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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Der Lvangelismns in Rußland

Jahre 1869 wurde ein Statut bestätigt, auf Grund dessen eine mit ansehn¬
lichen Mitteln arbeitende Gesellschaft jährlich viele Tausende von Bibeln und
Teilen daraus bis in das östliche Sibirien hin unter das russische Volk ver¬
breitete.

Schon weit früher, schon 1861, nach der Aufhebung der Leibeigenschaft,
begann auf religiösem Gebiet an verschiednen Punkten eine Bewegung, die
mit der politischen Belebung des russischen Volks vorschritt, eine Bewegung,
deren Bedeutung sich für den russischen Staat und seine Kultur als größer
erweisen dürfte, als manche rein politischen Bestrebungen der letzten Jahrzehnte.
Denn die evangelische Bewegung ist volkstümlich, der Masse verständlich, während
dieser Masse die großen politischen Ideen noch lange unverständlich bleiben
werden.

Wir können in der evangelischen Bewegung Rußlands mehrere von ein¬
ander gesonderte Ausgangspunkte wahrnehmen. Den einfachsten, naivsten Ver¬
treter des Evangelismns sehe ich in dem Priester Johann von Kronstäbe.
Ihm ist alle Kritik fern, der Bibel gegenüber sowohl wie der Kirche; er sieht
in beiden Gottes Werk und Wort, und wenn er manches, etwa die Verehrung
der Heiligen oder Heiligenbilder mit den Bibelworten nicht vereinigen kann,
so sieht er drüber weg, sügt sich der Form und vergeudet seinen Eifer nicht
im Kampfe gegen Dogma oder Ritus. Denn sei" ganzer Eifer gehört dem
Wesen, dem innersten, lebensvollen Kern des allgemeinen evangelischen Christen¬
tums: der Liebe zu Gott und dem Nächsten. Erfüllt von unmittelbarem
Glauben an Christus und seine Worte, ist er ein Nachfolger Christi, der in
unsrer Zeit kaum seinesgleichen hat. In unermüdlicher Thätigkeit der
Nächstenliebe verkündet er durch das Werk das Wort, ohne sich um Kon¬
fessionen und Kirchen zu kümmern, ein rechter Evangelist, und viele Tausende
folgen ihm nach mit derselben Einfalt, mit der er täglich auf Grund der Ver¬
heißungen Christi Kranke heilt, Arme nährt, religiöses Sehnen stillt. Vater
Johann wäre nicht solch ein Evangelist in einem andern als dem russischen
Volke. Aber hier, bei dem tiefen religiösen Empfinden des Volkes und der
flachen, bloß äußerlichen Nahrung, die ihm von der Kirche geboten wird,
wirkt die Predigt von der Liebe erlösend, hinreißend. Und in dem Vater der
Armen, dem Tröster der Elenden, dem materiellen Wohlthäter von Hundert-
tausenden, dem Manne, dessen Gebet am Bette der Kranken Gott erhört und
dessen Segen gewaltig wirkt, sieht die Menge die Verkörperung der reinen,
selbstlosen Liebe. Streng und ernst ist die schöne Liturgie der griechischen
Kirche. Aber ihr Sinn ist der Ruf nach Erbarmen für den Sünder, und
ihre Sprache ist dem gemeinen Volke kaum verständlich. Das Evangelium
des Vater Johann versteht jeder, und daher hat das russische Volk ihn höher
gestellt als Bischöfe und Metropolit, darum gilt er für eiuen Heiligen von
Petersburg bis Jrkutsk und Samarkand, daher geht eine Kraft von ihm aus,


Der Lvangelismns in Rußland

Jahre 1869 wurde ein Statut bestätigt, auf Grund dessen eine mit ansehn¬
lichen Mitteln arbeitende Gesellschaft jährlich viele Tausende von Bibeln und
Teilen daraus bis in das östliche Sibirien hin unter das russische Volk ver¬
breitete.

Schon weit früher, schon 1861, nach der Aufhebung der Leibeigenschaft,
begann auf religiösem Gebiet an verschiednen Punkten eine Bewegung, die
mit der politischen Belebung des russischen Volks vorschritt, eine Bewegung,
deren Bedeutung sich für den russischen Staat und seine Kultur als größer
erweisen dürfte, als manche rein politischen Bestrebungen der letzten Jahrzehnte.
Denn die evangelische Bewegung ist volkstümlich, der Masse verständlich, während
dieser Masse die großen politischen Ideen noch lange unverständlich bleiben
werden.

