Glück des einfach bäuerlichen Daseins. In zahlreichen
Schriften tritt er vor das Volk als der Apostel des Friedens, des Duldens
gegenüber aller Gewalt und unterstützt zugleich seine Lehre durch Verbreitung
einer russischen Übersetzung der vier Evangelien, die er verfaßt hat. Sein
Name, sein Leben, seine Schriften haben weite Wirkung trotz jenes aus¬
schweifenden Kernsatzes. Gleich ihm suchen auch seine Anhänger die sozialen
Unterschiede aufzuheben, indem sie sich, soweit sie den höhern Stünden an¬
gehören, im äußern Leben der arbeitenden Menge möglichst gleichstellen. Man
hat Leute von vornehmem Namen gesehen, die in schlechter, ja schmieriger
Kleidung in die Gesellschaft ihrer Dienstboten hinabstiegen, mit ihren Kutschern
und Dienern aßen und ihre Kleider flickten. Aber Tolstoi geht noch weiter,
er greift direkt in die Politik ein mit seinen Lehren und greift die staatlichen
Gesetze öffentlich an. So ist sein Anhang auch mehr politischer als religiöser
Natur. Diese Tolstojciner von der "evangelischen Brüderschaft Christi" ver¬
weigern den Kriegsdienst im Namen der christlichen Gebote. Aber sie beginnen
bereits weiter zu gehen im Widerstande gegen die Gesetze des Staates, indem
sie auch die Steuern verweigern, und so haben sich die Behörden genötigt ge¬
sehen, wenn nicht gegen Tolstoi selbst, so doch gegen seine Anhänger ebenso


Der Lvangelismus in Rußland

lischer Moralist, nicht Prophet, und erfaßt — wie ich es oben bezeichnet
habe — deshalb nicht das ganze, das innerste Leben. Und indem seine Moral
über das persönliche Gefühl hinausgreift, stößt er gegen Kirche und Staat
heftig an. Nicht schwören, sich nicht verteidigen durch Gewalt, keine Kriege
führen — das sind Forderungen, die weder Staat noch Gesellschaft, noch
Kirche anerkennen können, wenigstens nicht in der Konsequenz, wie Tolstoi sie
vertritt. Er beruft sich auf das Wort Christi (Matth. 5, 39): „Ich aber
sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel" und folgert, daß aller
Krieg, alle Polizeigewalt, alle Rechtspflege, soweit sie mit Zwang verbanden
sind, vom Übel seien. Seine Lehren sind für jeden Staat so nmstürzend, so
unerträglich, wie nur revolutionäre Lehren sein können, und dennoch wird er
bisher von der russischen Negierung mit keinem Finger belästigt. Vielleicht
eben weil man seine Lehren für zu unvernünftig hält, als daß sie schädlich
sein könnten. In der That, wenn er, am Buchstaben des Evangeliums haftend,
alle Staatsgewalt für unchristlich erklärt, so sollte man meinen, daß er für
ein solches Evangelium wenig Anhänger finden werde. Und dennoch hat er
Anhänger, dennoch giebt es eine nicht unbedeutende Schar in der Masse des
bäuerlichen Volkes und auch in den obern Klaffen, die ihn als ihr geistliches
Haupt verehrt.

Tolstoi hat sich offen von der Kirche losgesagt, ohne eine religiöse
Gemeinschaft an die Stelle setzen zu wollen; denn seine Lehren sind moralisch¬
soziale, nicht religiöse Lehren, und was er durch sein Leben predigt, ist
ebenso wenig religiösen Inhalts: es ist ungefähr was Rousseau vor hundert
Jahren auch pries, das Glück des einfach bäuerlichen Daseins. In zahlreichen
Schriften tritt er vor das Volk als der Apostel des Friedens, des Duldens
gegenüber aller Gewalt und unterstützt zugleich seine Lehre durch Verbreitung
einer russischen Übersetzung der vier Evangelien, die er verfaßt hat. Sein
Name, sein Leben, seine Schriften haben weite Wirkung trotz jenes aus¬
schweifenden Kernsatzes. Gleich ihm suchen auch seine Anhänger die sozialen
Unterschiede aufzuheben, indem sie sich, soweit sie den höhern Stünden an¬
gehören, im äußern Leben der arbeitenden Menge möglichst gleichstellen. Man
hat Leute von vornehmem Namen gesehen, die in schlechter, ja schmieriger
Kleidung in die Gesellschaft ihrer Dienstboten hinabstiegen, mit ihren Kutschern
und Dienern aßen und ihre Kleider flickten. Aber Tolstoi geht noch weiter,
er greift direkt in die Politik ein mit seinen Lehren und greift die staatlichen
Gesetze öffentlich an. So ist sein Anhang auch mehr politischer als religiöser
Natur. Diese Tolstojciner von der „evangelischen Brüderschaft Christi" ver¬
weigern den Kriegsdienst im Namen der christlichen Gebote. Aber sie beginnen
bereits weiter zu gehen im Widerstande gegen die Gesetze des Staates, indem
sie auch die Steuern verweigern, und so haben sich die Behörden genötigt ge¬
sehen, wenn nicht gegen Tolstoi selbst, so doch gegen seine Anhänger ebenso


