Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Friedrich Nietzsche

wenigen verstanden zu werden, hoffte aber, daß er noch Jahrhunderte nach
seinem Tode leuchten werde.

Was konnte einen so festgefügten Geist zuletzt doch aus den Fugen
bringen? Das Unglück ist nicht schwer zu verstehen. Nietzsche war zeit¬
lebens von unbedingter und unerbittlichster Wahrheitsliebe und von tiefstem
Ernste erfüllt. Er nahm alles ernst und meinte alles vollkommen aufrichtig.
Als er das erste Jahr die Bürgerschule besuchte, fiel einmal gerade am Schul¬
schluß ein Platzregen. Die Mutter erwartete ihn in der Hausthür und sah,
wie alle Jungen dahergestürmt kamen, während ihr Fritz, die Kappe unter der
Schiefertafel geborgen und das Taschentuch darüber gebreitet, ruhig einher-
schritt. So lauf doch! rief ihm die Mutter zu; er aber antwortete, als er
endlich angelangt war: "Aber Mama, in den Schulgesetzen steht: die Knaben
sollen beim Verlassen der Schule nicht springen und laufen, sondern ruhig
und gesittet nach Hause gehn" lV. I, 30). So blieb er zeitlebens. Er war
von Kindheit auf stolz darauf, Sprößling eines polnischen Grafengeschlechts
zu sein, das der Religion wegen in die Verbannung gezogen war. Die
Schwester, die ganz unter seinem Einflüsse stand und ein Herz und eine Seele
mit ihm war, schreibt: Wir logen nicht, weil sich das für uns, die Grafen
Nietzky, nicht schickte (V. I, 35). Nun denke man sich, wie es auf einen
solchen Geist wirken mußte, wenn er nach und nach die Verlogenheit der
Welt inne wurde und erfuhr, wie man ausgelacht wird, wenn man irgend
etwas ernst nimmt, was kein Geld einträgt, und dessen Vernachlässigung
keinen Schaden bringt! Er fühlte sich ausgestoßen aus Kirche, Staat und
Gesellschaft, die er verantwortlich macht, und glaubte später die heutigen
Deutschen schon darum für Barbaren erklären zu müssen, weil sie nichts ernst
zu nehmen vermöchten. Dazu kam die hartnäckige Beharrlichkeit, mit der er
allem, was er angriff, auf den Grund ging. Wer aber den irdischen Dinge",
und zu diesen gehört auch jede Art von Wissenschaft, auf den Grund geht,
der findet, wie schon der Ekklesiast, ihre Eitelkeit und noch schlimmeres als
bloß Eitelkeit. So fand Nietzsche u. a.: leben heiße ungerecht sein; man müsse
das vergessen können, um leben zu können; er konnte aber schwer vergessen
si, 308). Nicht zu tief! notirt er einmal. "Personen, die eine Sache in aller
Tiefe erfassen, bleiben ihr selten auf immer treu. Sie haben eben die Tiefe
ans Licht gebracht, da giebt es immer viel schlimmes zu sehen." Damit ist
denn zugleich der häufige Wechsel seiner Ansichten erklärt. Hatte er die
Nichtigkeit einer Philosophie, einer Autorität erkannt, so blieb eben nichts
übrig, als es mit einer andern zu versuchen, und so gelangte er zuletzt zu
einer verhängnisvollen Universalität, die gleichbedeutend mit Selbstzerstörung
war. Man kann universell sein als ein Vielwisser und noch zehn- oder
hundertmal mehr wissen als Nietzsche, ohne die geringste Störung des seelischen
Gleichgewichts zu erleiden, wenn man seine Kenntnisse nur im Gedächtnisse


Friedrich Nietzsche

wenigen verstanden zu werden, hoffte aber, daß er noch Jahrhunderte nach
seinem Tode leuchten werde.

