Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Alphonse Daudet

manche seiner kleinen Erzählungen und Stimmungsbilder wahre Muster einer
wirkungsvollen, geiht- und gemütbildenden Lektüre sind. Die französischen
Kritiker hätten also allen Grund gehabt, auch die internationale Bedeutung
Daudets hervorzuheben und seinen wohlthätigen Einfluß auf das litterarische
Leben andrer Kulturvölker als einen wesentlichen Ruhmestitel zu preisen.

Daudet hat als Schriftsteller glänzende Erfolge gehabt, aber als Mensch
hat er die Bitterkeiten des Lebens gründlich durchkosten müssen. Eine kümmer¬
liche Kindheit in Nimes und Lyon, völlige Verarmung der Eltern, unzuläng¬
liche Ernährung, gezwungner Verzicht auf den Abschluß seiner Schul¬
bildung, das waren seine Erinnerungen an das Elternhaus und an seine
Jugend. Und dann als schrecklichste Erinnerung sein trauriger Versuch, sich
als plein oder Jnternatsadjunkt in dem College des Städtchens Alers eine
Lebensstellung zu verschaffen, wo er, das schmächtige und unscheinbare Männchen,
von den übermütigen Jungen fast zu Tode geärgert wurde. Mit welcher
Sehnsucht sah er, der sich zu höhern Dingen, als Nüpelu Anstand und Sitte
beizubringen, berufen glaubte, nach dem Eldorado aller emporstrebenden Geister,
nach Paris! Wie beneidenswert erschien ihm das Los seines altern Bruders
Ernest, der als Journalist an einer Pariser Zeitung beschäftigt war und sich
eine -- nach der Meinung des armen Alphons -- großartige Stellung er¬
rungen hatte! Endlich schlug anch für den kleinen geplagten Schulmeister die
Erlvsuugsstunde. Ernest ließ ihn nach Paris kommen, und kaum spürte
Alphons die Pariser Luft, so löste sich auch der Bann von seiner jungen
Seele, und das unscheinbare Pflänzchen seiner Poesie, das so lange versteckt im
Schatten gestanden hatte, fing an zu treiben und zu blühen. Die Großstadt¬
luft brachte seine dichterischen Fähigkeiten zur Entfaltung. Er trat nicht mit
stürmischer Leidenschaft, mit genialen Entwürfen und titanischen Kraftproben
auf den Schauplatz; sein Erstlingswerk, das er als Achtzehnjähriger im Jahre
1858 unter dem Titel I^L ^inoai'anso" veröffentlichte, war eine Sammlung
anspruchsloser, aber in anmutigen und wohlklingenden Versen gcschriebner
Gedichte, von denen nur wenige, wie l?um<; bekannter geworden sind.

Dennoch sollten diese unscheinbaren Gedichte der Anfang einer glänzenden
litterarischen Laufbahn sein; sie erregten das Interesse der Kaiserin Eugenie,
und Daudet wurde Sekretär des Herzogs von Morny, der als Napoleons
Halbbruder ein Mann von großem Einfluß war. Bald gründete sich der junge
Schriftsteller einen eignen Herd, und an der Seite einer vortrefflichen Frau
fand er endlich das ersehnte Glück. Da kam der große Krieg mit allen seinen
entsetzlichen Folgen für Frankreich. Daudet griff selbst zu den Waffen und
lerute die Rat- und Hilflosigkeit des französischen Heeres aus eigner An¬
schauung gründlich kennen. 0n nous -lo-ut tant invnti, Wut. jous! Aber
sein schöpferischer Geist schien neue Kräfte bekommen zu haben. In ziemlich
rascher Folge erschienen seine großen Romane: Vronmnt, jvnuv or Ri8lkr -Mi^


Alphonse Daudet

manche seiner kleinen Erzählungen und Stimmungsbilder wahre Muster einer
wirkungsvollen, geiht- und gemütbildenden Lektüre sind. Die französischen
Kritiker hätten also allen Grund gehabt, auch die internationale Bedeutung
Daudets hervorzuheben und seinen wohlthätigen Einfluß auf das litterarische
Leben andrer Kulturvölker als einen wesentlichen Ruhmestitel zu preisen.