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[0226] Der Lvangelismus in Rußland lischer Moralist, nicht Prophet, und erfaßt — wie ich es oben bezeichnet habe — deshalb nicht das ganze, das innerste Leben. Und indem seine Moral über das persönliche Gefühl hinausgreift, stößt er gegen Kirche und Staat heftig an. Nicht schwören, sich nicht verteidigen durch Gewalt, keine Kriege führen — das sind Forderungen, die weder Staat noch Gesellschaft, noch Kirche anerkennen können, wenigstens nicht in der Konsequenz, wie Tolstoi sie vertritt. Er beruft sich auf das Wort Christi (Matth. 5, 39): „Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel" und folgert, daß aller Krieg, alle Polizeigewalt, alle Rechtspflege, soweit sie mit Zwang verbanden sind, vom Übel seien. Seine Lehren sind für jeden Staat so nmstürzend, so unerträglich, wie nur revolutionäre Lehren sein können, und dennoch wird er bisher von der russischen Negierung mit keinem Finger belästigt. Vielleicht eben weil man seine Lehren für zu unvernünftig hält, als daß sie schädlich sein könnten. In der That, wenn er, am Buchstaben des Evangeliums haftend, alle Staatsgewalt für unchristlich erklärt, so sollte man meinen, daß er für ein solches Evangelium wenig Anhänger finden werde. Und dennoch hat er Anhänger, dennoch giebt es eine nicht unbedeutende Schar in der Masse des bäuerlichen Volkes und auch in den obern Klaffen, die ihn als ihr geistliches Haupt verehrt. Tolstoi hat sich offen von der Kirche losgesagt, ohne eine religiöse Gemeinschaft an die Stelle setzen zu wollen; denn seine Lehren sind moralisch¬ soziale, nicht religiöse Lehren, und was er durch sein Leben predigt, ist ebenso wenig religiösen Inhalts: es ist ungefähr was Rousseau vor hundert Jahren auch pries, das Glück des einfach bäuerlichen Daseins. In zahlreichen Schriften tritt er vor das Volk als der Apostel des Friedens, des Duldens gegenüber aller Gewalt und unterstützt zugleich seine Lehre durch Verbreitung einer russischen Übersetzung der vier Evangelien, die er verfaßt hat. Sein Name, sein Leben, seine Schriften haben weite Wirkung trotz jenes aus¬ schweifenden Kernsatzes. Gleich ihm suchen auch seine Anhänger die sozialen Unterschiede aufzuheben, indem sie sich, soweit sie den höhern Stünden an¬ gehören, im äußern Leben der arbeitenden Menge möglichst gleichstellen. Man hat Leute von vornehmem Namen gesehen, die in schlechter, ja schmieriger Kleidung in die Gesellschaft ihrer Dienstboten hinabstiegen, mit ihren Kutschern und Dienern aßen und ihre Kleider flickten. Aber Tolstoi geht noch weiter, er greift direkt in die Politik ein mit seinen Lehren und greift die staatlichen Gesetze öffentlich an. So ist sein Anhang auch mehr politischer als religiöser Natur. Diese Tolstojciner von der „evangelischen Brüderschaft Christi" ver¬ weigern den Kriegsdienst im Namen der christlichen Gebote. Aber sie beginnen bereits weiter zu gehen im Widerstande gegen die Gesetze des Staates, indem sie auch die Steuern verweigern, und so haben sich die Behörden genötigt ge¬ sehen, wenn nicht gegen Tolstoi selbst, so doch gegen seine Anhänger ebenso

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/226>, abgerufen am 28.12.2024.