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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Zu dem Kampfe gegen die Unsittlichkeit

Bürger eines Kulturstaats ersten Ranges nicht zu bitten, wir haben zu fordern,
daß die Regierung für die Abschaffung sittenloser Zustände Sorge trage.

Die Prostitution findet, wie wir gesehen haben, reichliche Nahrung in der
Zuchtlosigkeit, in der ein großer Teil unsrer Großstadtkindcr aufwächst. Die
Zahl der Personen, die trotz sorgfältiger Erziehung, durch Selbstverschulden,
der Prostitution anheimfallen, ist bedeutend geringer. Diese von ihrem schänd¬
lichen Handwerk beizeiten zu ehrlicher Arbeit zurückzuführen, dürfte nicht
schwer sein, auch giebt es Stifte, die sich dieser Gefallnen annehmen und sie
wieder auf den rechten Weg zurückführen. Schwieriger ist das Verfahren, den
direkt zur Unsittlichkeit Erzognen zu einem sittlichen Lebenswandel zu verhelfen.
Darum eben soll nicht erst gewartet werden, bis die schlimme Saat schlimme
Früchte gezeitigt hat; der Unsittlichkeit muß der Boden entzogen werden, auf
dem sie Wurzel schlagen kann. Man steuere also der Zuchtlosigkeit, in der
ein großer Prozentsatz unsrer großstädtischen Jugend aufwächst, man erwecke
durch vernünftige, planmäßige Erziehung in ihr das Gefühl von Anstand und
Sitte, den Abscheu vor dem Verwerflichen, und die Prostitution samt den aus
ihr folgenden unvermeidlichen Übeln wird bestündig abnehmen.

Wie aber und wo soll eine solche Erziehung bewirkt werden? Der
Staat soll in jeder größern Stadt eine oder mehrere Erziehungsanstalten er¬
richten, und zwar sür die Kinder der Leute, die nicht imstande sind, für eine
ordentliche Erziehung ihrer Kinder zu sorgen. Die Kinder sind in diesen
öffentlichen Anstalten auf Staatskosten zu erziehen. Es ist zu erwarten, daß
viele Eltern, denen es nicht mehr möglich ist, das tägliche Brot für ihre
Kinder zu schaffen oder gar für deren Erziehung zu forgen, mit Freuden die
Gelegenheit ergreifen werden, ihre Kinder einer staatlichen Anstalt zuzuführen.
Denn diese könnte den armen Kindern wenigstens eine sorglose Jugendzeit ge¬
währen und auch dafür Sorge tragen, daß die Kinder beim Verlassen der
Schule einen ihren Fähigkeiten angemessenen Beruf ergreifen. Ein Zwang,
seine Kinder diesen Anstalten zu übergeben, dürfte selbstverständlich nicht aus¬
geübt werden.

Aber insofern könnte ein Druck auf Widerstrebende ausgeübt werden, als
jegliche Kinderarbeit, wie Fabrikarbeit, Straßenhandel, Frühstück- und Zeitung¬
austragen, Kegelaufsetzen usw. gesetzlich verboten werden müßte, überhaupt
jedes Anhalten der Kinder zum Geldverdienen.

Solange der Staat oder die Gemeinde nicht die Sorge und die Kosten für
die Erziehung dieser Kinder übernimmt, darf freilich ein so strenges Verbot der
Kinderarbeit nicht erfolgen, denn gar oft wäre es den Ärmsten nicht möglich,
ihre Kinder auch nur satt zu bekommen, wenn diese nicht allein ihren Lebens¬
unterhalt erwürben. Wird aber von Staats wegen in der bezeichneten Weise
sür die Kinder solcher Leute gesorgt, so verliert die Kinderarbeit ihre Be¬
rechtigung. Mann und Frau haben nur noch für sich allein zu sorgen, und


Zu dem Kampfe gegen die Unsittlichkeit

Bürger eines Kulturstaats ersten Ranges nicht zu bitten, wir haben zu fordern,
daß die Regierung für die Abschaffung sittenloser Zustände Sorge trage.

Die Prostitution findet, wie wir gesehen haben, reichliche Nahrung in der
Zuchtlosigkeit, in der ein großer Teil unsrer Großstadtkindcr aufwächst. Die
Zahl der Personen, die trotz sorgfältiger Erziehung, durch Selbstverschulden,
der Prostitution anheimfallen, ist bedeutend geringer. Diese von ihrem schänd¬
lichen Handwerk beizeiten zu ehrlicher Arbeit zurückzuführen, dürfte nicht
schwer sein, auch giebt es Stifte, die sich dieser Gefallnen annehmen und sie
wieder auf den rechten Weg zurückführen. Schwieriger ist das Verfahren, den
direkt zur Unsittlichkeit Erzognen zu einem sittlichen Lebenswandel zu verhelfen.
Darum eben soll nicht erst gewartet werden, bis die schlimme Saat schlimme
Früchte gezeitigt hat; der Unsittlichkeit muß der Boden entzogen werden, auf
dem sie Wurzel schlagen kann. Man steuere also der Zuchtlosigkeit, in der
ein großer Prozentsatz unsrer großstädtischen Jugend aufwächst, man erwecke
durch vernünftige, planmäßige Erziehung in ihr das Gefühl von Anstand und
Sitte, den Abscheu vor dem Verwerflichen, und die Prostitution samt den aus
ihr folgenden unvermeidlichen Übeln wird bestündig abnehmen.