Daudet hat als Schriftsteller glänzende Erfolge gehabt, aber als Mensch
hat er die Bitterkeiten des Lebens gründlich durchkosten müssen. Eine kümmer¬
liche Kindheit in Nimes und Lyon, völlige Verarmung der Eltern, unzuläng¬
liche Ernährung, gezwungner Verzicht auf den Abschluß seiner Schul¬
bildung, das waren seine Erinnerungen an das Elternhaus und an seine
Jugend. Und dann als schrecklichste Erinnerung sein trauriger Versuch, sich
als plein oder Jnternatsadjunkt in dem College des Städtchens Alers eine
Lebensstellung zu verschaffen, wo er, das schmächtige und unscheinbare Männchen,
von den übermütigen Jungen fast zu Tode geärgert wurde. Mit welcher
Sehnsucht sah er, der sich zu höhern Dingen, als Nüpelu Anstand und Sitte
beizubringen, berufen glaubte, nach dem Eldorado aller emporstrebenden Geister,
nach Paris! Wie beneidenswert erschien ihm das Los seines altern Bruders
Ernest, der als Journalist an einer Pariser Zeitung beschäftigt war und sich
eine — nach der Meinung des armen Alphons — großartige Stellung er¬
rungen hatte! Endlich schlug anch für den kleinen geplagten Schulmeister die
Erlvsuugsstunde. Ernest ließ ihn nach Paris kommen, und kaum spürte
Alphons die Pariser Luft, so löste sich auch der Bann von seiner jungen
Seele, und das unscheinbare Pflänzchen seiner Poesie, das so lange versteckt im
Schatten gestanden hatte, fing an zu treiben und zu blühen. Die Großstadt¬
luft brachte seine dichterischen Fähigkeiten zur Entfaltung. Er trat nicht mit
stürmischer Leidenschaft, mit genialen Entwürfen und titanischen Kraftproben
auf den Schauplatz; sein Erstlingswerk, das er als Achtzehnjähriger im Jahre
1858 unter dem Titel I^L ^inoai'anso» veröffentlichte, war eine Sammlung
anspruchsloser, aber in anmutigen und wohlklingenden Versen gcschriebner
Gedichte, von denen nur wenige, wie l?um<; bekannter geworden sind.

Dennoch sollten diese unscheinbaren Gedichte der Anfang einer glänzenden
litterarischen Laufbahn sein; sie erregten das Interesse der Kaiserin Eugenie,
und Daudet wurde Sekretär des Herzogs von Morny, der als Napoleons
Halbbruder ein Mann von großem Einfluß war. Bald gründete sich der junge
Schriftsteller einen eignen Herd, und an der Seite einer vortrefflichen Frau
fand er endlich das ersehnte Glück. Da kam der große Krieg mit allen seinen
entsetzlichen Folgen für Frankreich. Daudet griff selbst zu den Waffen und
lerute die Rat- und Hilflosigkeit des französischen Heeres aus eigner An¬
schauung gründlich kennen. 0n nous -lo-ut tant invnti, Wut. jous! Aber
sein schöpferischer Geist schien neue Kräfte bekommen zu haben. In ziemlich
rascher Folge erschienen seine großen Romane: Vronmnt, jvnuv or Ri8lkr -Mi^


