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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

Durchaus positiv nennt Nietzsche sich selbst. Er will, daß jeder zur
höhern Bildung Berufne methodisch "sehen, denken, tanzen" lerne. Er findet
sich selbst körperlich und geistig kerngesund (seine Erkrankungen waren sämtlich
durch äußere Schädigungen verursacht), war ein Freund aller Leibesübungen,
frei von pessimistischen Stimmungen und von Menschenhaß, denn im Haß,
meint er, sei Furcht, und er kenne keine Furcht. Den Schwarzgallichten, fordert
er, sollte nicht erlaubt werden, Kinder zu zeugen. Keine Spur bei ihm von
jener Zerfahrenheit, die sich unter dem Namen der Genialität verbirgt. Von
der Genialität denkt er gar nicht hoch; man müsse nur ein fleißiger Hand¬
werker sein, behauptet er, so bringe man alles fertig, was die sogenannten
Genies leisteten, auch z. B. gute Novellen. (Freilich kommen in seinen Büchern
noch viele andre Auffassungen der Erscheinung vor, die als Genialität be¬
zeichnet zu werden Pflegt.) Er selbst hatte schon als Knabe mit gleichgesinnten
Freunden Privatarbeitcu mit großem Ernst angefertigt, war in der Schule
tüchtig gewesen, hatte als Student schwierige kritische Studien so gründlich
und mit solchem Erfolg betrieben, daß der große Ritschl den erst vierund-
zwanzigjährigen für eine Universitätsprofessur empfehlen konnte, und bewährte
sich in Basel nicht allein als ein Hochschullehrer, der einen begeisterten und
mit Verehrung erfüllten Jüngerkreis um sich Scharte, sondern auch als gewissen¬
hafter Lehrer im Pädagogium. Hier brauchte er niemals zu strafen; auch die
Faulsten waren fleißig bei mir, konnte er berichten. Er weiß vortreffliche
pädagogische Ratschläge zu erteilen (XI, 67), und die Behörden von Basel
haben seine gesegnete Wirksamkeit dankbar anerkannt. Dazu kam ein liebreiches,
dankbares, ehrfurchtsvolles Gemüt. Er war lange Jahre geneigt, alle Per¬
sonen, mit denen er zusammenkam, zu überschätzen, sich zu unterschätzen. Erst
viele bittere Enttäuschungen waren erforderlich, ihm einen großen Ekel vor den
Menschen beizubringen, und die Achtung vor ihm selbst ward ihm von seinen
Verehrern beigebracht. Als Kind unterhielt er sich einmal mit seiner Schwester
darüber, woher es wohl komme, daß sie vieles wüßten, was andre Kinder
gleichen Alters noch nicht wüßten; die Schwester behauptete, sie verdanke das
ihm, dem Bruder, er aber glaubte, es sei der verstorbne Bater, der ihnen
beiden ante Gedanken eingebe. In seinem Benehmen war er schlicht und ein¬
fach. Wer wird nicht giftig und innerlich aufgebracht, lautet eine Bemerkung
auf Seite 81 des elften Bandes, "wenn er einen Hort, der sein Leben gar zu
pathetisch nimmt und von Golgatha und Gethsemane redet! Wir vertragen
das Pathetische nur in der Kunst; der lebende Mensch soll schlicht und nicht
zu laut sein." Durch und durch Aristokrat im besten Sinne des Wortes, litt
er an einem beinahe krankhaften Ekel vor allem schmutzigen. Er definirte.
wohl die Aristokratie als einen Stand derer, die sich waschen, und hielt es
für möglich, daß man am wohlbesetzten Tische verhungern könne, aus Ekel vor
den Mitesfenden. Nach Erfolg war er nicht gierig; er wünschte nur von


