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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

innigste, beständigste und herzlichste aller Freundschaften war die, die ihn
mit seiner Schwester verband. Über Ehe und Geschlechtsverkehr hat er
freilich so manches gesagt, was vielen anstößig klingen mag, allein das
sind keine Reden xro clomo; er für seine Person hätte keiner Änderung der
heutigen Gesetze und Sitten bedurft; er empfahl Änderungen nur, weil
er glaubte, daß sie im höhern Interesse der Menschheit notwendig seien.
Seine Vorschläge liegen, wie man sich denken kann, nicht nach der sozial-
demokratischen Seite hin, Weiberemanzipation ist ihm ein Greuel. Nietzsche
ist zeitlebens einer der Menschen gewesen, neben denen man sich schämt.
Er machte als Kind den Eindruck eines kleinen Pastors; ein älterer Mitschüler
äußerte einmal, der kleine Nietzsche komme ihm vor wie der zwölfjährige Jesus
im Tempel. Der Frau Förster hat ein Bekannter erzählt, er sei Primaner
gewesen, als Nietzsche in den untern Klassen saß, und habe öfters die kleinen
Schüler in den Arbeitsstunden beaufsichtigen müssen. "Oft sei ihm Fritz mit
den großen sinnenden Augen aufgefallen, und er hätte sich gewundert, welchen
Einfluß er auf seine Mitschüler ausgeübt habe. Sie hätten vor ihm kein
rohes Wort, keine unpassende Bemerkung auszusprechen gewagt. Einmal habe
sich ein Junge auf den Mund geklopft und ausgerufen: Nein, das kann man
vor Nietzsche nicht sagen! Was thut er euch denn? habe er gefragt. Ach, er
sieht einen so an, da bleibt einem das Wort im Munde stecken." (B. I, 79
bis 80.)

Von Zuchtlosigkeit ist er zeitlebens das verkörperte Gegenteil gewesen.
Er hat gern als Soldat gedient und liebte den Soldatenstand. Mein Aus¬
gangspunkt, schreibt er in einem Entwurf zu den Unzeitgemäßen Betrachtungen,
"ist der preußische Soldat: hier ist eine wirkliche Konvention, hier ist Zwang,
Ernst und Disziplin, auch in Betreff der Form. Sie ist aus dem Bedürfnis
entstanden. Sie geht aus von der Zucht des Körpers und von der peinlichst
geforderten Pflichttreue" (X, 258). Er tadelt die Deutschen, daß sie von der
Konvention los wollen und eine Bummiigleit anstreben, die sie Natürlichkeit
nennen. Er meint, eine Umgebung, in der man sich gehen lassen könne, sei
das letzte, was man suchen solle. Er selbst ließ sich niemals gehen, kleidete
sich stets sorgfältig und bediente sich keines Schlafrocks. Alles sich schwer
machen und hart gegen sich sein, war seine Losung. Er erklärt die Industrie
und alles Krämerhafte für gemein") und preist dafür den Soldatenstand als
einen vornehmen Stand. Er rühmt die Offiziere als die bescheidensten aller
Menschen, nur ihre Sprache sei abscheulich (V, 139). Er haßt die Liberalen,



"Wessen Seele eine Geldkatze und wessen Glück schmutzige Papiere waren, wie möchte
dessen Blut je rein werden? Bis ins zehnte Geschlecht noch wird es matt und faulicht
stießen, . . . Nun ist alles wohlgethan! Denn jetzt tragen die Krämer Säbel und Schnauz-
bärte, und selber das Regiment ist zu den Krummbeiniger kommen. Alles, was bezahlt
werden kann, ist wenig wert: diese Lehre speie ich den Krämern ins Gesicht," XII, LK7.
Friedrich Nietzsche

innigste, beständigste und herzlichste aller Freundschaften war die, die ihn
mit seiner Schwester verband. Über Ehe und Geschlechtsverkehr hat er
freilich so manches gesagt, was vielen anstößig klingen mag, allein das
sind keine Reden xro clomo; er für seine Person hätte keiner Änderung der
heutigen Gesetze und Sitten bedurft; er empfahl Änderungen nur, weil
er glaubte, daß sie im höhern Interesse der Menschheit notwendig seien.
Seine Vorschläge liegen, wie man sich denken kann, nicht nach der sozial-
demokratischen Seite hin, Weiberemanzipation ist ihm ein Greuel. Nietzsche
ist zeitlebens einer der Menschen gewesen, neben denen man sich schämt.
Er machte als Kind den Eindruck eines kleinen Pastors; ein älterer Mitschüler
äußerte einmal, der kleine Nietzsche komme ihm vor wie der zwölfjährige Jesus
im Tempel. Der Frau Förster hat ein Bekannter erzählt, er sei Primaner
gewesen, als Nietzsche in den untern Klassen saß, und habe öfters die kleinen
Schüler in den Arbeitsstunden beaufsichtigen müssen. „Oft sei ihm Fritz mit
den großen sinnenden Augen aufgefallen, und er hätte sich gewundert, welchen
Einfluß er auf seine Mitschüler ausgeübt habe. Sie hätten vor ihm kein
rohes Wort, keine unpassende Bemerkung auszusprechen gewagt. Einmal habe
sich ein Junge auf den Mund geklopft und ausgerufen: Nein, das kann man
vor Nietzsche nicht sagen! Was thut er euch denn? habe er gefragt. Ach, er
sieht einen so an, da bleibt einem das Wort im Munde stecken." (B. I, 79
bis 80.)

