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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Alphonse Daudet

sehen den unglücklichen Scherenschleifer, der in der Diligence de Beaucaire
wegen seiner treulosen Frau geärgert wird und nichts zu sagen weiß als:
?Ä8-toi, boulkMAsr, so t'en xrie. Wir hören die rührende Geschichte von
dein alten Windmüller. Meister Cornille, dem die Pariser Dampfmühle
bei Tarascon alle Arbeit weggenommen hat. Wir werden in den kleinen
Meierhof geführt, wo sich das Drama mit dem prächtigen Bauernburschen Jan
abspielt, der über der Treulosigkeit der koketten Arlesierin zu Grunde geht.
Mit seiner Geschichte Rule co führt uns der Dichter in die lustige
Zeit, wo die Päpste in Avignon residirten; man könnte diese Geschichte auch
die Rache des päpstlichen Maultiers nennen, denn sie beruht auf der Redensart
der Provenzalen, wenn sie einen unversöhnlichen Menschen bezeichnen wollen:
Dieser Mensch da! trau ihm nicht! er ist wie das Maultier des Papstes, das
erst nach sieben Jahren seinen Fußtritt austeilt.

Der eigentümliche Charakter der Südfranzosen ist für Daudet eine un¬
erschöpfliche Quelle für viele seiner Geschichten und ChnrakterzeichnUngen gewesen.
Diese Provenzalen, die immer in zwei Welten leben, in der wirklichen und in der
ihrer grenzenlosen Phantasie, und dabei diese beiden Welten bunt durcheinander
Wirbeln, erscheinen ihm als unbewußte Weltkomödianten, die harmlos sind,
solange sie sich wie Tartarin in ihren verdrehten Kreisen als moderne Aboeriten
bewegen, die aber gefährlich werden können, wenn sie wie Numa Ronmestan
Einfluß auf das Schicksal der Regierung und des ganzen Volkes gewinnen.
In Urin.^ RvuillöstiM hat Daudet mit bewundernswerter Feinheit ein psycho¬
logisches Werk ersten Ranges geschaffen; nirgends sind die starken Gegensätze
zwischen dem Wesen des Südfranzosen, der mehr keltisches Blut in den Adern
hat, und dem Charakter des Nordfranzosen, der germanische Züge geerbt hat,
mit solcher Menschenkenntnis dargestellt worden. Die meisten Züge zu dem
Helden dieses Romans hat Daudet sicher aus dem Leben und dem Charakter
Gambettas genommen, obwohl er es in Abrede stellt; die Südfranzosen haben
es ihm auch sehr verdacht, daß er der Welt ein so wenig erfreuliches Bild
von ihrem wahren Wesen vorgeführt hat. Alle Züge, die Dandet an seinen
Landsleuten erkannte, ihr leichtfertiges, eitles, prahlerisches Wesen, ihre Wort¬
brüchigkeit, ihren Ehrgeiz, ihre Sinnlichkeit und Unselbständigkeit trotz der
hohen geistigen Begabung und dazu ihre Gutmütigkeit, ihre Naivität, ihre
Freude daran, andern Leuten etwas zu versprechen, sie für einen Augenblick
glücklich zu machen und sich selbst als Wohlthäter zu fühlen, alle diese Neigungen
läßt er in Numa Noumestan spielen, und alle Verwirrungen und Konflikte werden
durch sie heraufbeschworen. Immer wieder wird Rosalie, die vortreffliche Nvrd-
sranzösin, von Ekel über ihren Gatten Numa, diesen wetterwendischen, treulosen
Menschen ergriffen, aber immer kehrt sie zu ihm zurück, wie zu einem Kranken,
der nur Mitleid verdient, weil er nicht anders kann, weil der Fluch der Doppel-
natur in seinem Blute steckt.


Alphonse Daudet

sehen den unglücklichen Scherenschleifer, der in der Diligence de Beaucaire
wegen seiner treulosen Frau geärgert wird und nichts zu sagen weiß als:
?Ä8-toi, boulkMAsr, so t'en xrie. Wir hören die rührende Geschichte von
dein alten Windmüller. Meister Cornille, dem die Pariser Dampfmühle
bei Tarascon alle Arbeit weggenommen hat. Wir werden in den kleinen
Meierhof geführt, wo sich das Drama mit dem prächtigen Bauernburschen Jan
abspielt, der über der Treulosigkeit der koketten Arlesierin zu Grunde geht.
Mit seiner Geschichte Rule co führt uns der Dichter in die lustige
Zeit, wo die Päpste in Avignon residirten; man könnte diese Geschichte auch
die Rache des päpstlichen Maultiers nennen, denn sie beruht auf der Redensart
der Provenzalen, wenn sie einen unversöhnlichen Menschen bezeichnen wollen:
Dieser Mensch da! trau ihm nicht! er ist wie das Maultier des Papstes, das
erst nach sieben Jahren seinen Fußtritt austeilt.