Friedrich Nietzsche

Durchaus positiv nennt Nietzsche sich selbst. Er will, daß jeder zur
höhern Bildung Berufne methodisch „sehen, denken, tanzen" lerne. Er findet
sich selbst körperlich und geistig kerngesund (seine Erkrankungen waren sämtlich
durch äußere Schädigungen verursacht), war ein Freund aller Leibesübungen,
frei von pessimistischen Stimmungen und von Menschenhaß, denn im Haß,
meint er, sei Furcht, und er kenne keine Furcht. Den Schwarzgallichten, fordert
er, sollte nicht erlaubt werden, Kinder zu zeugen. Keine Spur bei ihm von
jener Zerfahrenheit, die sich unter dem Namen der Genialität verbirgt. Von
der Genialität denkt er gar nicht hoch; man müsse nur ein fleißiger Hand¬
werker sein, behauptet er, so bringe man alles fertig, was die sogenannten
Genies leisteten, auch z. B. gute Novellen. (Freilich kommen in seinen Büchern
noch viele andre Auffassungen der Erscheinung vor, die als Genialität be¬
zeichnet zu werden Pflegt.) Er selbst hatte schon als Knabe mit gleichgesinnten
Freunden Privatarbeitcu mit großem Ernst angefertigt, war in der Schule
tüchtig gewesen, hatte als Student schwierige kritische Studien so gründlich
und mit solchem Erfolg betrieben, daß der große Ritschl den erst vierund-
zwanzigjährigen für eine Universitätsprofessur empfehlen konnte, und bewährte
sich in Basel nicht allein als ein Hochschullehrer, der einen begeisterten und
mit Verehrung erfüllten Jüngerkreis um sich Scharte, sondern auch als gewissen¬
hafter Lehrer im Pädagogium. Hier brauchte er niemals zu strafen; auch die
Faulsten waren fleißig bei mir, konnte er berichten. Er weiß vortreffliche
pädagogische Ratschläge zu erteilen (XI, 67), und die Behörden von Basel
haben seine gesegnete Wirksamkeit dankbar anerkannt. Dazu kam ein liebreiches,
dankbares, ehrfurchtsvolles Gemüt. Er war lange Jahre geneigt, alle Per¬
sonen, mit denen er zusammenkam, zu überschätzen, sich zu unterschätzen. Erst
viele bittere Enttäuschungen waren erforderlich, ihm einen großen Ekel vor den
Menschen beizubringen, und die Achtung vor ihm selbst ward ihm von seinen
Verehrern beigebracht. Als Kind unterhielt er sich einmal mit seiner Schwester
darüber, woher es wohl komme, daß sie vieles wüßten, was andre Kinder
gleichen Alters noch nicht wüßten; die Schwester behauptete, sie verdanke das
ihm, dem Bruder, er aber glaubte, es sei der verstorbne Bater, der ihnen
beiden ante Gedanken eingebe. In seinem Benehmen war er schlicht und ein¬
fach. Wer wird nicht giftig und innerlich aufgebracht, lautet eine Bemerkung
auf Seite 81 des elften Bandes, „wenn er einen Hort, der sein Leben gar zu
pathetisch nimmt und von Golgatha und Gethsemane redet! Wir vertragen
das Pathetische nur in der Kunst; der lebende Mensch soll schlicht und nicht
zu laut sein." Durch und durch Aristokrat im besten Sinne des Wortes, litt
er an einem beinahe krankhaften Ekel vor allem schmutzigen. Er definirte.
wohl die Aristokratie als einen Stand derer, die sich waschen, und hielt es
für möglich, daß man am wohlbesetzten Tische verhungern könne, aus Ekel vor
den Mitesfenden. Nach Erfolg war er nicht gierig; er wünschte nur von


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[0194] Friedrich Nietzsche Durchaus positiv nennt Nietzsche sich selbst. Er will, daß jeder zur höhern Bildung Berufne methodisch „sehen, denken, tanzen" lerne. Er findet sich selbst körperlich und geistig kerngesund (seine Erkrankungen waren sämtlich durch äußere Schädigungen verursacht), war ein Freund aller Leibesübungen, frei von pessimistischen Stimmungen und von Menschenhaß, denn im Haß, meint er, sei Furcht, und er kenne keine Furcht. Den Schwarzgallichten, fordert er, sollte nicht erlaubt werden, Kinder zu zeugen. Keine Spur bei ihm von jener Zerfahrenheit, die sich unter dem Namen der Genialität verbirgt. Von der Genialität denkt er gar nicht hoch; man müsse nur ein fleißiger Hand¬ werker sein, behauptet er, so bringe man alles fertig, was die sogenannten Genies leisteten, auch z. B. gute Novellen. (Freilich kommen in seinen Büchern noch viele andre Auffassungen der Erscheinung vor, die als Genialität be¬ zeichnet zu werden Pflegt.) Er selbst hatte schon als Knabe mit gleichgesinnten Freunden Privatarbeitcu mit großem Ernst angefertigt, war in der Schule tüchtig gewesen, hatte als Student schwierige kritische Studien so gründlich und mit solchem Erfolg betrieben, daß der große Ritschl den erst vierund- zwanzigjährigen für eine Universitätsprofessur empfehlen konnte, und bewährte sich in Basel nicht allein als ein Hochschullehrer, der einen begeisterten und mit Verehrung erfüllten Jüngerkreis um sich Scharte, sondern auch als gewissen¬ hafter Lehrer im Pädagogium. Hier brauchte er niemals zu strafen; auch die Faulsten waren fleißig bei mir, konnte er berichten. Er weiß vortreffliche pädagogische Ratschläge zu erteilen (XI, 67), und die Behörden von Basel haben seine gesegnete Wirksamkeit dankbar anerkannt. Dazu kam ein liebreiches, dankbares, ehrfurchtsvolles Gemüt. Er war lange Jahre geneigt, alle Per¬ sonen, mit denen er zusammenkam, zu überschätzen, sich zu unterschätzen. Erst viele bittere Enttäuschungen waren erforderlich, ihm einen großen Ekel vor den Menschen beizubringen, und die Achtung vor ihm selbst ward ihm von seinen Verehrern beigebracht. Als Kind unterhielt er sich einmal mit seiner Schwester darüber, woher es wohl komme, daß sie vieles wüßten, was andre Kinder gleichen Alters noch nicht wüßten; die Schwester behauptete, sie verdanke das ihm, dem Bruder, er aber glaubte, es sei der verstorbne Bater, der ihnen beiden ante Gedanken eingebe. In seinem Benehmen war er schlicht und ein¬ fach. Wer wird nicht giftig und innerlich aufgebracht, lautet eine Bemerkung auf Seite 81 des elften Bandes, „wenn er einen Hort, der sein Leben gar zu pathetisch nimmt und von Golgatha und Gethsemane redet! Wir vertragen das Pathetische nur in der Kunst; der lebende Mensch soll schlicht und nicht zu laut sein." Durch und durch Aristokrat im besten Sinne des Wortes, litt er an einem beinahe krankhaften Ekel vor allem schmutzigen. Er definirte. wohl die Aristokratie als einen Stand derer, die sich waschen, und hielt es für möglich, daß man am wohlbesetzten Tische verhungern könne, aus Ekel vor den Mitesfenden. Nach Erfolg war er nicht gierig; er wünschte nur von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/194>, abgerufen am 28.12.2024.