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0144" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227780"/>
          <fw type="header" place="top"> Alphonse Daudet</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_375" prev="#ID_374"> manche seiner kleinen Erzählungen und Stimmungsbilder wahre Muster einer<lb/>
wirkungsvollen, geiht- und gemütbildenden Lektüre sind. Die französischen<lb/>
Kritiker hätten also allen Grund gehabt, auch die internationale Bedeutung<lb/>
Daudets hervorzuheben und seinen wohlthätigen Einfluß auf das litterarische<lb/>
Leben andrer Kulturvölker als einen wesentlichen Ruhmestitel zu preisen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_376"> Daudet hat als Schriftsteller glänzende Erfolge gehabt, aber als Mensch<lb/>
hat er die Bitterkeiten des Lebens gründlich durchkosten müssen. Eine kümmer¬<lb/>
liche Kindheit in Nimes und Lyon, völlige Verarmung der Eltern, unzuläng¬<lb/>
liche Ernährung, gezwungner Verzicht auf den Abschluß seiner Schul¬<lb/>
bildung, das waren seine Erinnerungen an das Elternhaus und an seine<lb/>
Jugend. Und dann als schrecklichste Erinnerung sein trauriger Versuch, sich<lb/>
als plein oder Jnternatsadjunkt in dem College des Städtchens Alers eine<lb/>
Lebensstellung zu verschaffen, wo er, das schmächtige und unscheinbare Männchen,<lb/>
von den übermütigen Jungen fast zu Tode geärgert wurde. Mit welcher<lb/>
Sehnsucht sah er, der sich zu höhern Dingen, als Nüpelu Anstand und Sitte<lb/>
beizubringen, berufen glaubte, nach dem Eldorado aller emporstrebenden Geister,<lb/>
nach Paris! Wie beneidenswert erschien ihm das Los seines altern Bruders<lb/>
Ernest, der als Journalist an einer Pariser Zeitung beschäftigt war und sich<lb/>
eine &#x2014; nach der Meinung des armen Alphons &#x2014; großartige Stellung er¬<lb/>
rungen hatte! Endlich schlug anch für den kleinen geplagten Schulmeister die<lb/>
Erlvsuugsstunde. Ernest ließ ihn nach Paris kommen, und kaum spürte<lb/>
Alphons die Pariser Luft, so löste sich auch der Bann von seiner jungen<lb/>
Seele, und das unscheinbare Pflänzchen seiner Poesie, das so lange versteckt im<lb/>
Schatten gestanden hatte, fing an zu treiben und zu blühen. Die Großstadt¬<lb/>
luft brachte seine dichterischen Fähigkeiten zur Entfaltung. Er trat nicht mit<lb/>
stürmischer Leidenschaft, mit genialen Entwürfen und titanischen Kraftproben<lb/>
auf den Schauplatz; sein Erstlingswerk, das er als Achtzehnjähriger im Jahre<lb/>
1858 unter dem Titel I^L ^inoai'anso» veröffentlichte, war eine Sammlung<lb/>
anspruchsloser, aber in anmutigen und wohlklingenden Versen gcschriebner<lb/>
Gedichte, von denen nur wenige, wie   l?um&lt;; bekannter geworden sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_377" next="#ID_378"> Dennoch sollten diese unscheinbaren Gedichte der Anfang einer glänzenden<lb/>
litterarischen Laufbahn sein; sie erregten das Interesse der Kaiserin Eugenie,<lb/>
und Daudet wurde Sekretär des Herzogs von Morny, der als Napoleons<lb/>
Halbbruder ein Mann von großem Einfluß war. Bald gründete sich der junge<lb/>
Schriftsteller einen eignen Herd, und an der Seite einer vortrefflichen Frau<lb/>
fand er endlich das ersehnte Glück. Da kam der große Krieg mit allen seinen<lb/>
entsetzlichen Folgen für Frankreich. Daudet griff selbst zu den Waffen und<lb/>
lerute die Rat- und Hilflosigkeit des französischen Heeres aus eigner An¬<lb/>
schauung gründlich kennen. 0n nous -lo-ut tant invnti, Wut. jous! Aber<lb/>