Der eigentümliche Charakter der Südfranzosen ist für Daudet eine un¬
erschöpfliche Quelle für viele seiner Geschichten und ChnrakterzeichnUngen gewesen.
Diese Provenzalen, die immer in zwei Welten leben, in der wirklichen und in der
ihrer grenzenlosen Phantasie, und dabei diese beiden Welten bunt durcheinander
Wirbeln, erscheinen ihm als unbewußte Weltkomödianten, die harmlos sind,
solange sie sich wie Tartarin in ihren verdrehten Kreisen als moderne Aboeriten
bewegen, die aber gefährlich werden können, wenn sie wie Numa Ronmestan
Einfluß auf das Schicksal der Regierung und des ganzen Volkes gewinnen.
In Urin.^ RvuillöstiM hat Daudet mit bewundernswerter Feinheit ein psycho¬
logisches Werk ersten Ranges geschaffen; nirgends sind die starken Gegensätze
zwischen dem Wesen des Südfranzosen, der mehr keltisches Blut in den Adern
hat, und dem Charakter des Nordfranzosen, der germanische Züge geerbt hat,
mit solcher Menschenkenntnis dargestellt worden. Die meisten Züge zu dem
Helden dieses Romans hat Daudet sicher aus dem Leben und dem Charakter
Gambettas genommen, obwohl er es in Abrede stellt; die Südfranzosen haben
es ihm auch sehr verdacht, daß er der Welt ein so wenig erfreuliches Bild
von ihrem wahren Wesen vorgeführt hat. Alle Züge, die Dandet an seinen
Landsleuten erkannte, ihr leichtfertiges, eitles, prahlerisches Wesen, ihre Wort¬
brüchigkeit, ihren Ehrgeiz, ihre Sinnlichkeit und Unselbständigkeit trotz der
hohen geistigen Begabung und dazu ihre Gutmütigkeit, ihre Naivität, ihre
Freude daran, andern Leuten etwas zu versprechen, sie für einen Augenblick
glücklich zu machen und sich selbst als Wohlthäter zu fühlen, alle diese Neigungen
läßt er in Numa Noumestan spielen, und alle Verwirrungen und Konflikte werden
durch sie heraufbeschworen. Immer wieder wird Rosalie, die vortreffliche Nvrd-
sranzösin, von Ekel über ihren Gatten Numa, diesen wetterwendischen, treulosen
Menschen ergriffen, aber immer kehrt sie zu ihm zurück, wie zu einem Kranken,
der nur Mitleid verdient, weil er nicht anders kann, weil der Fluch der Doppel-
natur in seinem Blute steckt.


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[0199] Alphonse Daudet sehen den unglücklichen Scherenschleifer, der in der Diligence de Beaucaire wegen seiner treulosen Frau geärgert wird und nichts zu sagen weiß als: ?Ä8-toi, boulkMAsr, so t'en xrie. Wir hören die rührende Geschichte von dein alten Windmüller. Meister Cornille, dem die Pariser Dampfmühle bei Tarascon alle Arbeit weggenommen hat. Wir werden in den kleinen Meierhof geführt, wo sich das Drama mit dem prächtigen Bauernburschen Jan abspielt, der über der Treulosigkeit der koketten Arlesierin zu Grunde geht. Mit seiner Geschichte Rule co führt uns der Dichter in die lustige Zeit, wo die Päpste in Avignon residirten; man könnte diese Geschichte auch die Rache des päpstlichen Maultiers nennen, denn sie beruht auf der Redensart der Provenzalen, wenn sie einen unversöhnlichen Menschen bezeichnen wollen: Dieser Mensch da! trau ihm nicht! er ist wie das Maultier des Papstes, das erst nach sieben Jahren seinen Fußtritt austeilt. Der eigentümliche Charakter der Südfranzosen ist für Daudet eine un¬ erschöpfliche Quelle für viele seiner Geschichten und ChnrakterzeichnUngen gewesen. Diese Provenzalen, die immer in zwei Welten leben, in der wirklichen und in der ihrer grenzenlosen Phantasie, und dabei diese beiden Welten bunt durcheinander Wirbeln, erscheinen ihm als unbewußte Weltkomödianten, die harmlos sind, solange sie sich wie Tartarin in ihren verdrehten Kreisen als moderne Aboeriten bewegen, die aber gefährlich werden können, wenn sie wie Numa Ronmestan Einfluß auf das Schicksal der Regierung und des ganzen Volkes gewinnen. In Urin.^ RvuillöstiM hat Daudet mit bewundernswerter Feinheit ein psycho¬ logisches Werk ersten Ranges geschaffen; nirgends sind die starken Gegensätze zwischen dem Wesen des Südfranzosen, der mehr keltisches Blut in den Adern hat, und dem Charakter des Nordfranzosen, der germanische Züge geerbt hat, mit solcher Menschenkenntnis dargestellt worden. Die meisten Züge zu dem Helden dieses Romans hat Daudet sicher aus dem Leben und dem Charakter Gambettas genommen, obwohl er es in Abrede stellt; die Südfranzosen haben es ihm auch sehr verdacht, daß er der Welt ein so wenig erfreuliches Bild von ihrem wahren Wesen vorgeführt hat. Alle Züge, die Dandet an seinen Landsleuten erkannte, ihr leichtfertiges, eitles, prahlerisches Wesen, ihre Wort¬ brüchigkeit, ihren Ehrgeiz, ihre Sinnlichkeit und Unselbständigkeit trotz der hohen geistigen Begabung und dazu ihre Gutmütigkeit, ihre Naivität, ihre Freude daran, andern Leuten etwas zu versprechen, sie für einen Augenblick glücklich zu machen und sich selbst als Wohlthäter zu fühlen, alle diese Neigungen läßt er in Numa Noumestan spielen, und alle Verwirrungen und Konflikte werden durch sie heraufbeschworen. Immer wieder wird Rosalie, die vortreffliche Nvrd- sranzösin, von Ekel über ihren Gatten Numa, diesen wetterwendischen, treulosen Menschen ergriffen, aber immer kehrt sie zu ihm zurück, wie zu einem Kranken, der nur Mitleid verdient, weil er nicht anders kann, weil der Fluch der Doppel- natur in seinem Blute steckt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/199>, abgerufen am 28.12.2024.