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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Alphonse Daudet

ist ein Mann, der keine andern als intellektuelle Schmerzen, Sorgen und Nöte
kennt -- Körperschmerzen achtete er gering --, zeitlebens geschützt, während
einer, der in die irdischen Dinge verstrickt lebt, der Vergrößerung und Ver¬
schlechterung seines Charakters, vielfacher Beschädigung und Verstümmelung
seiner Seele nicht entgehen kann, die freilich durch mancherlei Gutes aufge¬
wogen wird, das aus der Sorge für andre und aus dem Kampf hervorgeht.
Aber ein solches vielfach zerschundnes, zerquetschtes und gesticktes Menschenkind
bleibt wenigstens bis zu seinem leiblichen Tode auch geistig am Leben und
kann eine nützliche Thätigkeit üben, während einem, der gewissermaßen als
reiner Geist leben will, der Tod vor dem leiblichen Tode droht. Als Student
sah Nietzsche einmal, wie bei heftigem Winde ein Hausirer ängstlich seine
Luftballons festhielt. Unsre Mutter! rief er lachend seiner Schwester zu und
fügte bei: was fliegen soll, fliegt doch! Ja, aber wohin? Die ekstatische
Heilige, die der Erde entflieht, ruht sicher in Gott, und mögen die Un¬
gläubigen Recht haben, daß die Ekstase nur Nervenkrankheit und Einbildung
sei, so ruht sie nichtsdestoweniger in dieser Einbildung; der Grübler aber,
der die ihn mit der Erde verbindenden Fäden zerschnitten hat, fällt ins Leere.




Alphonse Daudet
Ernst Groth von(Schluß)

er zweite charakteristische Zug in Daudets litterarischer Persön¬
lichkeit ist seine Heimatliebe, seine Liebe für den warmen Süden
der Languedoc und der Provence mit ihren landschaftlichen
Reizen, dem merkwürdigen Gemisch der römischen Kultur,
deren altersgraue Bauten noch stehen, und der jungen,
modernen Welt; mit ihren eigentümlichen Menschen, die dem Nordfranzosen
im Denken und Fühlen fremd gegenüberstehen, und deren Temperament und
Charakter dem beobachtenden Schriftsteller einen unerschöpflichen Stoff liefern.
Dandets Versuch, den Hintergrund und die Gestalten zu vielen seiner Ge¬
schichten aus der Heimatprovinz zu nehmen, steht in der französischen Litte¬
ratur nicht vereinzelt da; es ließe sich im Gegenteil schon jetzt aus deu zahl¬
reichen Provinzialromanen eine ziemlich vollständige litterarische Geographie
zusammenstellen. Berrh, das Herz Frankreichs, hat George Sand in ihren
Romanen behandelt; in der Touraine spielen zahlreiche Geschichten Balzacs;
Erckmann-Chatrian haben vor allem das Elsaß zum Schauplatz ihrer Erzäh-


Alphonse Daudet

ist ein Mann, der keine andern als intellektuelle Schmerzen, Sorgen und Nöte
kennt — Körperschmerzen achtete er gering —, zeitlebens geschützt, während
einer, der in die irdischen Dinge verstrickt lebt, der Vergrößerung und Ver¬
schlechterung seines Charakters, vielfacher Beschädigung und Verstümmelung
seiner Seele nicht entgehen kann, die freilich durch mancherlei Gutes aufge¬
wogen wird, das aus der Sorge für andre und aus dem Kampf hervorgeht.
Aber ein solches vielfach zerschundnes, zerquetschtes und gesticktes Menschenkind
bleibt wenigstens bis zu seinem leiblichen Tode auch geistig am Leben und
kann eine nützliche Thätigkeit üben, während einem, der gewissermaßen als
reiner Geist leben will, der Tod vor dem leiblichen Tode droht. Als Student
sah Nietzsche einmal, wie bei heftigem Winde ein Hausirer ängstlich seine
Luftballons festhielt. Unsre Mutter! rief er lachend seiner Schwester zu und
fügte bei: was fliegen soll, fliegt doch! Ja, aber wohin? Die ekstatische
Heilige, die der Erde entflieht, ruht sicher in Gott, und mögen die Un¬
gläubigen Recht haben, daß die Ekstase nur Nervenkrankheit und Einbildung
sei, so ruht sie nichtsdestoweniger in dieser Einbildung; der Grübler aber,
der die ihn mit der Erde verbindenden Fäden zerschnitten hat, fällt ins Leere.




