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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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gefühl, das in Frankreich und Italien schon längst mächtig war. Österreich
hatte aber nicht nur die alte Lombardei geerbt, sondern auch noch Landstriche,
die früher zum Herzogtum Schwaben gehört hatten und sodann beim Zerfall
der Stammesherzvgtümer von oberitalienischen Dynasten als herrenlose Beute
betrachtet worden waren. Schließlich hatte Mailand diese deutschen Alpen¬
thäler an sich gebracht. Nur der spätere Kanton Tessin blieb in deutscher
Hand, da die Eidgenossen als schwäbische Stammesgenossen das Tessinthal bis
zum Lcmgensee (I^g'o Ug.Mors) als Unterthanenlande besetzten. Noch zu
Beginn dieses Jahrhunderts kannte man bloß die drei Negierungsstädte Bellenz,
Lavis und Luggerns, während es jetzt amtlich nur Bellinzona, Lugano und
Locarno giebt, und auch die deutsche Sprache nicht mehr den Verkehr und
Umgang beherrscht.

Wie einst Mailand die habgierige Hand nach deutschen Alpenthülern ausge¬
streckt hatte, so war Piemont diesem Beispiel gefolgt. Da die Herzogtümer Mai¬
land und Savohen selbst Reichslehen waren, so erschienen diese deutschen Landes¬
teile dem Reiche durch den Besitzwechsel nicht entfremdet. Aber schon das
kaiserliche ErzHaus erkannte die Neichszugehörigkeit seiner italienischen Erdtaube
nicht mehr an, und der zwischen Frankreich und Deutschland territorial ein¬
gekeilte Herzog von Savohen entzog sich im Laufe des vorigen Jahrhunderts
thatsächlich dem unförmlichen Staatskörper des deutschen Reichs, wenn er auch
noch den Reichstag beschickte, was schließlich Frankreich und Schweden als deutsche
Lehnsträger ebenfalls thaten, um desto sichrer das Reichsgefüge zu lockern.

Werfen wir einen Blick auf die Karte, so sehen wir, daß das Königreich
Italien an vier Seiten tief in das sonst deutsche Alpengebiet einschneidet; da¬
durch schon tritt der Einbruch des Welschtums in deutsches Land deutlich
hervor; mit der Thatsache müssen wir uns abfinden, daß die einstige Pogrenze
dem Deutschtum unwiederbringlich verloren ist. Die Ausläufer der Alpen-
thüler auf der Mittagsseite des Gebirgsgrates, der nur scheinbar Deutschland
und Italien trennt, sind noch heute deutsch, mag auch im Tessin und in Süd¬
tirol die Verwelschung stetig fortschreiten. Im Westen erklingt noch vereinzelt
deutscher Laut in Duden, dem heutige" Dono d'Ossola, die Weiler südlich
der Tosafülle send noch rein deutsch. Die deutsche Tosa hat sich freilich schon
in den italienischen Tone verwandeln müssen; aber ihr Flußgebiet ist vom
Simpelnpaß bis Duden deutsch, wenn man auch in Deutschland sogar diese
Bergstraße in ein französisches Sprachgewand gehüllt hat (Simplon), das an
Ort und Stelle glücklicherweise noch nicht den guten deutschen Namen des
Dorfes simpeln verdrängt hat. Es zeigt aber die drohende Verwelschung
der Schweizerseite.

Auf der Ostseite des Tessin breitet sich das Thalgebiet von Kleven aus,
das sich bis an den Comersee erstreckt, in dessen Höhe auch noch der Berg
Splügen (Monte Sxlugo) liegt. Der deutsche Reisende freilich fühlt sich in


gefühl, das in Frankreich und Italien schon längst mächtig war. Österreich
hatte aber nicht nur die alte Lombardei geerbt, sondern auch noch Landstriche,
die früher zum Herzogtum Schwaben gehört hatten und sodann beim Zerfall
der Stammesherzvgtümer von oberitalienischen Dynasten als herrenlose Beute
betrachtet worden waren. Schließlich hatte Mailand diese deutschen Alpen¬
thäler an sich gebracht. Nur der spätere Kanton Tessin blieb in deutscher
Hand, da die Eidgenossen als schwäbische Stammesgenossen das Tessinthal bis
zum Lcmgensee (I^g'o Ug.Mors) als Unterthanenlande besetzten. Noch zu
Beginn dieses Jahrhunderts kannte man bloß die drei Negierungsstädte Bellenz,
Lavis und Luggerns, während es jetzt amtlich nur Bellinzona, Lugano und
Locarno giebt, und auch die deutsche Sprache nicht mehr den Verkehr und
Umgang beherrscht.

Wie einst Mailand die habgierige Hand nach deutschen Alpenthülern ausge¬
streckt hatte, so war Piemont diesem Beispiel gefolgt. Da die Herzogtümer Mai¬
land und Savohen selbst Reichslehen waren, so erschienen diese deutschen Landes¬
teile dem Reiche durch den Besitzwechsel nicht entfremdet. Aber schon das
kaiserliche ErzHaus erkannte die Neichszugehörigkeit seiner italienischen Erdtaube
nicht mehr an, und der zwischen Frankreich und Deutschland territorial ein¬
gekeilte Herzog von Savohen entzog sich im Laufe des vorigen Jahrhunderts
thatsächlich dem unförmlichen Staatskörper des deutschen Reichs, wenn er auch
noch den Reichstag beschickte, was schließlich Frankreich und Schweden als deutsche
Lehnsträger ebenfalls thaten, um desto sichrer das Reichsgefüge zu lockern.

Werfen wir einen Blick auf die Karte, so sehen wir, daß das Königreich
Italien an vier Seiten tief in das sonst deutsche Alpengebiet einschneidet; da¬
durch schon tritt der Einbruch des Welschtums in deutsches Land deutlich
hervor; mit der Thatsache müssen wir uns abfinden, daß die einstige Pogrenze
dem Deutschtum unwiederbringlich verloren ist. Die Ausläufer der Alpen-
thüler auf der Mittagsseite des Gebirgsgrates, der nur scheinbar Deutschland
und Italien trennt, sind noch heute deutsch, mag auch im Tessin und in Süd¬
tirol die Verwelschung stetig fortschreiten. Im Westen erklingt noch vereinzelt
deutscher Laut in Duden, dem heutige« Dono d'Ossola, die Weiler südlich
der Tosafülle send noch rein deutsch. Die deutsche Tosa hat sich freilich schon
in den italienischen Tone verwandeln müssen; aber ihr Flußgebiet ist vom
Simpelnpaß bis Duden deutsch, wenn man auch in Deutschland sogar diese
Bergstraße in ein französisches Sprachgewand gehüllt hat (Simplon), das an
Ort und Stelle glücklicherweise noch nicht den guten deutschen Namen des
Dorfes simpeln verdrängt hat. Es zeigt aber die drohende Verwelschung
der Schweizerseite.

Auf der Ostseite des Tessin breitet sich das Thalgebiet von Kleven aus,
das sich bis an den Comersee erstreckt, in dessen Höhe auch noch der Berg
Splügen (Monte Sxlugo) liegt. Der deutsche Reisende freilich fühlt sich in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/18>, abgerufen am 23.07.2024.