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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Schäden der preußischen Verwaltung

großen Streik der Bergarbeiter in Westfalen und in andern Fällen, wo un¬
gewöhnliche Ereignisse eingetreten waren, und es wäre dringend erwünscht, daß
endlich einmal genau geprüft würde, worauf diese Schwäche unsrer Verwaltung
beruhe.

Im Jahre 1894 erschien das Buch "Reform oder Revolution" des Ge¬
heimrath von Massow, und in einem Aufsatze der Grenzboten wurde damals
gesagt, daß die Gesellschaft von allen guten Geistern verlassen sein müßte,
wenn sie an diesem Buche stumpfsinnig vorüberginge. Wir wissen nicht, ob
das Buch in weitern Kreisen Eindruck gemacht hat, aber sicher ist, daß die
preußische Verwaltung von dem, was Massow gesagt hat, völlig unberührt ge¬
blieben ist, obgleich das Buch doch in erster Linie für Verwaltungsbeamte be¬
stimmt war und ein ganzes Kapitel der Reform der Staatsverwaltung ge¬
widmet ist. Wir empfehlen jedem, der sich für öffentliche Angelegenheiten
interessirt, dieses Kapitel nachzulesen; das Bild, das darin von der preußischen
Verwaltung entworfen wird, ist zwar wenig erfreulich, aber es ist richtig, und
man muß es kennen, um zu wissen, wie den vorhandnen Übelständen zu
steuern sei.

An der Spitze der Ressorts stehen die Minister, allmächtig und doch bei
dem großen Umfange der Geschäfte thatsächlich abhängig von den vortragenden
Räten, die in ihrer Laufbahn vielfach recht wenig Gelegenheit gehabt haben,
die Bedürfnisse der Bevölkerung kennen zu lernen, nur in seltnen Fällen vom
grünen Tische wieder ins praktische Leben zurückkehren und daher auch wenig
geeignet sind, der zukünftigen Entwicklung vorzuarbeiten. Bei den Regierungen
ebenso wie in den Ministerien arbeiten Spezialdezeruenten, die, da es meist
Assessoren sind, oft wechseln, den Bezirk nicht kennen und aus den Akten ver¬
fügen. In der untersten Instanz sitzen Landräte, die oft genug gar nicht in
ihren Kreis fahren und bisweilen den Geschäften überhaupt nicht gewachsen
sind. Dazu kommt ein überaus schleppender Geschäftsgang, der täglich Un¬
zufriedenheit erweckt und Beschwerden hervorruft, keine sürsorgende Arbeit,
sondern Erledigung der Geschäfte von einem Tag auf den andern, und En¬
queten, wenn es nötig ist, sich über eine Frage Klarheit zu verschaffen.

Wie kommt das nun? Sind unsre Beamten soviel unfähiger als früher?
Wir glauben, daß das nicht der Fall ist. Es giebt nur eine Antwort auf
die Frage: es fehlt die unmittelbare Aufsicht des Monarchen. Die preußischen
Könige sind deutsche Kaiser geworden, die Ansprüche, die an sie gestellt werden,
sind unendlich gewachsen, und ihre persönliche Fürsorge, ihr Interesse gehört
im wesentlichen der Armee, nicht mehr der Verwaltung. Massow erzählt, daß
König Friedrich Wilhelm IV. zuletzt der Sitzung einer Negierung präsidire
und Zivilbehörden revidirt, überhaupt sich um Einzelheiten der Verwaltung
gekümmert habe. Seit Einführung der Verfassung ist das nicht mehr ge¬
schehen, es scheint, als ob das Jahr 1848 dieses persönliche Verhältnis be-


Schäden der preußischen Verwaltung

großen Streik der Bergarbeiter in Westfalen und in andern Fällen, wo un¬
gewöhnliche Ereignisse eingetreten waren, und es wäre dringend erwünscht, daß
endlich einmal genau geprüft würde, worauf diese Schwäche unsrer Verwaltung
beruhe.

Im Jahre 1894 erschien das Buch „Reform oder Revolution" des Ge¬
heimrath von Massow, und in einem Aufsatze der Grenzboten wurde damals
gesagt, daß die Gesellschaft von allen guten Geistern verlassen sein müßte,
wenn sie an diesem Buche stumpfsinnig vorüberginge. Wir wissen nicht, ob
das Buch in weitern Kreisen Eindruck gemacht hat, aber sicher ist, daß die
preußische Verwaltung von dem, was Massow gesagt hat, völlig unberührt ge¬
blieben ist, obgleich das Buch doch in erster Linie für Verwaltungsbeamte be¬
stimmt war und ein ganzes Kapitel der Reform der Staatsverwaltung ge¬
widmet ist. Wir empfehlen jedem, der sich für öffentliche Angelegenheiten
interessirt, dieses Kapitel nachzulesen; das Bild, das darin von der preußischen
Verwaltung entworfen wird, ist zwar wenig erfreulich, aber es ist richtig, und
man muß es kennen, um zu wissen, wie den vorhandnen Übelständen zu
steuern sei.