Von Zuchtlosigkeit ist er zeitlebens das verkörperte Gegenteil gewesen.
Er hat gern als Soldat gedient und liebte den Soldatenstand. Mein Aus¬
gangspunkt, schreibt er in einem Entwurf zu den Unzeitgemäßen Betrachtungen,
„ist der preußische Soldat: hier ist eine wirkliche Konvention, hier ist Zwang,
Ernst und Disziplin, auch in Betreff der Form. Sie ist aus dem Bedürfnis
entstanden. Sie geht aus von der Zucht des Körpers und von der peinlichst
geforderten Pflichttreue" (X, 258). Er tadelt die Deutschen, daß sie von der
Konvention los wollen und eine Bummiigleit anstreben, die sie Natürlichkeit
nennen. Er meint, eine Umgebung, in der man sich gehen lassen könne, sei
das letzte, was man suchen solle. Er selbst ließ sich niemals gehen, kleidete
sich stets sorgfältig und bediente sich keines Schlafrocks. Alles sich schwer
machen und hart gegen sich sein, war seine Losung. Er erklärt die Industrie
und alles Krämerhafte für gemein") und preist dafür den Soldatenstand als
einen vornehmen Stand. Er rühmt die Offiziere als die bescheidensten aller
Menschen, nur ihre Sprache sei abscheulich (V, 139). Er haßt die Liberalen,



„Wessen Seele eine Geldkatze und wessen Glück schmutzige Papiere waren, wie möchte
dessen Blut je rein werden? Bis ins zehnte Geschlecht noch wird es matt und faulicht
stießen, . . . Nun ist alles wohlgethan! Denn jetzt tragen die Krämer Säbel und Schnauz-
bärte, und selber das Regiment ist zu den Krummbeiniger kommen. Alles, was bezahlt
werden kann, ist wenig wert: diese Lehre speie ich den Krämern ins Gesicht," XII, LK7.
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[0190] Friedrich Nietzsche innigste, beständigste und herzlichste aller Freundschaften war die, die ihn mit seiner Schwester verband. Über Ehe und Geschlechtsverkehr hat er freilich so manches gesagt, was vielen anstößig klingen mag, allein das sind keine Reden xro clomo; er für seine Person hätte keiner Änderung der heutigen Gesetze und Sitten bedurft; er empfahl Änderungen nur, weil er glaubte, daß sie im höhern Interesse der Menschheit notwendig seien. Seine Vorschläge liegen, wie man sich denken kann, nicht nach der sozial- demokratischen Seite hin, Weiberemanzipation ist ihm ein Greuel. Nietzsche ist zeitlebens einer der Menschen gewesen, neben denen man sich schämt. Er machte als Kind den Eindruck eines kleinen Pastors; ein älterer Mitschüler äußerte einmal, der kleine Nietzsche komme ihm vor wie der zwölfjährige Jesus im Tempel. Der Frau Förster hat ein Bekannter erzählt, er sei Primaner gewesen, als Nietzsche in den untern Klassen saß, und habe öfters die kleinen Schüler in den Arbeitsstunden beaufsichtigen müssen. „Oft sei ihm Fritz mit den großen sinnenden Augen aufgefallen, und er hätte sich gewundert, welchen Einfluß er auf seine Mitschüler ausgeübt habe. Sie hätten vor ihm kein rohes Wort, keine unpassende Bemerkung auszusprechen gewagt. Einmal habe sich ein Junge auf den Mund geklopft und ausgerufen: Nein, das kann man vor Nietzsche nicht sagen! Was thut er euch denn? habe er gefragt. Ach, er sieht einen so an, da bleibt einem das Wort im Munde stecken." (B. I, 79 bis 80.) Von Zuchtlosigkeit ist er zeitlebens das verkörperte Gegenteil gewesen. Er hat gern als Soldat gedient und liebte den Soldatenstand. Mein Aus¬ gangspunkt, schreibt er in einem Entwurf zu den Unzeitgemäßen Betrachtungen, „ist der preußische Soldat: hier ist eine wirkliche Konvention, hier ist Zwang, Ernst und Disziplin, auch in Betreff der Form. Sie ist aus dem Bedürfnis entstanden. Sie geht aus von der Zucht des Körpers und von der peinlichst geforderten Pflichttreue" (X, 258). Er tadelt die Deutschen, daß sie von der Konvention los wollen und eine Bummiigleit anstreben, die sie Natürlichkeit nennen. Er meint, eine Umgebung, in der man sich gehen lassen könne, sei das letzte, was man suchen solle. Er selbst ließ sich niemals gehen, kleidete sich stets sorgfältig und bediente sich keines Schlafrocks. Alles sich schwer machen und hart gegen sich sein, war seine Losung. Er erklärt die Industrie und alles Krämerhafte für gemein") und preist dafür den Soldatenstand als einen vornehmen Stand. Er rühmt die Offiziere als die bescheidensten aller Menschen, nur ihre Sprache sei abscheulich (V, 139). Er haßt die Liberalen, „Wessen Seele eine Geldkatze und wessen Glück schmutzige Papiere waren, wie möchte dessen Blut je rein werden? Bis ins zehnte Geschlecht noch wird es matt und faulicht stießen, . . . Nun ist alles wohlgethan! Denn jetzt tragen die Krämer Säbel und Schnauz- bärte, und selber das Regiment ist zu den Krummbeiniger kommen. Alles, was bezahlt werden kann, ist wenig wert: diese Lehre speie ich den Krämern ins Gesicht," XII, LK7.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/190>, abgerufen am 23.07.2024.