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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Altösterreichische Versündigungen am Deutschtum

Chiavenna (Kleven) italienisch angehaucht, da die Verkehrssprache nur uoch
wenige deutsche Heimstätten zeigt. Aber die Bevölkerung diesseits und jenseits
des Splügenpasses erkennt man auch bei oberflächlicher Prüfung als gleichen
Stammes; und das Thal des Hinterrheins wird wohl niemand für welsch halten,
obwohl es am Fuße der Splügenftraße liegt. Gleichfalls zur Provinz Sondrio
gehört die dritte Einbruchsstelle im obern Addathale, dem Veltlin, obschon hier
das ganze Flußgebiet, das die gedachte Provinz umfaßt, einst deutsch gewesen ist.
Aber das Land um Worms (Bormio) herum ist noch heute trotz italienischer
Kirche und Schule deutsch, während weiter thalwärts die Verwelschung leider
bester gelungen ist. Die ganze Provinz Sondrio ist eine alte mailändische
Eroberung auf altem deutschen Reichsgebiet, das freilich nach der Bildung der
Eidgenossenschaft herrenlos und verlassen dalag, ohne daß Kaiser und Reich
sich um diese Alpenbauern weiter kümmerten. Aus reichsunmittelbaren Land
wurde es kaiserliches Lehn uuter dem Mailändischen Herzogshut. Ob dabei
das angestammte Volkstum Schaden litt, war der Wiener Hofburg gleichgiltig.
Als sie diesen Landstrich Anfang des vorigen Jahrhunderts in eigne Ver¬
waltung übernahm, änderte sich in der nationalen Behandlung auch nicht das
geringste. An die Erhaltung des Deutschtums dachte der österreichische Vize¬
könig der Lombardei so wenig, wie früher sein spanischer Vorgänger. Im
habsburgischen Länderhandel galt das Volkstum wenig, gar nichts aber die
eigne Herkunft des Kaiserhauses aus der deutschen Ostmark, die einst auch
gegen Süden das Deutschtum hüten sollte. Kleven und Worms erhielten sich
aber trotz alledem deutsch bis in unser Jahrhundert.

Weiter ostwärts haben wir an vierter Stelle zwei verschiedenartige Be¬
standteile altdeutschen Volksbodens zu unterscheiden. Wir treffen sowohl an
der östlichen Tiroler Grenze wie südlich davon zunächst ein geschlossenes
Gebiet ursprünglicher gotischer Besiedlung, das sich selbst reiner erhalten hat
als die spätern deutschen Nachschübe bis zum Po, der Sprache nach mut¬
maßlich ostgotische Reste, wie ja auch Theodorich noch als Dietrich von Bern in
der Sage fortlebt, und Bern ist das italienische Verona, in dessen Nähe sich
auch die altgermanischen Niederlassungen befinden. Geschichtlich hat Venedig
erst verhältnismäßig spät das kaiserliche Verona zur Untertänigkeit gezwungen.
Das Stadt- und Lcmdgcbiet stand unter langobardischen Herren, aber später
treffen wir auch bayrische Edelinge in der Gegend als unabhängige Dynasten.
Nach sichern statistischen Berichten vom Jahre 1831 bestanden die sogenannten
sieben Gemeinden (86des (zomrauni) aus einer in einzelne Höfen und kleinen
Weilern zerstreuten deutschen Bevölkerung von 40000 Seelen und die so¬
genannten dreizehn Gemeinden (trsäiei ooirirnuni) aus mehr als 50000.
Da die Nachrichten italienischen Quellen entstammen, so darf um die genannte
Zeit die Volkszahl mindestens auf 100000 Einwohner veranschlagt werden. In
beiden Grenzstrichen wurde neben der Landwirtschaft starker Weinbau und das


Altösterreichische Versündigungen am Deutschtum

Chiavenna (Kleven) italienisch angehaucht, da die Verkehrssprache nur uoch
wenige deutsche Heimstätten zeigt. Aber die Bevölkerung diesseits und jenseits
des Splügenpasses erkennt man auch bei oberflächlicher Prüfung als gleichen
Stammes; und das Thal des Hinterrheins wird wohl niemand für welsch halten,
obwohl es am Fuße der Splügenftraße liegt. Gleichfalls zur Provinz Sondrio
gehört die dritte Einbruchsstelle im obern Addathale, dem Veltlin, obschon hier
das ganze Flußgebiet, das die gedachte Provinz umfaßt, einst deutsch gewesen ist.
Aber das Land um Worms (Bormio) herum ist noch heute trotz italienischer
Kirche und Schule deutsch, während weiter thalwärts die Verwelschung leider
bester gelungen ist. Die ganze Provinz Sondrio ist eine alte mailändische
Eroberung auf altem deutschen Reichsgebiet, das freilich nach der Bildung der
Eidgenossenschaft herrenlos und verlassen dalag, ohne daß Kaiser und Reich
sich um diese Alpenbauern weiter kümmerten. Aus reichsunmittelbaren Land
wurde es kaiserliches Lehn uuter dem Mailändischen Herzogshut. Ob dabei
das angestammte Volkstum Schaden litt, war der Wiener Hofburg gleichgiltig.
Als sie diesen Landstrich Anfang des vorigen Jahrhunderts in eigne Ver¬
waltung übernahm, änderte sich in der nationalen Behandlung auch nicht das
geringste. An die Erhaltung des Deutschtums dachte der österreichische Vize¬
könig der Lombardei so wenig, wie früher sein spanischer Vorgänger. Im
habsburgischen Länderhandel galt das Volkstum wenig, gar nichts aber die
eigne Herkunft des Kaiserhauses aus der deutschen Ostmark, die einst auch
gegen Süden das Deutschtum hüten sollte. Kleven und Worms erhielten sich
aber trotz alledem deutsch bis in unser Jahrhundert.

Weiter ostwärts haben wir an vierter Stelle zwei verschiedenartige Be¬
standteile altdeutschen Volksbodens zu unterscheiden. Wir treffen sowohl an
der östlichen Tiroler Grenze wie südlich davon zunächst ein geschlossenes
Gebiet ursprünglicher gotischer Besiedlung, das sich selbst reiner erhalten hat
als die spätern deutschen Nachschübe bis zum Po, der Sprache nach mut¬
maßlich ostgotische Reste, wie ja auch Theodorich noch als Dietrich von Bern in
der Sage fortlebt, und Bern ist das italienische Verona, in dessen Nähe sich
auch die altgermanischen Niederlassungen befinden. Geschichtlich hat Venedig
erst verhältnismäßig spät das kaiserliche Verona zur Untertänigkeit gezwungen.
Das Stadt- und Lcmdgcbiet stand unter langobardischen Herren, aber später
treffen wir auch bayrische Edelinge in der Gegend als unabhängige Dynasten.
Nach sichern statistischen Berichten vom Jahre 1831 bestanden die sogenannten
sieben Gemeinden (86des (zomrauni) aus einer in einzelne Höfen und kleinen
Weilern zerstreuten deutschen Bevölkerung von 40000 Seelen und die so¬
genannten dreizehn Gemeinden (trsäiei ooirirnuni) aus mehr als 50000.
Da die Nachrichten italienischen Quellen entstammen, so darf um die genannte
Zeit die Volkszahl mindestens auf 100000 Einwohner veranschlagt werden. In
beiden Grenzstrichen wurde neben der Landwirtschaft starker Weinbau und das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/19>, abgerufen am 23.07.2024.