An der Spitze der Ressorts stehen die Minister, allmächtig und doch bei
dem großen Umfange der Geschäfte thatsächlich abhängig von den vortragenden
Räten, die in ihrer Laufbahn vielfach recht wenig Gelegenheit gehabt haben,
die Bedürfnisse der Bevölkerung kennen zu lernen, nur in seltnen Fällen vom
grünen Tische wieder ins praktische Leben zurückkehren und daher auch wenig
geeignet sind, der zukünftigen Entwicklung vorzuarbeiten. Bei den Regierungen
ebenso wie in den Ministerien arbeiten Spezialdezeruenten, die, da es meist
Assessoren sind, oft wechseln, den Bezirk nicht kennen und aus den Akten ver¬
fügen. In der untersten Instanz sitzen Landräte, die oft genug gar nicht in
ihren Kreis fahren und bisweilen den Geschäften überhaupt nicht gewachsen
sind. Dazu kommt ein überaus schleppender Geschäftsgang, der täglich Un¬
zufriedenheit erweckt und Beschwerden hervorruft, keine sürsorgende Arbeit,
sondern Erledigung der Geschäfte von einem Tag auf den andern, und En¬
queten, wenn es nötig ist, sich über eine Frage Klarheit zu verschaffen.

Wie kommt das nun? Sind unsre Beamten soviel unfähiger als früher?
Wir glauben, daß das nicht der Fall ist. Es giebt nur eine Antwort auf
die Frage: es fehlt die unmittelbare Aufsicht des Monarchen. Die preußischen
Könige sind deutsche Kaiser geworden, die Ansprüche, die an sie gestellt werden,
sind unendlich gewachsen, und ihre persönliche Fürsorge, ihr Interesse gehört
im wesentlichen der Armee, nicht mehr der Verwaltung. Massow erzählt, daß
König Friedrich Wilhelm IV. zuletzt der Sitzung einer Negierung präsidire
und Zivilbehörden revidirt, überhaupt sich um Einzelheiten der Verwaltung
gekümmert habe. Seit Einführung der Verfassung ist das nicht mehr ge¬
schehen, es scheint, als ob das Jahr 1848 dieses persönliche Verhältnis be-


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[0173] Schäden der preußischen Verwaltung großen Streik der Bergarbeiter in Westfalen und in andern Fällen, wo un¬ gewöhnliche Ereignisse eingetreten waren, und es wäre dringend erwünscht, daß endlich einmal genau geprüft würde, worauf diese Schwäche unsrer Verwaltung beruhe. Im Jahre 1894 erschien das Buch „Reform oder Revolution" des Ge¬ heimrath von Massow, und in einem Aufsatze der Grenzboten wurde damals gesagt, daß die Gesellschaft von allen guten Geistern verlassen sein müßte, wenn sie an diesem Buche stumpfsinnig vorüberginge. Wir wissen nicht, ob das Buch in weitern Kreisen Eindruck gemacht hat, aber sicher ist, daß die preußische Verwaltung von dem, was Massow gesagt hat, völlig unberührt ge¬ blieben ist, obgleich das Buch doch in erster Linie für Verwaltungsbeamte be¬ stimmt war und ein ganzes Kapitel der Reform der Staatsverwaltung ge¬ widmet ist. Wir empfehlen jedem, der sich für öffentliche Angelegenheiten interessirt, dieses Kapitel nachzulesen; das Bild, das darin von der preußischen Verwaltung entworfen wird, ist zwar wenig erfreulich, aber es ist richtig, und man muß es kennen, um zu wissen, wie den vorhandnen Übelständen zu steuern sei. An der Spitze der Ressorts stehen die Minister, allmächtig und doch bei dem großen Umfange der Geschäfte thatsächlich abhängig von den vortragenden Räten, die in ihrer Laufbahn vielfach recht wenig Gelegenheit gehabt haben, die Bedürfnisse der Bevölkerung kennen zu lernen, nur in seltnen Fällen vom grünen Tische wieder ins praktische Leben zurückkehren und daher auch wenig geeignet sind, der zukünftigen Entwicklung vorzuarbeiten. Bei den Regierungen ebenso wie in den Ministerien arbeiten Spezialdezeruenten, die, da es meist Assessoren sind, oft wechseln, den Bezirk nicht kennen und aus den Akten ver¬ fügen. In der untersten Instanz sitzen Landräte, die oft genug gar nicht in ihren Kreis fahren und bisweilen den Geschäften überhaupt nicht gewachsen sind. Dazu kommt ein überaus schleppender Geschäftsgang, der täglich Un¬ zufriedenheit erweckt und Beschwerden hervorruft, keine sürsorgende Arbeit, sondern Erledigung der Geschäfte von einem Tag auf den andern, und En¬ queten, wenn es nötig ist, sich über eine Frage Klarheit zu verschaffen. Wie kommt das nun? Sind unsre Beamten soviel unfähiger als früher? Wir glauben, daß das nicht der Fall ist. Es giebt nur eine Antwort auf die Frage: es fehlt die unmittelbare Aufsicht des Monarchen. Die preußischen Könige sind deutsche Kaiser geworden, die Ansprüche, die an sie gestellt werden, sind unendlich gewachsen, und ihre persönliche Fürsorge, ihr Interesse gehört im wesentlichen der Armee, nicht mehr der Verwaltung. Massow erzählt, daß König Friedrich Wilhelm IV. zuletzt der Sitzung einer Negierung präsidire und Zivilbehörden revidirt, überhaupt sich um Einzelheiten der Verwaltung gekümmert habe. Seit Einführung der Verfassung ist das nicht mehr ge¬ schehen, es scheint, als ob das Jahr 1848 dieses persönliche Verhältnis be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/173>, abgerufen am 27.12.2024.