Wie aber und wo soll eine solche Erziehung bewirkt werden? Der
Staat soll in jeder größern Stadt eine oder mehrere Erziehungsanstalten er¬
richten, und zwar sür die Kinder der Leute, die nicht imstande sind, für eine
ordentliche Erziehung ihrer Kinder zu sorgen. Die Kinder sind in diesen
öffentlichen Anstalten auf Staatskosten zu erziehen. Es ist zu erwarten, daß
viele Eltern, denen es nicht mehr möglich ist, das tägliche Brot für ihre
Kinder zu schaffen oder gar für deren Erziehung zu forgen, mit Freuden die
Gelegenheit ergreifen werden, ihre Kinder einer staatlichen Anstalt zuzuführen.
Denn diese könnte den armen Kindern wenigstens eine sorglose Jugendzeit ge¬
währen und auch dafür Sorge tragen, daß die Kinder beim Verlassen der
Schule einen ihren Fähigkeiten angemessenen Beruf ergreifen. Ein Zwang,
seine Kinder diesen Anstalten zu übergeben, dürfte selbstverständlich nicht aus¬
geübt werden.

Aber insofern könnte ein Druck auf Widerstrebende ausgeübt werden, als
jegliche Kinderarbeit, wie Fabrikarbeit, Straßenhandel, Frühstück- und Zeitung¬
austragen, Kegelaufsetzen usw. gesetzlich verboten werden müßte, überhaupt
jedes Anhalten der Kinder zum Geldverdienen.

Solange der Staat oder die Gemeinde nicht die Sorge und die Kosten für
die Erziehung dieser Kinder übernimmt, darf freilich ein so strenges Verbot der
Kinderarbeit nicht erfolgen, denn gar oft wäre es den Ärmsten nicht möglich,
ihre Kinder auch nur satt zu bekommen, wenn diese nicht allein ihren Lebens¬
unterhalt erwürben. Wird aber von Staats wegen in der bezeichneten Weise
sür die Kinder solcher Leute gesorgt, so verliert die Kinderarbeit ihre Be¬
rechtigung. Mann und Frau haben nur noch für sich allein zu sorgen, und


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[0134] Zu dem Kampfe gegen die Unsittlichkeit Bürger eines Kulturstaats ersten Ranges nicht zu bitten, wir haben zu fordern, daß die Regierung für die Abschaffung sittenloser Zustände Sorge trage. Die Prostitution findet, wie wir gesehen haben, reichliche Nahrung in der Zuchtlosigkeit, in der ein großer Teil unsrer Großstadtkindcr aufwächst. Die Zahl der Personen, die trotz sorgfältiger Erziehung, durch Selbstverschulden, der Prostitution anheimfallen, ist bedeutend geringer. Diese von ihrem schänd¬ lichen Handwerk beizeiten zu ehrlicher Arbeit zurückzuführen, dürfte nicht schwer sein, auch giebt es Stifte, die sich dieser Gefallnen annehmen und sie wieder auf den rechten Weg zurückführen. Schwieriger ist das Verfahren, den direkt zur Unsittlichkeit Erzognen zu einem sittlichen Lebenswandel zu verhelfen. Darum eben soll nicht erst gewartet werden, bis die schlimme Saat schlimme Früchte gezeitigt hat; der Unsittlichkeit muß der Boden entzogen werden, auf dem sie Wurzel schlagen kann. Man steuere also der Zuchtlosigkeit, in der ein großer Prozentsatz unsrer großstädtischen Jugend aufwächst, man erwecke durch vernünftige, planmäßige Erziehung in ihr das Gefühl von Anstand und Sitte, den Abscheu vor dem Verwerflichen, und die Prostitution samt den aus ihr folgenden unvermeidlichen Übeln wird bestündig abnehmen. Wie aber und wo soll eine solche Erziehung bewirkt werden? Der Staat soll in jeder größern Stadt eine oder mehrere Erziehungsanstalten er¬ richten, und zwar sür die Kinder der Leute, die nicht imstande sind, für eine ordentliche Erziehung ihrer Kinder zu sorgen. Die Kinder sind in diesen öffentlichen Anstalten auf Staatskosten zu erziehen. Es ist zu erwarten, daß viele Eltern, denen es nicht mehr möglich ist, das tägliche Brot für ihre Kinder zu schaffen oder gar für deren Erziehung zu forgen, mit Freuden die Gelegenheit ergreifen werden, ihre Kinder einer staatlichen Anstalt zuzuführen. Denn diese könnte den armen Kindern wenigstens eine sorglose Jugendzeit ge¬ währen und auch dafür Sorge tragen, daß die Kinder beim Verlassen der Schule einen ihren Fähigkeiten angemessenen Beruf ergreifen. Ein Zwang, seine Kinder diesen Anstalten zu übergeben, dürfte selbstverständlich nicht aus¬ geübt werden. Aber insofern könnte ein Druck auf Widerstrebende ausgeübt werden, als jegliche Kinderarbeit, wie Fabrikarbeit, Straßenhandel, Frühstück- und Zeitung¬ austragen, Kegelaufsetzen usw. gesetzlich verboten werden müßte, überhaupt jedes Anhalten der Kinder zum Geldverdienen. Solange der Staat oder die Gemeinde nicht die Sorge und die Kosten für die Erziehung dieser Kinder übernimmt, darf freilich ein so strenges Verbot der Kinderarbeit nicht erfolgen, denn gar oft wäre es den Ärmsten nicht möglich, ihre Kinder auch nur satt zu bekommen, wenn diese nicht allein ihren Lebens¬ unterhalt erwürben. Wird aber von Staats wegen in der bezeichneten Weise sür die Kinder solcher Leute gesorgt, so verliert die Kinderarbeit ihre Be¬ rechtigung. Mann und Frau haben nur noch für sich allein zu sorgen, und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/134>, abgerufen am 23.07.2024.