Was konnte einen so festgefügten Geist zuletzt doch aus den Fugen
bringen? Das Unglück ist nicht schwer zu verstehen. Nietzsche war zeit¬
lebens von unbedingter und unerbittlichster Wahrheitsliebe und von tiefstem
Ernste erfüllt. Er nahm alles ernst und meinte alles vollkommen aufrichtig.
Als er das erste Jahr die Bürgerschule besuchte, fiel einmal gerade am Schul¬
schluß ein Platzregen. Die Mutter erwartete ihn in der Hausthür und sah,
wie alle Jungen dahergestürmt kamen, während ihr Fritz, die Kappe unter der
Schiefertafel geborgen und das Taschentuch darüber gebreitet, ruhig einher-
schritt. So lauf doch! rief ihm die Mutter zu; er aber antwortete, als er
endlich angelangt war: „Aber Mama, in den Schulgesetzen steht: die Knaben
sollen beim Verlassen der Schule nicht springen und laufen, sondern ruhig
und gesittet nach Hause gehn" lV. I, 30). So blieb er zeitlebens. Er war
von Kindheit auf stolz darauf, Sprößling eines polnischen Grafengeschlechts
zu sein, das der Religion wegen in die Verbannung gezogen war. Die
Schwester, die ganz unter seinem Einflüsse stand und ein Herz und eine Seele
mit ihm war, schreibt: Wir logen nicht, weil sich das für uns, die Grafen
Nietzky, nicht schickte (V. I, 35). Nun denke man sich, wie es auf einen
solchen Geist wirken mußte, wenn er nach und nach die Verlogenheit der
Welt inne wurde und erfuhr, wie man ausgelacht wird, wenn man irgend
etwas ernst nimmt, was kein Geld einträgt, und dessen Vernachlässigung
keinen Schaden bringt! Er fühlte sich ausgestoßen aus Kirche, Staat und
Gesellschaft, die er verantwortlich macht, und glaubte später die heutigen
Deutschen schon darum für Barbaren erklären zu müssen, weil sie nichts ernst
zu nehmen vermöchten. Dazu kam die hartnäckige Beharrlichkeit, mit der er
allem, was er angriff, auf den Grund ging. Wer aber den irdischen Dinge»,
und zu diesen gehört auch jede Art von Wissenschaft, auf den Grund geht,
der findet, wie schon der Ekklesiast, ihre Eitelkeit und noch schlimmeres als
bloß Eitelkeit. So fand Nietzsche u. a.: leben heiße ungerecht sein; man müsse
das vergessen können, um leben zu können; er konnte aber schwer vergessen
si, 308). Nicht zu tief! notirt er einmal. „Personen, die eine Sache in aller
Tiefe erfassen, bleiben ihr selten auf immer treu. Sie haben eben die Tiefe
ans Licht gebracht, da giebt es immer viel schlimmes zu sehen." Damit ist
denn zugleich der häufige Wechsel seiner Ansichten erklärt. Hatte er die
Nichtigkeit einer Philosophie, einer Autorität erkannt, so blieb eben nichts
übrig, als es mit einer andern zu versuchen, und so gelangte er zuletzt zu
einer verhängnisvollen Universalität, die gleichbedeutend mit Selbstzerstörung
war. Man kann universell sein als ein Vielwisser und noch zehn- oder
hundertmal mehr wissen als Nietzsche, ohne die geringste Störung des seelischen
Gleichgewichts zu erleiden, wenn man seine Kenntnisse nur im Gedächtnisse