Wir können in der evangelischen Bewegung Rußlands mehrere von ein¬
ander gesonderte Ausgangspunkte wahrnehmen. Den einfachsten, naivsten Ver¬
treter des Evangelismns sehe ich in dem Priester Johann von Kronstäbe.
Ihm ist alle Kritik fern, der Bibel gegenüber sowohl wie der Kirche; er sieht
in beiden Gottes Werk und Wort, und wenn er manches, etwa die Verehrung
der Heiligen oder Heiligenbilder mit den Bibelworten nicht vereinigen kann,
so sieht er drüber weg, sügt sich der Form und vergeudet seinen Eifer nicht
im Kampfe gegen Dogma oder Ritus. Denn sei» ganzer Eifer gehört dem
Wesen, dem innersten, lebensvollen Kern des allgemeinen evangelischen Christen¬
tums: der Liebe zu Gott und dem Nächsten. Erfüllt von unmittelbarem
Glauben an Christus und seine Worte, ist er ein Nachfolger Christi, der in
unsrer Zeit kaum seinesgleichen hat. In unermüdlicher Thätigkeit der
Nächstenliebe verkündet er durch das Werk das Wort, ohne sich um Kon¬
fessionen und Kirchen zu kümmern, ein rechter Evangelist, und viele Tausende
folgen ihm nach mit derselben Einfalt, mit der er täglich auf Grund der Ver¬
heißungen Christi Kranke heilt, Arme nährt, religiöses Sehnen stillt. Vater
Johann wäre nicht solch ein Evangelist in einem andern als dem russischen
Volke. Aber hier, bei dem tiefen religiösen Empfinden des Volkes und der
flachen, bloß äußerlichen Nahrung, die ihm von der Kirche geboten wird,
wirkt die Predigt von der Liebe erlösend, hinreißend. Und in dem Vater der
Armen, dem Tröster der Elenden, dem materiellen Wohlthäter von Hundert-
tausenden, dem Manne, dessen Gebet am Bette der Kranken Gott erhört und
dessen Segen gewaltig wirkt, sieht die Menge die Verkörperung der reinen,
selbstlosen Liebe. Streng und ernst ist die schöne Liturgie der griechischen
Kirche. Aber ihr Sinn ist der Ruf nach Erbarmen für den Sünder, und
ihre Sprache ist dem gemeinen Volke kaum verständlich. Das Evangelium
des Vater Johann versteht jeder, und daher hat das russische Volk ihn höher
gestellt als Bischöfe und Metropolit, darum gilt er für eiuen Heiligen von
Petersburg bis Jrkutsk und Samarkand, daher geht eine Kraft von ihm aus,


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[0223] Der Lvangelismns in Rußland Jahre 1869 wurde ein Statut bestätigt, auf Grund dessen eine mit ansehn¬ lichen Mitteln arbeitende Gesellschaft jährlich viele Tausende von Bibeln und Teilen daraus bis in das östliche Sibirien hin unter das russische Volk ver¬ breitete. Schon weit früher, schon 1861, nach der Aufhebung der Leibeigenschaft, begann auf religiösem Gebiet an verschiednen Punkten eine Bewegung, die mit der politischen Belebung des russischen Volks vorschritt, eine Bewegung, deren Bedeutung sich für den russischen Staat und seine Kultur als größer erweisen dürfte, als manche rein politischen Bestrebungen der letzten Jahrzehnte. Denn die evangelische Bewegung ist volkstümlich, der Masse verständlich, während dieser Masse die großen politischen Ideen noch lange unverständlich bleiben werden. Wir können in der evangelischen Bewegung Rußlands mehrere von ein¬ ander gesonderte Ausgangspunkte wahrnehmen. Den einfachsten, naivsten Ver¬ treter des Evangelismns sehe ich in dem Priester Johann von Kronstäbe. Ihm ist alle Kritik fern, der Bibel gegenüber sowohl wie der Kirche; er sieht in beiden Gottes Werk und Wort, und wenn er manches, etwa die Verehrung der Heiligen oder Heiligenbilder mit den Bibelworten nicht vereinigen kann, so sieht er drüber weg, sügt sich der Form und vergeudet seinen Eifer nicht im Kampfe gegen Dogma oder Ritus. Denn sei» ganzer Eifer gehört dem Wesen, dem innersten, lebensvollen Kern des allgemeinen evangelischen Christen¬ tums: der Liebe zu Gott und dem Nächsten. Erfüllt von unmittelbarem Glauben an Christus und seine Worte, ist er ein Nachfolger Christi, der in unsrer Zeit kaum seinesgleichen hat. In unermüdlicher Thätigkeit der Nächstenliebe verkündet er durch das Werk das Wort, ohne sich um Kon¬ fessionen und Kirchen zu kümmern, ein rechter Evangelist, und viele Tausende folgen ihm nach mit derselben Einfalt, mit der er täglich auf Grund der Ver¬ heißungen Christi Kranke heilt, Arme nährt, religiöses Sehnen stillt. Vater Johann wäre nicht solch ein Evangelist in einem andern als dem russischen Volke. Aber hier, bei dem tiefen religiösen Empfinden des Volkes und der flachen, bloß äußerlichen Nahrung, die ihm von der Kirche geboten wird, wirkt die Predigt von der Liebe erlösend, hinreißend. Und in dem Vater der Armen, dem Tröster der Elenden, dem materiellen Wohlthäter von Hundert- tausenden, dem Manne, dessen Gebet am Bette der Kranken Gott erhört und dessen Segen gewaltig wirkt, sieht die Menge die Verkörperung der reinen, selbstlosen Liebe. Streng und ernst ist die schöne Liturgie der griechischen Kirche. Aber ihr Sinn ist der Ruf nach Erbarmen für den Sünder, und ihre Sprache ist dem gemeinen Volke kaum verständlich. Das Evangelium des Vater Johann versteht jeder, und daher hat das russische Volk ihn höher gestellt als Bischöfe und Metropolit, darum gilt er für eiuen Heiligen von Petersburg bis Jrkutsk und Samarkand, daher geht eine Kraft von ihm aus,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/223>, abgerufen am 23.07.2024.