sein schöpferischer Geist schien neue Kräfte bekommen zu haben. In ziemlich<lb/>
rascher Folge erschienen seine großen Romane: Vronmnt, jvnuv or Ri8lkr -Mi^</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0144] Alphonse Daudet manche seiner kleinen Erzählungen und Stimmungsbilder wahre Muster einer wirkungsvollen, geiht- und gemütbildenden Lektüre sind. Die französischen Kritiker hätten also allen Grund gehabt, auch die internationale Bedeutung Daudets hervorzuheben und seinen wohlthätigen Einfluß auf das litterarische Leben andrer Kulturvölker als einen wesentlichen Ruhmestitel zu preisen. Daudet hat als Schriftsteller glänzende Erfolge gehabt, aber als Mensch hat er die Bitterkeiten des Lebens gründlich durchkosten müssen. Eine kümmer¬ liche Kindheit in Nimes und Lyon, völlige Verarmung der Eltern, unzuläng¬ liche Ernährung, gezwungner Verzicht auf den Abschluß seiner Schul¬ bildung, das waren seine Erinnerungen an das Elternhaus und an seine Jugend. Und dann als schrecklichste Erinnerung sein trauriger Versuch, sich als plein oder Jnternatsadjunkt in dem College des Städtchens Alers eine Lebensstellung zu verschaffen, wo er, das schmächtige und unscheinbare Männchen, von den übermütigen Jungen fast zu Tode geärgert wurde. Mit welcher Sehnsucht sah er, der sich zu höhern Dingen, als Nüpelu Anstand und Sitte beizubringen, berufen glaubte, nach dem Eldorado aller emporstrebenden Geister, nach Paris! Wie beneidenswert erschien ihm das Los seines altern Bruders Ernest, der als Journalist an einer Pariser Zeitung beschäftigt war und sich eine — nach der Meinung des armen Alphons — großartige Stellung er¬ rungen hatte! Endlich schlug anch für den kleinen geplagten Schulmeister die Erlvsuugsstunde. Ernest ließ ihn nach Paris kommen, und kaum spürte Alphons die Pariser Luft, so löste sich auch der Bann von seiner jungen Seele, und das unscheinbare Pflänzchen seiner Poesie, das so lange versteckt im Schatten gestanden hatte, fing an zu treiben und zu blühen. Die Großstadt¬ luft brachte seine dichterischen Fähigkeiten zur Entfaltung. Er trat nicht mit stürmischer Leidenschaft, mit genialen Entwürfen und titanischen Kraftproben auf den Schauplatz; sein Erstlingswerk, das er als Achtzehnjähriger im Jahre 1858 unter dem Titel I^L ^inoai'anso» veröffentlichte, war eine Sammlung anspruchsloser, aber in anmutigen und wohlklingenden Versen gcschriebner Gedichte, von denen nur wenige, wie l?um<; bekannter geworden sind. Dennoch sollten diese unscheinbaren Gedichte der Anfang einer glänzenden litterarischen Laufbahn sein; sie erregten das Interesse der Kaiserin Eugenie, und Daudet wurde Sekretär des Herzogs von Morny, der als Napoleons Halbbruder ein Mann von großem Einfluß war. Bald gründete sich der junge Schriftsteller einen eignen Herd, und an der Seite einer vortrefflichen Frau fand er endlich das ersehnte Glück. Da kam der große Krieg mit allen seinen entsetzlichen Folgen für Frankreich. Daudet griff selbst zu den Waffen und lerute die Rat- und Hilflosigkeit des französischen Heeres aus eigner An¬ schauung gründlich kennen. 0n nous -lo-ut tant invnti, Wut. jous! Aber sein schöpferischer Geist schien neue Kräfte bekommen zu haben. In ziemlich rascher Folge erschienen seine großen Romane: Vronmnt, jvnuv or Ri8lkr -Mi^

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/144
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/144>, abgerufen am 23.07.2024.