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0195" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227831"/>
          <fw type="header" place="top"> Friedrich Nietzsche</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_518" prev="#ID_517"> wenigen verstanden zu werden, hoffte aber, daß er noch Jahrhunderte nach<lb/>
seinem Tode leuchten werde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_519" next="#ID_520"> Was konnte einen so festgefügten Geist zuletzt doch aus den Fugen<lb/>
bringen? Das Unglück ist nicht schwer zu verstehen. Nietzsche war zeit¬<lb/>
lebens von unbedingter und unerbittlichster Wahrheitsliebe und von tiefstem<lb/>
Ernste erfüllt. Er nahm alles ernst und meinte alles vollkommen aufrichtig.<lb/>
Als er das erste Jahr die Bürgerschule besuchte, fiel einmal gerade am Schul¬<lb/>
schluß ein Platzregen. Die Mutter erwartete ihn in der Hausthür und sah,<lb/>
wie alle Jungen dahergestürmt kamen, während ihr Fritz, die Kappe unter der<lb/>
Schiefertafel geborgen und das Taschentuch darüber gebreitet, ruhig einher-<lb/>
schritt. So lauf doch! rief ihm die Mutter zu; er aber antwortete, als er<lb/>
endlich angelangt war: &#x201E;Aber Mama, in den Schulgesetzen steht: die Knaben<lb/>
sollen beim Verlassen der Schule nicht springen und laufen, sondern ruhig<lb/>
und gesittet nach Hause gehn" lV. I, 30). So blieb er zeitlebens. Er war<lb/>
von Kindheit auf stolz darauf, Sprößling eines polnischen Grafengeschlechts<lb/>
zu sein, das der Religion wegen in die Verbannung gezogen war. Die<lb/>
Schwester, die ganz unter seinem Einflüsse stand und ein Herz und eine Seele<lb/>
mit ihm war, schreibt: Wir logen nicht, weil sich das für uns, die Grafen<lb/>
Nietzky, nicht schickte (V. I, 35). Nun denke man sich, wie es auf einen<lb/>
solchen Geist wirken mußte, wenn er nach und nach die Verlogenheit der<lb/>
Welt inne wurde und erfuhr, wie man ausgelacht wird, wenn man irgend<lb/>
etwas ernst nimmt, was kein Geld einträgt, und dessen Vernachlässigung<lb/>
keinen Schaden bringt! Er fühlte sich ausgestoßen aus Kirche, Staat und<lb/>
Gesellschaft, die er verantwortlich macht, und glaubte später die heutigen<lb/>
Deutschen schon darum für Barbaren erklären zu müssen, weil sie nichts ernst<lb/>
zu nehmen vermöchten. Dazu kam die hartnäckige Beharrlichkeit, mit der er<lb/>
allem, was er angriff, auf den Grund ging. Wer aber den irdischen Dinge»,<lb/>
und zu diesen gehört auch jede Art von Wissenschaft, auf den Grund geht,<lb/>
der findet, wie schon der Ekklesiast, ihre Eitelkeit und noch schlimmeres als<lb/>
bloß Eitelkeit. So fand Nietzsche u. a.: leben heiße ungerecht sein; man müsse<lb/>
das vergessen können, um leben zu können; er konnte aber schwer vergessen<lb/>
si, 308). Nicht zu tief! notirt er einmal. &#x201E;Personen, die eine Sache in aller<lb/>
Tiefe erfassen, bleiben ihr selten auf immer treu. Sie haben eben die Tiefe<lb/>
ans Licht gebracht, da giebt es immer viel schlimmes zu sehen." Damit ist<lb/>
denn zugleich der häufige Wechsel seiner Ansichten erklärt. Hatte er die<lb/>
Nichtigkeit einer Philosophie, einer Autorität erkannt, so blieb eben nichts<lb/>
übrig, als es mit einer andern zu versuchen, und so gelangte er zuletzt zu<lb/>
einer verhängnisvollen Universalität, die gleichbedeutend mit Selbstzerstörung<lb/>
war. Man kann universell sein als ein Vielwisser und noch zehn- oder<lb/>
hundertmal mehr wissen als Nietzsche, ohne die geringste Störung des seelischen<lb/>
Gleichgewichts zu erleiden, wenn man seine Kenntnisse nur im Gedächtnisse</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0195] Friedrich Nietzsche wenigen verstanden zu werden, hoffte aber, daß er noch Jahrhunderte nach seinem Tode leuchten werde. Was konnte einen so festgefügten Geist zuletzt doch aus den Fugen bringen? Das Unglück ist nicht schwer zu verstehen. Nietzsche war zeit¬ lebens von unbedingter und unerbittlichster Wahrheitsliebe und von tiefstem Ernste erfüllt. Er nahm alles ernst und meinte alles vollkommen aufrichtig. Als er das erste Jahr die Bürgerschule besuchte, fiel einmal gerade am Schul¬ schluß ein Platzregen. Die Mutter erwartete ihn in der Hausthür und sah, wie alle Jungen dahergestürmt kamen, während ihr Fritz, die Kappe unter der Schiefertafel geborgen und das Taschentuch darüber gebreitet, ruhig einher- schritt. So lauf doch! rief ihm die Mutter zu; er aber antwortete, als er endlich angelangt war: „Aber Mama, in den Schulgesetzen steht: die Knaben sollen beim Verlassen der Schule nicht springen und laufen, sondern ruhig und gesittet nach Hause gehn" lV. I, 30). So blieb er zeitlebens. Er war von Kindheit auf stolz darauf, Sprößling eines polnischen Grafengeschlechts zu sein, das der Religion wegen in die Verbannung gezogen war. Die Schwester, die ganz unter seinem Einflüsse stand und ein Herz und eine Seele mit ihm war, schreibt: Wir logen nicht, weil sich das für uns, die Grafen Nietzky, nicht schickte (V. I, 35). Nun denke man sich, wie es auf einen solchen Geist wirken mußte, wenn er nach und nach die Verlogenheit der Welt inne wurde und erfuhr, wie man ausgelacht wird, wenn man irgend etwas ernst nimmt, was kein Geld einträgt, und dessen Vernachlässigung keinen Schaden bringt! Er fühlte sich ausgestoßen aus Kirche, Staat und Gesellschaft, die er verantwortlich macht, und glaubte später die heutigen Deutschen schon darum für Barbaren erklären zu müssen, weil sie nichts ernst zu nehmen vermöchten. Dazu kam die hartnäckige Beharrlichkeit, mit der er allem, was er angriff, auf den Grund ging. Wer aber den irdischen Dinge», und zu diesen gehört auch jede Art von Wissenschaft, auf den Grund geht, der findet, wie schon der Ekklesiast, ihre Eitelkeit und noch schlimmeres als bloß Eitelkeit. So fand Nietzsche u. a.: leben heiße ungerecht sein; man müsse das vergessen können, um leben zu können; er konnte aber schwer vergessen si, 308). Nicht zu tief! notirt er einmal. „Personen, die eine Sache in aller Tiefe erfassen, bleiben ihr selten auf immer treu. Sie haben eben die Tiefe ans Licht gebracht, da giebt es immer viel schlimmes zu sehen." Damit ist denn zugleich der häufige Wechsel seiner Ansichten erklärt. Hatte er die Nichtigkeit einer Philosophie, einer Autorität erkannt, so blieb eben nichts übrig, als es mit einer andern zu versuchen, und so gelangte er zuletzt zu einer verhängnisvollen Universalität, die gleichbedeutend mit Selbstzerstörung war. Man kann universell sein als ein Vielwisser und noch zehn- oder hundertmal mehr wissen als Nietzsche, ohne die geringste Störung des seelischen Gleichgewichts zu erleiden, wenn man seine Kenntnisse nur im Gedächtnisse

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/195
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/195>, abgerufen am 23.07.2024.