Alphonse Daudet
Ernst Groth von(Schluß)

er zweite charakteristische Zug in Daudets litterarischer Persön¬
lichkeit ist seine Heimatliebe, seine Liebe für den warmen Süden
der Languedoc und der Provence mit ihren landschaftlichen
Reizen, dem merkwürdigen Gemisch der römischen Kultur,
deren altersgraue Bauten noch stehen, und der jungen,
modernen Welt; mit ihren eigentümlichen Menschen, die dem Nordfranzosen
im Denken und Fühlen fremd gegenüberstehen, und deren Temperament und
Charakter dem beobachtenden Schriftsteller einen unerschöpflichen Stoff liefern.
Dandets Versuch, den Hintergrund und die Gestalten zu vielen seiner Ge¬
schichten aus der Heimatprovinz zu nehmen, steht in der französischen Litte¬
ratur nicht vereinzelt da; es ließe sich im Gegenteil schon jetzt aus deu zahl¬
reichen Provinzialromanen eine ziemlich vollständige litterarische Geographie
zusammenstellen. Berrh, das Herz Frankreichs, hat George Sand in ihren
Romanen behandelt; in der Touraine spielen zahlreiche Geschichten Balzacs;
Erckmann-Chatrian haben vor allem das Elsaß zum Schauplatz ihrer Erzäh-


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[0197] Alphonse Daudet ist ein Mann, der keine andern als intellektuelle Schmerzen, Sorgen und Nöte kennt — Körperschmerzen achtete er gering —, zeitlebens geschützt, während einer, der in die irdischen Dinge verstrickt lebt, der Vergrößerung und Ver¬ schlechterung seines Charakters, vielfacher Beschädigung und Verstümmelung seiner Seele nicht entgehen kann, die freilich durch mancherlei Gutes aufge¬ wogen wird, das aus der Sorge für andre und aus dem Kampf hervorgeht. Aber ein solches vielfach zerschundnes, zerquetschtes und gesticktes Menschenkind bleibt wenigstens bis zu seinem leiblichen Tode auch geistig am Leben und kann eine nützliche Thätigkeit üben, während einem, der gewissermaßen als reiner Geist leben will, der Tod vor dem leiblichen Tode droht. Als Student sah Nietzsche einmal, wie bei heftigem Winde ein Hausirer ängstlich seine Luftballons festhielt. Unsre Mutter! rief er lachend seiner Schwester zu und fügte bei: was fliegen soll, fliegt doch! Ja, aber wohin? Die ekstatische Heilige, die der Erde entflieht, ruht sicher in Gott, und mögen die Un¬ gläubigen Recht haben, daß die Ekstase nur Nervenkrankheit und Einbildung sei, so ruht sie nichtsdestoweniger in dieser Einbildung; der Grübler aber, der die ihn mit der Erde verbindenden Fäden zerschnitten hat, fällt ins Leere. Alphonse Daudet Ernst Groth von(Schluß) er zweite charakteristische Zug in Daudets litterarischer Persön¬ lichkeit ist seine Heimatliebe, seine Liebe für den warmen Süden der Languedoc und der Provence mit ihren landschaftlichen Reizen, dem merkwürdigen Gemisch der römischen Kultur, deren altersgraue Bauten noch stehen, und der jungen, modernen Welt; mit ihren eigentümlichen Menschen, die dem Nordfranzosen im Denken und Fühlen fremd gegenüberstehen, und deren Temperament und Charakter dem beobachtenden Schriftsteller einen unerschöpflichen Stoff liefern. Dandets Versuch, den Hintergrund und die Gestalten zu vielen seiner Ge¬ schichten aus der Heimatprovinz zu nehmen, steht in der französischen Litte¬ ratur nicht vereinzelt da; es ließe sich im Gegenteil schon jetzt aus deu zahl¬ reichen Provinzialromanen eine ziemlich vollständige litterarische Geographie zusammenstellen. Berrh, das Herz Frankreichs, hat George Sand in ihren Romanen behandelt; in der Touraine spielen zahlreiche Geschichten Balzacs; Erckmann-Chatrian haben vor allem das Elsaß zum Schauplatz ihrer Erzäh-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/197>, abgerufen am 27.12.2024.